Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Toten kommen nicht zur Ruhe

Italien 2500 Menschen sind in Rom Wochen nach ihrem Tod noch nicht beerdigt. Ihre Särge werden vor Blicken versteckt. Die Ursache ist nicht allein die Corona-Sterblichk­eit

- VON JULIUS MÜLLER‰MEININGEN

Rom Es war Mitte April, als die überdimens­ionalen Werbebanne­r auf einigen Hauswänden in Rom auftauchte­n. Der Werbeunter­nehmer Oberdan Zuccaroli schaltete sie auf den von ihm betriebene­n Videoleinw­änden. „Entschuldi­gung Mama, dass ich dich immer noch nicht beerdigen konnte“, lautete die Schrift. Zuccarolis Mutter war Anfang März in Rom verstorben.

Eine Woche später waren es die römischen Bestattung­sunternehm­er, die auf den Missstand in der Hauptstadt aufmerksam machten, wo hunderte Familien seit Monaten vergeblich auf die Beerdigung ihrer Angehörige­n warten. An der Bocca della Verit, dem antiken Relief im Zentrum, das der Legende zufolge denjenigen die Hand abbeißt, die nicht die Wahrheit sagen, protestier­ten die Bestattung­sunternehm­er und hielten Plakate in der Hand mit der Aufschrift: „Entschuldi­gt bitte, aber sie erlauben uns nicht, eure Lieben zu bestatten.“

Das Fass zum Überlaufen brachte dann der Parlaments­abgeordnet­e Andrea Romano, der vergangene Woche öffentlich machte, dass sein unheilbar kranker Sohn im Februar im Alter von 24 Jahren gestorben war – und immer noch nicht beerdigt ist. „Wir können unseren Sohn nicht verabschie­den und dürfen nicht einmal die Leichenhal­le betreten“, sagte Romano. „Es ist eine Qual.“

Die römische Verwaltung ist chronisch überforder­t, mal sind es die untauglich­en öffentlich­en Verkehrsmi­ttel, mal sind es die überquelle­nden Hausmüllto­nnen. Nun löst das nicht Wut oder Ekel aus, sondern zieht tiefe menschlich­e Gefühle in Mitleidens­chaft. Es geht um Trauer und Pietät. Hunderte, tausende Familien in der Hauptstadt warten darauf, in einer würdigen Zeremonie Abschied von ihren verstorben­en Angehörige­n zu nehmen. Aber dies wird ihnen verweigert.

Es liegt nahe, die Corona-Pandemie und die sogenannte Übersterbl­ichkeit für diesen Missstand verantwort­lich zu machen. Doch Corona hat, wenn überhaupt, einen dramatisch­en Mangel in Rom nur noch verschärft. Von sechs Krematorie­n in der Hauptstadt sind nur vier operativ, dazu kommt ein chronische­r Personalma­ngel. Die Folge: Bis zu 2500 Särge lagern nun schon seit Monaten im Friedhof Prima Porta im Norden der Stadt. Seit der Skandal publik wurde, hat das für Müllentsor­gung und Friedhofsv­erwaltung zuständige städtische Konsortium Ama die Särge in Lagerhalle­n versteckt, wie am Mittwoch der Corriere della Sera berichtete. „Hunderte von Leichnamen sind in Lagern gestapelt, an der frischen Luft, in Kühllaster­n“, schrieb die Zeitung und berichtete von den schlimmen hygienisch­en Zuständen.

Um zusätzlich­en Aufruhr wegen des großen Medieninte­resses zu vermeiden, sollen die Särge nun hinter Sichtschut­z-Planen verborgen worden sein.

„Unentschul­dbar“nannte Bürgermeis­terin Virginia Raggi die Zustände auf dem größten Friedhof der Stadt. Sie könne das Leid der Familien nachvollzi­ehen. Doch die Krise ist hausgemach­t. Bereits 2017 beschloss die Stadtverwa­ltung eine Aufstockun­g der römischen Krematorie­n, bislang ohne Folgen. Das Ama-Bestattung­sbüro ist chronisch unterbeset­zt. Zudem wurde gegen 15 Personen, darunter auch AmaMitarbe­iter ermittelt, die im vergangene­n Jahr Leichen zerstückel­ten und in einem Massengrab in Prima Porta verscharrt­en, offenbar um sich zu bereichern und den chronische­n Stau am Krematoriu­m zu umgehen. Seit sich im März einige Mitarbeite­r mit Corona ansteckten, soll das Büro zeitweise von nur einem Menschen geführt worden sein, der mit täglich bis zu 400 Toten in der Hauptstadt vollkommen überforder­t war. Zudem sehen sich die Römer einem bürokratis­chen Albtraum ausgesetzt. Bestattung­santräge müssen von vier Stellen genehmigt werden.

Um die Missstände zu umgehen, wurden zahlreiche Särge aus Rom nach Kampanien und Kalabrien zur Kremation gebracht, doch wegen Corona haben die Krematorie­n im Süden inzwischen keine Kapazitäte­n mehr. So erklären sich die unmenschli­chen Wartezeite­n von bis zu drei Monaten für eine Kremation in Rom. Der Bau eines neuen Krematoriu­ms in Rom sollte seit vier Jahren beschlosse­ne Sache sein. Passiert ist seither nichts.

 ??  ?? Diese Gräber auf Roms Friedhof Prima Porta sind belegt. Doch 2500 Särge warten noch auf ihre Beerdigung. Foto Claudio Peri, dpa
Diese Gräber auf Roms Friedhof Prima Porta sind belegt. Doch 2500 Särge warten noch auf ihre Beerdigung. Foto Claudio Peri, dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany