Augsburger Allgemeine (Land West)
Risiko am laufenden Band
Karolina Morina hat einen wesentlichen Teil des vergangenen Jahres hinter Plexiglas verbracht. Wie Zehntausende in Deutschland arbeitet sie in einem Supermarkt. Leute wie sie halten den ganzen Laden am Laufen. Wie geht es ihr und den Kollegen heute?
Langenneufnach Otto Normalverbraucher darf in diesen Tagen nur eine Kontaktperson treffen, die nicht zu seinem Haushalt gehört. Karolina Morina aber kann ihre Kontakte gar nicht alle zählen. „Nicht einmal eine Schätzung abgeben kann ich.“Es mögen dutzende am Tag sein, manchmal vielleicht über hundert, wenn sie hinter ihrer Plexiglasscheibe des Edeka-Staudenmarktes in Langenneufnach (Landkreis Augsburg) sitzt. „Wenn ich die Kasse mache, konzentriere ich mich auf die Kasse.“Nicht auf die Leute, sondern auf das Piepsen der Ware, die sie so schnell über den Barcode-Scanner zieht, dass der rosa-pinke Farbverlauf auf ihren Fingernägeln vor den Augen verwischt. „Gerade wenn viel los ist, ist man wie im Tunnel.“
Die 36-Jährige zählt nicht, wie viele Mitglieder ein Haushalt hat. Sie versorgt Haushalte. Sie ist eine von denen, deren Arbeit weniger auffällt, je besser sie gemacht wird. Wenn die Regale voll sind, vergisst der Kunde schnell, dass es auch jemanden braucht, der sie füllt.
In Deutschland gibt es rund 28000 Supermärkte und Discounter, mehrere hunderttausend Mitarbeiter. Seit Beginn der Corona-Krise gilt ihre Arbeit als „systemrelevant“– genauso wie die von Pflegekräften, der Müllabfuhr, Stromversorgern. Wie geht es Karolina Morina und ihren Kollegen nach 13 Monaten, in denen sie am Limit arbeiteten, während der Rest Deutschlands mal mehr und mal weniger geschlossen war? Nach so vielen Wochen mit Maske und hinter Plexiglas?
„Der Mundschutz fällt mir gar nicht mehr auf“, sagt die 36-Jährige mit dem kinnlangen Haar. Es gibt eine Modefirma, die in englischer Sprache auf ihre Masken druckt, dass der Besitzer ein Lächeln darunter trage: „I wear a smile under this mask.“Karolina Morina braucht das nicht. Sie kann mit den Augen lächeln. Ihre Stoffmaske ist vom schicken Label Van Laack, für das der Sohn von Armin Laschet modelt. Alle hier im Markt tragen die.
In den Edeka Langenneufnach kommen täglich ungefähr 950 Kunden. Jeden Tag der halbe Ort, könnte man umrechnen, aber natürlich stammen die, die hier ihre Kühlschränke und Bäuche füllen, auch aus den umliegenden Gemeinden. 60 Kunden dürfen sich gemeinsam im Markt aufhalten, eine elektronische Ampel am Eingang zeigt es an.
Aus den Lautsprechern tönt Chris Reas „Julia“, das Piepsgeräusch der Kassen zensiert in regelmäßigen Abständen seine Worte, als wäre der Text ziemlich frivol. Ein älterer Herr zahlt seinen Großeinkauf mit viel Kleingeld, die Schlange vor dem Kassenband wird immer länger. Karolina Morina bleibt entspannt sitzen. Beim nächsten verschwindet die EC-Karte zu tief im Lesegerät, die Kassierin hilft. Zum Abschied ein freundliches „Einen schönen Tag für Sie!“, etwas dumpf unter der Maske. Dass sie sich anstecken könnte, habe sie „gar nicht im Hinterkopf“, wird die Verkäuferin später sagen. „Es wäre nicht gut, wenn ich mit Angst in die Arbeit gehen würde.“Sie denkt da schicksalergeben: „Wenn ich das kriegen soll, dann krieg’ ich es.“
Obwohl jeder dritte Kontakt der Deutschen zuletzt im Supermarkt stattfand, wie das Berliner DatenUnternehmen Net Check anhand anonymer GPS-Auswertungen herausgefunden hat, liegt das Ansteckungsrisiko dort im Mittelfeld. Forscher des Hermann-RietschelInstituts für Energietechnik an der Technischen Universität Berlin haben die Viruslast beim Einkauf ausgerechnet. Wenn dort alle Masken tragen, sagt der dortige Belüftungsexperte Martin Kriegel, steckt eine infizierte Person durchschnittlich eine weitere an – ein höherer Wert als etwa beim Friseur, wo sich weniger Personen gleichzeitig aufhalten, aber nur halb so riskant wie ein Restaurantbesuch, wo die Maske zum Essen abgesetzt wird. Das gilt für die Kunden.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin analysierte im Herbst 2020, wie wahrscheinlich es für die rund 780000 Mitarbeiter des Lebensmittel- und Drogeriemarktes ist, sich zu infizieren. Sie hat Kundenzahlen ausgewertet und festgestellt, dass jeder Mitarbeiter eines durchschnittlich großen Supermarkts allein an der Kasse am Tag mit rund 58 Käufern in Kontakt gerät. Bei Discountern wie Netto oder Norma mit oft weniger Personal sind es sogar 131. Im riskanten Nahfeld, also in weniger als 1,5 Meter Nähe, treffen sich Kunde und Mitarbeiter im Schnitt zwei Minuten lang. Als höchst gefährdend gelten nach Angaben des Robert-Koch-Instituts aber erst Begegnungen von 15 Minuten und mehr.
Sobald sie über ihre Schichten redet, verfällt Karolina Morina in Supermarktmitarbeiterinnen-Fachsprache. Ihre Kolleginnen nennt sie „Damen“. Und sie macht ja nicht nur Kasse, auch „Etiketten stecken, Reste fahren“. Das Versehen der Waren mit neuen Preisschildern, das Auffüllen der Regale mit Produkten, die noch aus einer früheren Lieferung warten, ist Alltagsgeschäft. Ein paar der lustigen Bierfilze sind fast ausverkauft. Derzeit am meisten gefragt: die mit dem Spruch „Ein Bier vor Vier“. Daraus folgt der nächste: „G.M.B.H. Geh’ mal Bier holen“. Die Kunden denken offenbar konsequent.
Donnerstag ist am stressigsten, dann kommt die meiste Ware. Das Tor zum Lager – abgedeckt von einem Banner, auf dem Kühe bei niedrig stehender Sonne weiden, es könnte auch auf einem der Hügel hier rund um Langenneufnach sein. Ständig geht es hoch und runter.
Sascha Korljan, Morinas Chef, ist mit Koordinieren beschäftigt. Bei ihm läuft alles zusammen. Die Ware muss ins Regal, und zwar schnell. Die Laufwege seiner Mitarbeiter hat er angepasst, damit sie die schweren Paletten nicht so oft hin- und herschieben müssen, wenn das Atmen wegen des Stoffs vor der Nase schwerfällt. „Ich kann nicht erwarten, dass die Verräumleistung so ist wie ohne“, sagt der 38-Jährige später im Pausenraum vor einer Schale mit Tomaten und einer halb aufgegessenen Packung Schokoküsse.
Er hat den Staudenmarkt erst vor rund zwei Monaten eröffnet – für ihn ein „Traum“, auf den er sich vorher jahrelang als Filialleiter in einem anderen Edeka vorbereitet hat. „Gerade als die Verhandlungsgespräche für meinen eigenen Markt vorbei waren, kam der erste Lockdown.“Die Schutzausrüstung für seine zwei Dutzend Mitarbeiter hat er also von Anfang an eingeplant.
Vielleicht auch deshalb hat sich bisher keiner angesteckt – anders als zum Beispiel in Bayreuth, wo ein Rewe vor zwei Wochen komplett schloss und von vorn bis hinten desinfiziert wurde, weil 18 Mitarbeiter corona-positiv waren. 10000 Euro hat Korljan in Virenschutz investiert. Die Hälfte allein in die Plexiglasscheiben, dazu Masken, Tests, den Kundenzähler am Eingang. Trotzdem – und obwohl eine 60-Stunden-Woche zuletzt der Normalfall war – spricht Korljan von einem „guten Jahr“. „Vorher warst du halt der Supermarkt“, sagt der Vater eines zweijährigen Sohnes. „Jetzt lernen die Leute ganz anders einzukaufen. Sie schätzen regionale Produkte, wollen die Produzenten von hier unterstützen.“
Das passt zu Korljans Verständnis von einem fest verwurzelten Supermarkt. Er zieht seine Maske zurecht, unter dem rechten Ärmel seines Poloshirts sieht man als Tattoo eine Naturwiese, dann wird er nachdenklich. Ob die Kunden die Arbeit der Mitarbeiter zu schätzen wissen? „Im ersten Lockdown“, damals noch in seinem vorherigen Markt, „haben wir Präsente bekommen, Dankeskarten, mal eine Schachtel Pralinen“. In Zeiten der Hamsterkäufe hätten die Leute gesehen, was im Supermarkt geleistet werde, um die Regale jeden Tag zu füllen. „Jetzt ist das für viele wieder zur Selbstverständlichkeit geworden.“
Karolina Morina schiebt einen voll beladenen Einkaufswagen vor sich her. Alles Ware. Gerade hat sie das Regal mit dem Babybrei aufgefüllt. Der Korb mit den Schnelltests vor der Kasse ist auch schon wieder leer. Eine Testpflicht für die Supermarkt-Mitarbeiter gibt es nicht, der Negativ-Nachweis ist nur bei Symptomen oder einem konkreten Verdacht auf eine Infektion gefordert. Morina lächelt auch dann noch unter ihrer Maske, wenn sie über anstrengende Kunden spricht. Die sind ihr gerade zu Beginn der Pandemie nämlich öfter begegnet. Nicht in Langenneufnach, den Markt gab es ja noch nicht und die Leute beschreibt sie als größtenteils nett. Zuvor hatte sie für Tchibo Regale in verschiedenen Märkten eingeräumt.
„So ein Tag kann dann schon belastend sein“, sagt Morina, die im Nachbarort Fischach wohnt. „Die Leute sind anders geworden. Gerade die älteren sind angespannter, das merkt man den Menschen ja an. Aber ich lasse das nicht so an mich ran.“An die Regeln hielten sich so gut wie alle. „Viele der Kunden schätzen es schon, was wir machen“, sagt sie. „Andererseits, wenn sie so grantig kommen, denke ich mir halt schon: Sei froh, dass wir geöffnet haben.“Das Klatschen von den Balkonen, letztes Frühjahr, hat sie beinahe vergessen. So richtig mitgemeint fühlte sie sich ohnehin nicht.
Im März 2020 noch hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Arbeit der Supermarkt-Mitarbeiter „einen der schwersten Jobs, die es zurzeit gibt“, genannt. Die Kanzlerin, die beim Einkaufen laut einem Bericht der Bild-Zeitung mit Karte zahlt („u. a. Seife, Toilettenpapier und Schattenmorellen“), sagte im Fernsehen: „Lassen Sie mich auch hier Dank aussprechen an Menschen, denen zu selten gedankt wird.“Eine staatliche Prämie wie für die Pflegekräfte gab es für Verkäuferinnen und Verkäufer aber nicht.
Die Mitarbeiter mussten sich auf die Güte ihrer Arbeitgeber verlassen.
Das Ansteckungsrisiko ist niedriger als im Restaurant
Ein herausragendes Jahr für den Lebensmittelmarkt
Hatte der Lebensmitteleinzelhandel doch, so berichtet es das Nürnberger Meinungsforschungsinstitut GfK, 2020 „das beste Jahr seit Menschengedenken“erlebt. Die meisten großen Unternehmen belohnten ihre Mitarbeiter, allerdings nicht selten in Rabatt- oder Reisegutscheinen, ohne dass man reisen durfte, das gefiel nicht allen. Hier in Langenneufnach hat sich die Frage noch nicht gestellt, der Markt ist ja erst seit zwei Monaten geöffnet.
Karolina Morina hat zur CoronaPolitik ihre eigene Meinung. Kurz gesagt: Über die Zigarette gleich in ihrer Pause freut sie sich mehr. Später wird sie noch die Obst- und Gemüseabteilung prüfen, „Molkereiprodukte machen“– „schauen, dass der Laden ordentlich ist“, nennt die Verkäuferin das. Wenn die Kunden weg sind, kümmert sie sich um die Kassenabrechnung. „Und dann sperre ich zu.“22 Uhr dürfte es heute werden. Ihre Kontakte wird sie dann wahrscheinlich wieder nicht gezählt haben.