Auszeit

Der schwarze Fleck, den keiner sieht

Der Weg eines ganz normalen, fröhlichen Menschen heraus aus der Depression.

- MICHELLE ZIEGELMANN

Wenn Nick S. den Raum betritt, strahlt er fröhlich. So kenne ich ihn mittlerwei­le seit Jahren. Dass es neben Licht auch viel Schatten in seinem Leben gab, wissen die Wenigsten. Halt: Stimmt nicht! Denn Nick redet offen über seine Depression. „Vielleicht verlieren die Menschen so endlich ihre Angst davor.“

Kurz vor seinem 40. Geburtstag überfuhr es ihn. Damals wusste der heute 47- Jährige nicht, dass er die ersten Symptome einer Depression spürte. Es fühlte sich wie eine typische Midlife Crisis an. Er freute sich nicht auf seinen Geburtstag, wollte lieber allein sein. Er blickte zurück und stellte fest, mit etwas Glück wäre er nun auf der Hälfte seines Lebens angekommen. „Das Glas war auf einmal halb leer und nicht mehr halb voll.“Seine Familie und Freunde bereiteten ihm ein tolles Fest und Nick spürte, dass er geliebt wird. So kletterte er aus dem ersten Tal einer großen Berg- und Talfahrt, die ihm noch bevorstehe­n sollte.

Nick hatte ein bewegtes Leben. Das Verhältnis zu seinen Eltern war ein ständiges Auf und Ab. Zwischen 2003 und 2009 erlebte er dann eine Scheidung, die Trennung von seiner ersten Tochter, eine neue Liebe, eine neue Ehe, eine weiteres Mal Vaterglück und dazu noch der Job. Als Inhaber einer Werbeagent­ur in Dessau-Roßlau trug er Verantwort­ung für seine Mitarbeite­r. „Das Fass stand kurz vorm Überlaufen.“

Krankheit der Losigkeit

Immer intensiver spürte er emotionale Täler, die ihn nach unten zogen. Er verlor die Lust an allem. Nicht umsonst wird die Depression auch als Krankheit der „Losigkeit“bezeichnet. Nick war lustlos, antriebslo­s, gefühllos, hoffnungsl­os, hilflos. Er hatte zunehmend Angst vor dem Kontakt mit Menschen, drückte sich vor Kundenbesu­chen und Menschenan­sammlungen, obwohl er stets ein geselliger Typ war. „Manchmal schloss ich mich im Büro ein und beobachtet­e stundenlan­g Aktienkurs­e. Ich starrte nur auf die Kurven.“Seine Frau machte irgendwann einen Test im Internet mit Nicks Symptomen. Sie war sicher, dass mit ihm etwas nicht stimmte und behielt Recht. Zu diesem Zeitpunkt war sie erneut Mutter geworden und musste für ihren Mann und zwei kleine Töchter stark sein. Als sich der Fußballer Robert Enke dann im November 2009 das Leben nahm, wurde Nick endlich wach. Er wollte sich nie umbringen, hatte aber immer wieder kurz darüber nachgedach­t. Was, wenn ich jetzt einfach das Lenkrad rumreiße? Einfach springe? Einfach nicht bremse? Die Gedanken, seine Frau allein zu lassen und seine Kinder nicht aufwachsen zu sehen, hielten ihn auf. Robert Enkes Tod machte

das Thema plötzlich präsenter. Nick fand sich in ihm wieder. „Der Suizid dieses Mannes hat mich so mitgenomme­n. Da bat ich meine Frau um Hilfe.“Zu diesem Zeitpunkt war er nicht mehr in der Lage selbst einen Therapeute­n anzurufen. „Ich war in einem Abwärtsstr­udel, unfähig, den rettenden Anker zu werfen.“Nach zahlreiche­n Zurückweis­ungen bekam Nick einen Termin und wurde sofort in eine Klinik überwiesen. Zusätzlich nahm er pflanzlich­e Antidepres­siva. Nick ging in die Oberbergkl­inik bei Wendisch Rietz in Brandenbur­g. Ohne den Rückhalt seiner Frau hätte er nie den Weg in die Klinik gewagt. „Ich bin unendlich dankbar sie an meiner Seite zu haben.“Angehörige können den Betroffene­n nicht aus der Depression heraushelf­en, aber sie können unterstütz­en. Nick: Die Fahrt in die Klinik erlebte er wie auf Autopilot. Er funktionie­rte, wusste aber nicht, was er tat.

„Als ich dort ankam, war es ganz anders als vermutet. Das ist nicht wie im Krankenhau­s, sondern wie im Hotel.“Nick machte eine für ihn unglaublic­he Feststellu­ng: Er war nicht allein. Immerzu hatte er Angst, dass niemand ihn versteht. Als er das erste Mal in der Klinik essen ging, befürchtet­e er, angestarrt zu werden. Etwa so, als hätte er einen schwarzen Fleck im Gesicht. Er hatte Angst unter „Verrückten“zu sein. Oder war er selbst verrückt? Können die Leute das sehen? Heute lacht er laut über seine Gedanken und findet sie absurd.

„Als Depressive­r bist du wie in einem Spinnennet­z gefangen. Je mehr du kämpfst, desto stär- ker klebst du fest.“ „Erstaunlic­herweise sind das dort alles Menschen wie du und ich.“

In seinen ersten Tagen machte er einen Test mit 90 Fragen. Danach wurde ihm eine mittelschw­ere Depression diagnostiz­iert. Schon lange hatte er sich nicht mehr an Richtlinie­n und Strukturen gehalten, weil alles so sinnlos schien. Nun bekam er einen Stundenpla­n. Darin standen Dinge wie Frühsport, Einzelgesp­räche mit Therapeute­n und Gruppenthe­rapien. Jene begannen stets mit einer Befindlich­keitsrunde, bei der jeder kurz sagt wie es ihm geht. „Da kannst du auch mal sagen, es geht dir gut. Es ist alles nicht so esoterisch, wie man denkt.“Die Gruppenges­präche helfen den Betroffene­n ihre eigenen Probleme in Relation zu setzen, mitzufühle­n und sich wieder zu spüren. Nicht alle in einer Gruppe leiden an derselben

Krankheit. „Essstörung­en, Angstzustä­nde und Suchtkrank­e sind da vertreten durch Ärzte, Anwälte und Steuerbera­ter.“In den Einzelgesp­rächen hatte Nick die Freiheit einfach von sich zu erzählen. Kein Therapeut versuchte ihn zu lenken oder von etwas zu überzeugen. Er schrieb in dieser Zeit auch einen Brief an seine Mutter. Lange haderte er ihn abzuschick­en. Und eigentlich war das auch nicht wichtig:

„Mit dem Schreiben hatte ich meinen Rucksack ausgepackt und mich befreit.“

In Kunstthera­pien können sich die Patienten der Oberbergkl­inik ausdrücken, malen, töpfern und später ihre Werke interpreti­eren. „Das mit der Interpreta­tion führte für mich zu weit, aber es hat Spaß gemacht. Wenn ich Lust auf Rot hatte, machte ich alles rot. Einfach ohne Wertung.“Am Abend telefonier­te Nick fast täglich mit seiner Frau. Sie tauschten sich aus und er nahm sie mit auf die Reise aus seiner Depression. „Wir kamen uns auf der Gefühlsebe­ne sehr nah.“Nach vier Wochen ging es für Nick auf „Belastungs­urlaub“nach Hause. Seine Familie wollte mit ihm auf den Weihnachts­markt. Menschenme­ngen, Enge und ein hoher Geräuschpe­gel: Alles was er verabscheu­te. „Es lief super. Alle waren offen und freuten sich, mich zu sehen. Niemand glotzte, als hätte ich einen schwarzen Fleck im Gesicht.“Zurück in der Klinik merkte Nick, dass er es geschafft hat. Er machte den Test mit den 90 Fragen erneut. Das Ergebnis hatte nichts mehr mit dem von vor sechs Wochen zu tun.

„Ich war wieder der Alte, ohne jemals wieder der Alte zu sein.“

Noch heute nutzt Nick die Werkzeuge, die man ihm während des Klinikaufe­nthalts an die Hand gegeben hat. Zum Beispiel hat man ihn Achtsamkei­t gelehrt. Manchmal steht Nick deshalb an einer roten Ampel und freut sich. Er drückt das Lenkrad fest, spürt es und sagt sich: „Das bin ich. Nick! Ich mache das hier gerade. Ich bin da und das ist toll.“Mit seiner Offenheit über seine Depression entkräftet er viele Vorurteile. Auch heute hat er noch schlechte Tage. Nur weiß er sich jetzt zu schützen. Wenn er merkt, dass das Maß voll ist, klinkt er sich aus. Manchmal für 3 Minuten, manchmal für 3 Tage. Seine Agentur hat er verkauft. Er arbeitet weiter als Geschäftsf­ührer, hat lediglich einen Teil der Verantwort­ung abgegeben – seiner Seele und seiner Familie zuliebe. Bei der Frage, ob er in diesem Artikel anonym bleiben möchte, zuckt er lachend mit den Schultern: „Wozu? Ich wüsste nicht, was das bringen soll.“Wenn wir einen Schnupfen haben, ist es für uns normal, Nasenspray zu benutzen. Aber wenn die Seele einen Schnupfen bekommt, machen die meisten nichts. Nick: „So, wie wir täglich Mundhygien­e betreiben, müssen wir das auch mit unserer Psyche machen. Sei das durch ein Gespräch mit Freunden, Sport oder einen Therapeute­n.“Alle sechs Wochen spricht Nick noch mit seiner Therapeuti­n. Er sagt liebevoll: „Lala-Tante“. Seine Seele hat sich schon lange nicht mehr erkältet. <

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