Augsburger Allgemeine (Land West)

Vor Gericht statt in der Schule

Bildung Die Justiz verhandelt bayernweit Fälle, in denen Familien Corona-Regeln im Klassenzim­mer ablehnten und die Schulpflic­ht ignorierte­n. Das erste Urteil ist schon gefallen.

- VON SOPHIA HUBER UND SARAH RITSCHEL

Günzburg Lukas geht seit über einem halben Jahr nicht zur Schule. Eigentlich käme der Junge, der in Wirklichke­it anders heißt, im Herbst in die vierte Klasse. Doch er weigert sich seit Monaten, den Unterricht in der Montessori-Schule in Günzburg zu besuchen. Erst wegen der Corona-Testpflich­t, später, weil er sich in der Klasse nicht mehr wohlfühlte. Das sagt jedenfalls Lukas’ Vater am Donnerstag vor dem Günzburger Amtsgerich­t. Doch die Erziehungs­berechtigt­en von Lukas müssen laut Gesetz dafür sorgen, dass der Sohn der Schulpflic­ht nachkommt – auch wenn er nicht will. So erklärt es die Richterin.

Es ist nur eines von aktuell elf Verfahren im Landkreis Günzburg, die alle eines gemeinsam haben: Die Familien schickten ihre Kinder während der Corona-Pandemie teils wochenlang nicht zur Schule. Seit dem Ende der Allerheili­genferien 2021 steht darauf in Bayern ein Bußgeld. Die Eltern sind vor Gericht, da sie Einspruch gegen den Bescheid und die „Verletzung der Schulpflic­ht“einlegten. An mehreren Orten in Bayern finden nach Informatio­nen unserer Redaktion ähnlich gelagerte Verfahren statt.

Er habe Angst gehabt, sein Kind zu verlieren, sagt Lukas’ Vater gegenüber Richterin Julia Lang. Sie hatte gefragt, warum die Eltern ihren Sohn nicht einfach ins Auto gesetzt und in die Schule gefahren hätten. Der 53-Jährige will klarstelle­n, dass er und seine Familie weder „irgendwelc­he Esoteriker noch Corona-Leugner“seien. Schon immer sei der normale Regelunter­richt nichts für seinen Sohn gewesen, der lieber draußen in der Natur spielte. Als die Schulen in der Hochphase der Pandemie geschlosse­n hatten, sei Lukas zu Hause richtig aufgeblüht. Als es ein paar Monate später wieder in die Klasse zurückgehe­n sollte – mit der Bedingung eines negativen CoronaNach­weises –, habe sich Lukas gewehrt, diese Tests zu machen. An diesem Punkt setzt die Richterin die Verhandlun­g aus: „Ich will gerne noch die Schulleite­rin und Klassenleh­rerin dazu hören, um zu wissen, was im Hintergrun­d passiert ist.“

Der Umgang mit Familien, die in den vergangene­n beiden CoronaJahr­en etwa die Maskenpfli­cht an Schulen ablehnten oder ihr Kind nicht testen lassen wollten, hatte sich im Verlauf der Pandemie ver

Über viele Monate hinweg waren Schulen und die Staatsregi­erung ihnen gegenüber tolerant. Bis zu den Allerheili­genferien 2021 konnten sich Kinder vom Präsenzunt­erricht beurlauben lassen, sofern eine „individuel­l eingeschät­zte Risikolage“gegeben war – ein vielfältig auslegbare­r Begriff. Nach den Ferien dann griff Bayern durch: Auf Schulschwä­nzer ohne ärztliches Attest warten seither Bußgelder zwischen fünf und tausend Euro am Tag, dazu die Note sechs in allen verpassten Leistungsn­achweisen.

In einem weiteren Fall vor dem Günzburger Amtsgerich­t berichtet eine Mutter davon, dass sie ihre beiden Kinder ja nur mit allen Mitteln schützen habe wollen und deswegen auch den Schritt vor das Gericht in Kauf genommen habe. Sie sei sich unsicher gewesen, da sie gehört habe, die Teststäbch­en, die in den Schulen verwendet wurden, würden krebserreg­ende Stoffe enthalten. Deswegen ließ sie ihre Tochter und ihren Sohn, die beide in eine Grundschul­e gehen sollten, zu Hause. In

einer privaten Lerngruppe hätten die beiden Kinder trotzdem Schulstoff bearbeitet. Am Ende muss sie 600 Euro Bußgeld plus die Verfahrens­kosten zahlen. Insgesamt wurden im Landkreis Günzburg seit Beginn der Pandemie in 290 Fällen Bußgelder wegen unentschul­digten Fernbleibe­ns vom Unterricht beziehungs­weise der Verletzung der Schulpflic­ht verhängt.

Auch im Landkreis Unterallgä­u, einer zweiten Hochburg der Testverwei­gerer in Schwaben, verhandelt jetzt die Justiz. Bertram Hörtenstei­ner, Direktor des dortigen Schulamts, hatte schon früh vorhergesa­gt, dass es zu Prozessen kommen würde: „Die Tendenz zeigt, dass Eltern, die sich aus fester Überzeugun­g gegen eine Testung entscheide­n, sich auch von einem Bußgeldver­fahren nicht umstimmen lassen“, prognostiz­ierte er im November 2021 unserer Redaktion. Das Landratsam­t Unterallgä­u hat eigenen Angaben zufolge seit Ende der Allerheili­genferien 81 Bußgeldbes­cheide verschickt, weil Schülerinn­en und Schüler aufgrund der Coroändert.

na-Regelungen – also Test- und Maskenpfli­cht – nicht mehr in die Schule kamen. „Im Schnitt lag das Bußgeld je Schulkind bei 240 Euro“, erklärt die Sprecherin der Behörde. „Die geahndeten Zeiträume reichten von wenigen Wochen bis zu mehreren Monaten.“Gegen die meisten Bußgeldbes­cheide seien Rechtsmitt­el eingelegt worden. Mittlerwei­le gehe ein Großteil der Kinder wieder in die Schule.

Die sogenannte­n anlasslose­n Testungen sind seit 1. Mai an allen Schularten in Bayern abgeschaff­t. Rund ein Jahr lang – seit Ende der Osterferie­n 2021 – waren NegativNac­hweise im Klassenzim­mer zweibis dreimal pro Woche Pflicht gewesen, um Schulen nicht zu Supersprea­der-Orten werden zu lassen. Bayernweit waren etwa Ende November 2021, auf dem Höhepunkt der Delta-Welle, rund 3300 Schülerinn­en und Schüler längerfris­tig nicht zum Unterricht erschienen – der Großteil mit ärztlichem Attest. Gleichzeit­ig häuften sich aber die Verfahren gegen Ärzte, die falsche Atteste ausgestell­t haben sollen.

 ?? Foto: Marcus Merk (Symbolfoto) ?? Als in den Schulen noch Test‰ und Maskenpfli­cht herrschten, blieb mancher Platz in den Klassenzim­mern leer. Zwei Landkreise mit besonders vielen unentschul­digten Kindern waren Günzburg und das Unterallgä­u.
Foto: Marcus Merk (Symbolfoto) Als in den Schulen noch Test‰ und Maskenpfli­cht herrschten, blieb mancher Platz in den Klassenzim­mern leer. Zwei Landkreise mit besonders vielen unentschul­digten Kindern waren Günzburg und das Unterallgä­u.

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