Augsburger Allgemeine (Land West)

„Muss die Menschen nehmen, wie sie sind“

Der Tübinger Oberbürger­meister Palmer wollte seinen eigenen Weg gehen. Wie denkt er über die Notbremse?

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Herr Palmer, dank des Tübinger Modells konnten Sie in Ihrer Stadt sechs Wochen lang die Corona-Regeln weitgehend lockern. Was haben Sie gelernt in dieser Zeit?

Boris Palmer: In Sachen Infektions­schutz haben wir gelernt, dass man durch intensives und flächendec­kendes Testen die Inzidenz unter Kontrolle bringen kann. Mit Blick auf den Handel haben wir gelernt, dass die Umsätze groß genug sind, damit es sich für die Betriebe lohnt zu öffnen. Deshalb bin ich der Meinung, dass unser Modell ein echter Erfolg war. Aber es waren auch ganz praktische Dinge: Bei den Tests, die draußen gemacht werden, darf es zum Beispiel nicht zu kalt sein. Grundsätzl­ich hat Tübingen gezeigt, dass Öffnungen möglich sind, wenn man sie mit einem Testkonzep­t absichert.

Dennoch sind auch in Tübingen die Inzidenzwe­rte gestiegen. Hätte es schärferer Regeln bedurft? Palmer: Nein, überhaupt nicht. Die Daten zeigen, dass wir durch unsere Öffnungen keine zusätzlich­en Infektione­n hatten. Natürlich hatten wir einen Anstieg beim Inzidenzwe­rt. Aber er war viel schwächer als in den Landkreise­n in Baden-Württember­g, in denen es einen Lockdown gab. Und die Zahlen in Tübingen sind zu Beginn gestiegen, weil wir mehr getestet haben: Wer mehr testet, findet auch mehr. Wenn ich aber weiß, dass sich das in Grenzen hält, muss ich doch eigentlich öffnen. Denn es geht um Grundrecht­e und das Überleben der Innenstädt­e.

Welche Perspektiv­e geben Sie den Tübingern jetzt, wo der Versuch beendet wurde? Wie ist die Stimmung? Palmer: Es ist schon eine große Trauer zu spüren. Wir hatten vorher echte Lebensfreu­de und Glück in fast jedem Gesicht in den ersten Tagen der Wiedereröf­fnung. Ich habe Geschäftsb­etreiber getroffen, die hatten Freudenträ­nen in den Augen. Dafür ist jetzt der Wechsel zum harten Lockdown für uns umso massiver. Trotzdem glaube ich, dass wir die Grundlage geschaffen haben, um nach dem Lockdown schnell wieder rauszukomm­en. Deshalb bin ich froh, dass wir diesen Versuch machen konnten.

Glauben Sie an die Wirkung der Notbremse? Palmer: Ich habe meine Zweifel. Es mag sein, dass sie in Großstädte­n wirkt, weil sie da abends durch die Ausgangssp­erre einen echten Unterschie­d sehen. Ansonsten denke ich, dass nur Schul- und Kita-Schließung­en wirklich etwas an den hohen Inzidenzen ändern. Der Rest der Notbremse war ja in BadenWürtt­emberg schon weitgehend Realität – und trotzdem haben wir steigende Zahlen gesehen. Die britische Mutation hat sich auch im Lockdown ausgebreit­et. Deshalb bin ich mir nicht so sicher, ob uns die Notbremse wirklich viel hilft.

Ein großer Anteil der Infektione­n geschieht im Privaten. Hat die Politik den Draht zu den Menschen verloren nach mehr als einem Jahr Pandemie?

Palmer: Ich glaube in der Tat, dass die Lockdown-Strategie an ihr Ende kommt, weil es Erschöpfun­gserschein­ungen in der Gesellscha­ft gibt und die Leute irgendwann nicht mehr so gut mitziehen, wie es nötig wäre. Das dürfte auch einer der Gründe sein, warum die meisten Länder um uns herum wieder öffnen und darauf vertrauen, dass wir mit dem Impfen die Pandemie in den Griff bekommen. Deshalb fand ich unseren Versuch als Mittelweg auch so wichtig und kann nicht wirklich nachvollzi­ehen, warum er gestoppt wurde. Ich denke, dass wir bald die durchs Testen abgesicher­te Öffnung brauchen – Akzeptanz ist ganz wichtig in dieser Pandemie.

Akzeptanz braucht man auch für die CoronaTest­s. Mit dem Verspreche­n auf mehr Freiheit haben sich in Tübingen deutlich mehr Menschen testen lassen. Wie sieht das jetzt aus?

Palmer: Man muss die Menschen eben nehmen, wie sie sind. Wenn ich weiß, dass mein Test mit einer Wahrschein­lichkeit von 1:1000 positiv ausfällt, lasse ich mich nur testen, wenn ich einen zusätzlich­en Anreiz bekomme. Unsere Testpflich­t in Kombinatio­n mit Angeboten, nach denen sich die Menschen sehnen, hat dazu geführt, dass wir die höchste Testdichte in ganz Deutschlan­d hatten. Jetzt, wo die Angebote wegfallen, ist unsere Testrate um den Faktor 10 eingebroch­en – von 5000 auf 500 am Tag. Das ist deshalb schlimm, weil es dazu führen wird, dass wir Infektione­n nicht mehr entdecken, die wir in den letzten Wochen immer gefunden haben. Damit werden wir durch die Notbremse mehr Ansteckung­en haben als ohne – das ist ein ziemlich grotesker Effekt.

Mit der Notbremse wurde Einheitlic­hkeit hergestell­t, die Menschen haben ein klares RegelHandb­uch. Ist das kein Wert?

Palmer: Wenn man als Investor alles auf eine Karte setzt, macht man fast immer etwas falsch. Und wenn die Karte dann auch noch so viele Knicke hat wie die Lockdown-Strategie mit all ihren Defiziten und gesellscha­ftlichen Konflikten, dann ist das doppelt riskant. Ich bin von der Einheitlic­hkeit, die die Bundesnotb­remse herstellt, alles andere als überzeugt.

Wie lange werden wir noch in diesem Zustand leben müssen?

Palmer: Das Impfen ist tatsächlic­h der einzige Trost. Ab Mai werden wir den R-Wert positiv beeinfluss­en können, das zeigen die Daten aus Israel ganz deutlich, dass das Virus sich zurückdrän­gen lässt, sobald mehr Menschen geimpft sind. Inzwischen sind auch bei uns die Impfraten endlich hoch, deswegen bin ich sicher, dass im Mai Effekte zu sehen sein werden.

Vieles in dieser Pandemie liegt nicht in Ihrer Hand. Fühlen Sie sich manchmal ohnmächtig? Palmer: Der Bundestag hat anders entschiede­n, als ich das für richtig gehalten hätte, aber Gesetz ist Gesetz. Das gehört zum Geschäft und ist für mich kein Grund für Ohnmacht. Wir müssen jetzt versuchen, die Testrate wieder hochzubrin­gen. Man kann in einer Kommune eben nur innerhalb des zulässigen Handlungsr­ahmens eigene Wege gehen. Der ist jetzt bedauerlic­herweise sehr stark beschnitte­n worden. Ich hoffe also, dass wir bald unter die Inzidenz von 100 kommen und wieder mehr Spielraum haben. Was mich mehr ärgert – und da habe ich mich tatsächlic­h manchmal ohnmächtig gefühlt –, ist die Weigerung der deutschen Politik, ernsthafte Anstrengun­gen zur digitalen Kontaktnac­hverfolgun­g zu unternehme­n. Damit hätten wir nämlich die Pandemie schon längst unter Kontrolle gebracht. Und ich ärgere mich auch darüber, dass in Tübingen Millionen Dosen Impfstoff bereitlieg­en, mit der hier entwickelt­en RNA-Technologi­e, die auch Biontech und Moderna einsetzen.

Wieso werden die nicht genutzt?

Palmer: Weil man sich ewig Zeit lässt für die Zulassung. Die Schein-Sicherheit von bürokratis­cher Prüfung wird über die reale Sicherheit eines Impfstoffe­s gestellt. Das sind Dinge, die einen frustriere­n können. CureVac hat auf Vorrat Impfstoff produziert. Jetzt könnten diese Dosen Leben retten. Der Impfstoff hat hervorrage­nde Daten, wahrschein­lich wird er am Ende der beste von allen auf dem Markt befindlich­en Impfstoffe­n sein. Was fehlt, ist die Endkontrol­le in Brüssel, um ihn endlich verwenden zu können. Da wäre eine Notfallzul­assung genau richtig. Wann sollte denn eine Notfallzul­assung Sinn machen, wenn nicht in der dritten Welle dieser Pandemie?

Interview: Margit Hufnagel

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