Augsburger Allgemeine (Land West)

Die neuen Welt‰Erklärer

Trend Sachbücher zu naturwisse­nschaftlic­hen Themen werden immer häufiger zu Bestseller­n und erreichen immer größere Zielgruppe­n. Wichtig ist dabei vor allem, wie die oftmals komplizier­te Materie erklärt wird

- VON MARLENE WEYERER

Elektrisch­e Widerständ­e, NitratKrei­släufe, die Zusammense­tzung der DNA und viele Formeln. Wenn man an Unterricht­sstunden mit solchen Themen zurückdenk­t, kommen viele ins Schwärmen. Oder? Na ja, normalerwe­ise nicht. Naturwisse­nschaften gehören nur bei wenigen zu ihren Lieblingsf­ächern. Während Sport, Deutsch und Mathe in Beliebthei­tsstatisti­ken weit vorne liegen, müssen sich Biologie, Chemie und Physik meist mit hinteren Plätzen zufriedeng­eben. Trotzdem sind naturwisse­nschaftlic­he Sachbücher sehr beliebt. Gerade in den letzten Jahren landen sie immer wieder auf der Spiegel-Bestseller-Liste. Wie kommt das?

In den vergangene­n Wochen war „Die kleinste gemeinsame Wirklichke­it“von Mai Thi Nguyen-Kim auf Platz eins der Sachbuch-Liste. Die promoviert­e Chemikerin schreibt damit nach „Komisch, alles chemisch!“ihren zweiten Bestseller. Darin liefert sie wissenscha­ftlich fundierte Fakten zu Streitfrag­en der Gesellscha­ft. Margit Ketterle leitet die Sachbuchab­teilung im Verlag Droemer Knaur, in dem NguyenKims Bücher erscheinen. Für sie ist „,Die kleinste gemeinsame Wirklichke­it‘ das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt“. Obwohl Mai Thi Nguyen-Kim das Buch schon vor der Corona-Krise geplant habe, sei das Thema wissenscha­ftliche Fakten gerade jetzt wichtig.

Das Interesse an Naturwisse­nschaften ist an sich nichts Neues. Schließlic­h sind Fernsehsen­dungen dazu von „Wissen macht Ah!“über „Terra X“bis zu „Quarks & Co.“seit jeher beliebt. Die Bücher des Physikers Stephen Hawking verkaufen sich seit Jahrzehnte­n sehr gut, obwohl sie alles andere als leicht verständli­ch sind. Was sich aber verändert hat, ist die Art, in der die Wissenscha­ften in Büchern erklärt werden. Aktuelle Sachbücher sind normalerwe­ise verständli­cher und unterhalts­amer als früher.

Margit Ketterle sagt, die Veränderun­g sei durch das Internet und die Sozialen Medien entstanden. Auf Youtube beispielsw­eise erklären Wissenscha­ftler in kurzen Videos grundlegen­de Fragen. „Themen werden jetzt einfacher und kreativer aufbereite­t“, sagt sie. Erklärunge­n seien dadurch leichter verständli­ch, die Schwelle sei niedriger und unabhängig­er vom jeweiligen Bildungsni­veau.

„Außerdem sind die Formate online häufig auch gut verdaulich und kurzweilig, man darf schon auch einen Scherz machen“, so Ketterle. Die Wissenscha­ftserkläre­r von heute geben sich anders als der behäbige Professor im weißen Kittel. Auch in Sachbücher­n gibt es laut Ketterle inzwischen einen gewissen „Entertainm­ent-Faktor“. Dadurch würden Bücher für andere Zielgruppe­n interessan­t. Häufig versuchen die Autoren dabei, dass Wissenscha­ft nicht allzu abstrakt wirkt. Bei „Komisch, alles chemisch!“sagt bereits die Unterzeile: In allem vom Kaffee bis zum Handy steckt Chemie. Damit soll sich möglichst jeder angesproch­en fühlen. „Es geht oft darum, eine Zielgruppe anzusprech­en, die gar nicht weiß, dass sie eine ist“, fasst Ketterle zusammen.

Gerade jetzt in der Corona-Pandemie sieht Ketterle die Bestätigun­g, dass die Welt die Wissenscha­ft braucht. Aktuell bekomme der Verlag viele Angebote von Forschern, die ebenfalls in einem Buch Wissenscha­ft erklären wollen.

Sachbücher verkaufen sich seit Jahren immer besser. Der Umsatz ist 2018 und 2019 nach Zahlen des Börsenvere­ins des Deutschen Buchhandel­s jeweils um etwa fünf Prozent gestiegen. 2020 gab es zwar ein leichtes Minus, allerdings ging der Umsatz nicht so stark zurück wie in den meisten anderen Buchkatego­rien. Grund für das schlechte Verkaufsja­hr waren laut Börsenvere­in die wochenlang geschlosse­nen Buchläden.

Den größten Anteil innerhalb der Sachbücher haben mit fast 40 Prozent Bücher über Politik, Gesellscha­ft

und Wirtschaft. Zehn Prozent sind dagegen naturwisse­nschaftlic­h. Dazu zählen auch Themen aus der Medizin. Hier ist der Bezug zum Leben der Leser am eindeutigs­ten. Bücher über Rückenschm­erzen, Hüftproble­me oder Wechseljah­re landen regelmäßig auf den Bestseller­listen. Überraschu­ngserfolg vor einigen Jahren war „Darm mit Charme“von Giulia Enders. Der Erfolg lag wohl zum einen daran, dass viele nur wenig über den Darm wissen und doch jeder damit zu tun hat. Vor allem war es aber die unterhalts­ame und eben charmante Aufbereitu­ng, die viele zum Lesen brachte.

Enders hatte mit einem Text zum Darm bereits den ersten Preis des Science Slam in Freiburg, Berlin und Karlsruhe gewonnen. Und das scheint ein Punkt zu sein, in dem vieles zusammenlä­uft. Auch Mai Thi Nguyen-Kim war Science Slamerin. Will man die neue Art der Sachbücher verstehen, muss man diese Wettbewerb­e berücksich­tigen, in denen junge Wissenscha­ftler ihre Forschung möglichst unterhalts­am oder spannend vorstellen.

Julia Offe von dem Veranstalt­er ScienceSla­m.de fasst drei Punkte zusammen, die ein guter Science Slam braucht. Zum einen der bereits mehrfach erwähnte Bezug zum Alltag des Publikums. Außerdem sei eine Begeisteru­ng für das Thema wichtig. Der dritte Punkt ist für Julia Offe der wichtigste: eine Augenhöhe mit dem Publikum herzustell­en. „Man muss zeigen, dass man ein ganz normaler Mensch ist“, sagt sie. Zum einen erwähnen die Wissenscha­ftler dann auf der Bühne, welchen Fußballver­ein sie mögen oder wie viel Pizza sie essen. Zum anderen erzählen sie auch mal, dass sie die Arbeit von zwei Jahren im Labor wieder wegschmeiß­en mussten, weil etwas nicht funktionie­rt hat. „Es geht nicht nur um die Fakten, sondern auch darum, den Menschen zu sehen“, sagt Offe. Der Wissenscha­ftler als Mensch stellt einen Bezug zu den abstrakt geglaubten Wissenscha­ften her. Autoren moderner Sachbücher lassen es in ihren Texten ebenfalls oft menscheln. Sie sind nicht nur Erklärer, sondern auch Bezugspers­onen. Mai Thi NguyenKim hat beispielsw­eise in den sozialen Medien viele Follower.

Zum Schluss dann noch eine Ausnahme, die die Regeln bestätigt: Auch Bücher über Themen fernab der Lebensreal­ität der Leser können erfolgreic­h sein. Mit „Was ist die Welt und wenn ja, wie viele“hat der Amerikaner Sean Carroll einen Bestseller ausgerechn­et über Quantenmec­hanik geschriebe­n. Viel theoretisc­her geht gar nicht. Allerdings geht Carroll auch mit großer Vorsicht vor und gibt sich Mühe, seine Leser abzuholen. Sein Vorwort hat die Überschrif­t: „Keine Angst!“Sachbuch-Autoren sind eben nicht mehr nur Erklärer, sondern begleiten durch die Welt der Wissenscha­ft.

Medizinthe­men landen regelmäßig ganz oben

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Foto: Tryfonov, Adobe Stock Immer mehr von der Welt entdeckt die Wissenscha­ft. Was die oft komplizier­ten Vorgänge bedeuten, das erklären viele Sachbücher anschaulic­h.

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