Augsburger Allgemeine (Land West)

Jugendlich­e werden deutlich mehr Hilfe brauchen

Interview Probleme in Familien gab es im Landkreis Augsburg auch schon vor Corona. Jugendamts­chef Hannes Neumeier sagt, welche Krisen-Folgen er für Kinder und Jugendlich­e befürchtet

- VON ADRIAN BAUER

Landkreis Augsburg Hannes Neumeier ist Leiter des Jugendamts für den Landkreis Augsburg. Im Interview schildert er seine Befürchtun­gen zu den Auswirkung­en von Corona für Kinder und Jugendlich­e.

Herr Neumeier, in der Sozialraum­analyse des Landkreise­s für die Jahre 2017 bis 19 zeigt sich, dass in vielen ländlichen Gemeinden die Kennzahlen für familiäre Probleme ansteigen, zum Beispiel bei den Erziehungs­hilfen. Sind das statistisc­he Ausreißer oder festigen sich Trends?

Hannes Neumeier: Grundsätzl­ich kann man sagen, dass wir im Landkreis in den 20 Jahren, in denen es die Sozialraum­analyse gibt, sehr stabile Werte haben. Wir haben Systeme geschaffen, die es ermögliche­n, dass Familien sich schnell helfen lassen können. Gleichzeit­ig haben wir gute Zuführsyst­eme: Kitas, Schulen und Kinderärzt­e wissen, dass sie sich bei Problemen an uns wenden können. Man wird nie hundertpro­zentig jeden erreichen, der Hilfe nötig hat, doch ich denke, wir sind im Landkreis auch im bayerische­n Vergleich sehr gut aufgestell­t.

Wie schätzen Sie die steigenden Zahlen bei diversen Richtwerte­n in ländlichen Gemeinden ein? Ist die Welt auf dem Land nicht mehr so in Ordnung wie früher?

Neumeier: Steigende Zahlen bei Erziehungs­hilfen sind per se keine schlechte Nachricht, sondern sie zeigen, dass Menschen sich trauen, Hilfe zu suchen, statt Probleme nach dem Motto anzugehen: Warte, bis Papa nach Hause kommt. Die meisten Familien nehmen freiwillig Unterstütz­ung in Anspruch. Dabei hilft, dass wir als erster Landkreis in Bayern ein flächendec­kendes Netz an Familienst­ützpunkten in den Kommunen hatten, wo die Menschen niederschw­ellig Hilfe suchen können. Einige Gegenden sind allerdings seit einigen Jahren signifikan­t belasteter aufgrund einiger Phänomene.

Können Sie Beispiele nennen? Neumeier: Derzeit erleben wir steigende Zahlen in den Stauden und im nördlichen Landkreis. Es gibt keinen 1:1-Begründung­szusammen

für die Ursachen sozialer Probleme, aber verschiede­ne gemeinsame Faktoren, die mit hineinspie­len. Beispielsw­eise gibt es in beiden Regionen Arbeitgebe­r, die auch weniger gut ausgebilde­te Menschen beschäftig­en. Dazu kommt in ländlichen Gemeinden meist günstiger Wohnraum und eine steigende Anzahl von Menschen, die Leistungen nach dem SGB II beziehen. Das bedeutet nicht, dass jemand, der wenig Geld hat, seine Kinder nicht gut erziehen kann. Aber es erhöht die Wahrschein­lichkeit, dass er Hilfe braucht. Hinzu kommen weitere Faktoren: In den Stauden gibt es zum Beispiel erhöhte Scheidungs­raten. Bei Scheidungs­streitigke­iten der Eltern brauchen die Kinder circa zehnmal häufiger Unterstütz­ung wie bei gütlichen Trennungen.

Im Jugendhilf­e-Ausschuss des Kreistags haben Sie gesagt, dass Sie nach

Ende des Corona-Lockdowns mit einer steigenden Zahl von Kindern und Jugendlich­en rechnen, die Hilfe brauchen. Wie sieht es aktuell aus? Neumeier: Entgegen der öffentlich­en Wahrnehmun­g ist die Zahl der Inobhutnah­men wegen Kindeswohl­gefährdung derzeit niedriger als gewöhnlich. Allerdings befürchten wir, dass das eher daran liegt, dass die Kinder nicht in die Kita oder zur Schule können, wo Probleme bemerkt werden. Unsere Mitarbeite­r halten auch jetzt engen Kontakt zu den Familien, die wir bereits betreuen. Unsere Sorge gilt denen, die wir noch nicht kennen.

Welche Folgen befürchten Sie konkret? Neumeier: Durch die Schließung­en der Kitas, die unsere ersten Bildungsei­nrichtunge­n sind, lernen die Kinder unter anderem, gruppenfäh­ig zu werden. Wenn sie aufgrund der Verordnung­en von anderen Kinhang dern isoliert werden und nur mit Erwachsene­n zu tun haben, können sie sich nicht an anderen Kindern reiben, auch mal verlieren lernen und kindgerech­te Sprache entwickeln. Wir haben bereits jetzt Rückmeldun­gen über deutlich mehr Verhaltens­auffälligk­eiten bis hin zu Beißkinder­n. Bei Schülern hat die kürzlich vorgestell­te Ifo-Studie zahlreiche Auswirkung­en aufgezeigt: Lernlücken, mehr Übergewich­tige durch zu wenig Bewegung und Häufungen von Depression­en und Spielsucht­Erkrankung­en. Die Politik hat besonders im ersten Lockdown die Heranwachs­enden vergessen. Der Vergleich mit Altersgeno­ssen ist für alle Kinder und Jugendlich­en wichtig. Doch in der Pubertät findet die Entwicklun­g zum Erwachsene­n fast nur in Freiräumen ohne Eltern und Lehrer statt. Diese Zeit kommt ihnen nun abhanden. Einem 15-Jährigen kann man nicht sagen: Dann warte halt noch ein Jahr.

Wie kann man in der Jugendhilf­e helfen und sehen Sie sich dafür gerüstet? Neumeier: Zunächst einmal habe ich große Zuversicht in die Resilienz der Kinder. Aber klar ist: Gerade sensible Jugendlich­e und viele Familien werden deutlich mehr Unterstütz­ung brauchen. Kinder bekommen mit, wenn Eltern Angst um ihre Existenz haben, weil ihnen das Einkommen wegbricht. So etwas kann Traumata auslösen. Wie sich die Phänomene auswirken, wird man mit zeitlicher Verzögerun­g sehen, wenn die Kinder wieder Vertrauen gefasst und über ihre Probleme geredet haben. Wir sind mit unserer Infrastruk­tur aber gut vorbereite­t.

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Foto: Tobias Hase (Symbolbild) Mehr Internetnu­tzung und Bewegungsm­angel sind die Folgen der Corona‰Bestimmung­en für viele Jugendlich­e. Doch auch für die Entwicklun­g ist der Lockdown problemati­sch.
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