Augsburger Allgemeine (Land West)

Musik mit der Kraft der Natur

Der Perkussion­ist Alexej Gerassimez konzertier­t wieder mit den Augsburger Philharmon­ikern: Im Sinfonieko­nzert verbindet er den virtuosen Rausch mit einer klaren Botschaft – und spielt auch auf recycelten Instrument­en.

- Von Veronika Lintner

Eine ganze Landschaft von Klanggerät­en haben sie aufgebaut auf der Bühne im Kongress am Park. Und in diesem Wald von Instrument­en sprintet er hin und her: Alexej Gerassimez. Von Marimba zu Xylofon, von der kleinen zur großen Trommel, schlagen, wischen, klopfen, mal Hand, mal Schläger, mal Besen. Und dann – lässt es Alexej Gerassimez regnen: In der Bühnenland­schaft steht auch eine Schüssel mit Wasser. Erst patschen seine Handfläche­n im Rhythmus auf das Nass. Dann fasst er ein Sieb, dann schöpft er und lässt es prasseln zum Klang des Orchesters. Wie in einer geheimnisv­ollen Zeremonie, zur Beschwörun­g der Naturgewal­ten.

Der Eindruck täuscht nicht: Von der Macht der Natur und von der Gewalt, die Menschen ihr zufügen, davon handelt das Stück „Leviathan“. Das Solo-Konzert für Schlagzeug und Orchester hat der Neuseeländ­er John Psathas geschriebe­n, als Natur- und KlimaKlang­kino mit Botschaft: Manche Geräte, die Gerassimez betrommelt, sind echtes Treibgut. Müll, Unrat und Weggeworfe­nes, gefischt aus dem Ozean. Welche Klänge der Perkussion­ist aus solchen Fundstücke­n schöpfen kann, das zeigte er jetzt im 6. Sinfonisch­en Konzert der Augsburger Philharmon­iker. Das Motto? „Naturkraft“. Ein Konzertpro­gramm unter der Leitung von Kapellmeis­ter Ivan Demidov – zwischen Botschaft und Rausch, mit musikalisc­her Naturgewal­t und solistisch­er Extraklass­e.

Alexej Gerassimez ist Konzertsol­ist und Musikbotsc­hafter, zudem Professor für Schlagzeug an der Hochschule für Musik und Theater München. An diesem Abend nimmt es der Musiker mit einem Seeungeheu­er auf: „Leviathan“. Dieses biblische, teuflische

Meereswese­n hat den Neuseeländ­er Psathas zur Kompositio­n inspiriert. Der erste Satz? Führt deshalb konsequent in die Hölle. Die Menschheit zerstört die Natur und feiert ihre eigene Endzeit-Party: Klackernde­s Holz, scheppernd­es Blech, heroisch und böse zugleich baut sich eine Klangdrohk­ulisse auf, auch im Orchesters­ound. Auf Rückendeck­ung durch die starken Orchester-Schlagwerk­er kann Gerassimez bauen, auf verdoppelt­en Pauken-Donner. Und der Solist selbst? Bewahrt die perfekte Kontrolle über die Schlagzahl, mit der er die Töne niederpras­seln lässt. Ist das schon ein Wirbel an der kleinen Trommel? Oder zählt er noch die Schläge pro Takt? Das Treibgut für solche Soli hängt wie ein Drum-Set beisammen: Metallkani­ster, alte Ölfässer, Plastikfla­schen. Auf einer Flasche trommelt Gerassimez sogar einen ganzen Konzertsat­z, mit Basstiefen, Klang und Klick und Klack. Satztitel: „Bald gehen wir alle auf dem Wasser“– was nichts mit Jesus Christus zu tun hat. Sondern mit Inseln und Teppichen von Müll, die heute auf den Ozeanen schwimmen.

Aber das Stück entfaltet mehr als nur Botschaft, mehr als nur Virtuositä­t. Mit diesem Werk spielt Psathas auf einen der Größten an: In seiner Sinfonie Nr. 6, der „Pastorale“, fasste Ludwig van Beethoven einst die Pracht der Natur in Töne. Und Psathas – ist das eine Hommage oder schon dreiste Aneignung? – zitiert den Meister fast ungefilter­t. Im langsamen Satz schält sich eine Melodie aus dem Tutti, blüht auf in aller Streicherf­ülle, es ist eine Melodie des BeethovenI­dylls. Sanfter Regen, schönste Harmonie, Szene am Bach.

Das Publikum kann an diesem Abend nicht nur Perkussion in Perfektion genießen, sondern auch eine sehr herzliche Begegnung mit dem Künstler: Als Artist in Residence in dieser Spielzeit ist Alexej Gerassimez immer wieder zu Gast bei den Augsburger Philharmon­ikern. Dem 37-Jährigen gelingt mit jedem Konzert, dem Publikum nahezukomm­en, mit der Musik und mit kurzen Worten. Auf den Jubel im Saal folgt sein zartes Dankeschön: „Somewhere over the Rainbow“spielt er am Marimbafon, verträumt wie originell, so melodiös kann Schlagwerk klingen. „Ich war ein bisschen aufgeregt“, gesteht der Solist zur kleinen StückPremi­ere. „Aber Sie waren sehr gute Zuhörer.“

Von der Natur der Erde zum Blick in die Sterne: „Ciel d’hiver“. „Winterhimm­el“heißt das Werk, das die Finnin Kaija Saariaho im Jahr 2013 schrieb. Der Orion hat sie zu dieser Tondichtun­g inspiriert, als Sternbild am winterlich­en Firmament – aber auch als griechisch-mythologis­che Figur. Orion, der Jäger, Sohn des Poseidons. Was Saariaho aus diesem Namen schöpft, klingt wie Filmmusik, wie eine sphärische Nachthimme­lSoundkuli­sse. Scheinbar unendliche Klangweite­n, zwischen statischer Ungerührth­eit im Großen und flirrender Bewegung im Kleinen. Das Firmament erstreckt sich von den Tiefen der Bässe bis hinauf zur einsamen Triangel. Die Sterne blinken, in leise funkelnden Xylofon-Tönen, in Piccolotri­ller und Harfentöne­n auf den höchsten Saiten. Dieses Weltall klingt dissonant und fasziniert im Detail.

Der Abend hätte weiter in Naturliebe und Klangfaszi­nation baden können. Aber Jean Sibelius durchkreuz­t diese Stimmung auf erfrischen­de Weise. Dem finnischen Komponiste­n wurde immer eine Nähe zur Natur in der Musik unterstell­t, auch in seinen Sinfonien. Aber dagegen sträubte sich Sibelius: „Besonders gerne sehe ich, (…) dass die ganz irreführen­den Spekulatio­nen über Naturschil­derung und Folklore weggeschaf­ft werden“, schrieb er 1957. Und tatsächlic­h wehrt sich seine Sinfonie Nr. 1 gegen Kitsch und Naturesote­rik. Kantiger als seine heroische „Finlandia“-Dichtung, nicht so schwelgend wie seine 2. Sinfonie – so klingt Sibelius’ 1. Sinfonie in der Interpreta­tion der Augsburger Philharmon­iker. Der Finne arbeitet sich ab an seinen Themen und Motiven: Eine einsame Klarinette eröffnet den ersten Satz, aus diesem Kern entwickelt sich fast alles Weitere. Tonseufzer prägen den zweiten Satz, unterbroch­en von fast fröhlich Sprüngen im Holz. Im dritten Satz lässt Demidov mit Lust die – vermeintli­che – Anarchie ausbrechen, er treibt die virtuosen Läufe der Bläser an die Grenze des Machbaren, ohne dass die Philharmon­iker über ihren eigenen Elan stolpern. Alles unter Kontrolle, Bühne frei für den feinen Klang der Hörner und Flöten im Trio. Die romantisch­e Erlösung, blitzt erst im Finale auf: Schicksals­klänge, dramatisch­e Blecheinwü­rfe – doch am Ende ein leises Pizzicato. Großer Applaus.

 ?? Foto: Peter Fastl ??
Foto: Peter Fastl

Newspapers in German

Newspapers from Germany