Der schwarze Fleck, den keiner sieht
Der Weg eines ganz normalen, fröhlichen Menschen heraus aus der Depression.
Wenn Nick S. den Raum betritt, strahlt er fröhlich. So kenne ich ihn mittlerweile seit Jahren. Dass es neben Licht auch viel Schatten in seinem Leben gab, wissen die Wenigsten. Halt: Stimmt nicht! Denn Nick redet offen über seine Depression. „Vielleicht verlieren die Menschen so endlich ihre Angst davor.“
Kurz vor seinem 40. Geburtstag überfuhr es ihn. Damals wusste der heute 47- Jährige nicht, dass er die ersten Symptome einer Depression spürte. Es fühlte sich wie eine typische Midlife Crisis an. Er freute sich nicht auf seinen Geburtstag, wollte lieber allein sein. Er blickte zurück und stellte fest, mit etwas Glück wäre er nun auf der Hälfte seines Lebens angekommen. „Das Glas war auf einmal halb leer und nicht mehr halb voll.“Seine Familie und Freunde bereiteten ihm ein tolles Fest und Nick spürte, dass er geliebt wird. So kletterte er aus dem ersten Tal einer großen Berg- und Talfahrt, die ihm noch bevorstehen sollte.
Nick hatte ein bewegtes Leben. Das Verhältnis zu seinen Eltern war ein ständiges Auf und Ab. Zwischen 2003 und 2009 erlebte er dann eine Scheidung, die Trennung von seiner ersten Tochter, eine neue Liebe, eine neue Ehe, eine weiteres Mal Vaterglück und dazu noch der Job. Als Inhaber einer Werbeagentur in Dessau-Roßlau trug er Verantwortung für seine Mitarbeiter. „Das Fass stand kurz vorm Überlaufen.“
Krankheit der Losigkeit
Immer intensiver spürte er emotionale Täler, die ihn nach unten zogen. Er verlor die Lust an allem. Nicht umsonst wird die Depression auch als Krankheit der „Losigkeit“bezeichnet. Nick war lustlos, antriebslos, gefühllos, hoffnungslos, hilflos. Er hatte zunehmend Angst vor dem Kontakt mit Menschen, drückte sich vor Kundenbesuchen und Menschenansammlungen, obwohl er stets ein geselliger Typ war. „Manchmal schloss ich mich im Büro ein und beobachtete stundenlang Aktienkurse. Ich starrte nur auf die Kurven.“Seine Frau machte irgendwann einen Test im Internet mit Nicks Symptomen. Sie war sicher, dass mit ihm etwas nicht stimmte und behielt Recht. Zu diesem Zeitpunkt war sie erneut Mutter geworden und musste für ihren Mann und zwei kleine Töchter stark sein. Als sich der Fußballer Robert Enke dann im November 2009 das Leben nahm, wurde Nick endlich wach. Er wollte sich nie umbringen, hatte aber immer wieder kurz darüber nachgedacht. Was, wenn ich jetzt einfach das Lenkrad rumreiße? Einfach springe? Einfach nicht bremse? Die Gedanken, seine Frau allein zu lassen und seine Kinder nicht aufwachsen zu sehen, hielten ihn auf. Robert Enkes Tod machte
das Thema plötzlich präsenter. Nick fand sich in ihm wieder. „Der Suizid dieses Mannes hat mich so mitgenommen. Da bat ich meine Frau um Hilfe.“Zu diesem Zeitpunkt war er nicht mehr in der Lage selbst einen Therapeuten anzurufen. „Ich war in einem Abwärtsstrudel, unfähig, den rettenden Anker zu werfen.“Nach zahlreichen Zurückweisungen bekam Nick einen Termin und wurde sofort in eine Klinik überwiesen. Zusätzlich nahm er pflanzliche Antidepressiva. Nick ging in die Oberbergklinik bei Wendisch Rietz in Brandenburg. Ohne den Rückhalt seiner Frau hätte er nie den Weg in die Klinik gewagt. „Ich bin unendlich dankbar sie an meiner Seite zu haben.“Angehörige können den Betroffenen nicht aus der Depression heraushelfen, aber sie können unterstützen. Nick: Die Fahrt in die Klinik erlebte er wie auf Autopilot. Er funktionierte, wusste aber nicht, was er tat.
„Als ich dort ankam, war es ganz anders als vermutet. Das ist nicht wie im Krankenhaus, sondern wie im Hotel.“Nick machte eine für ihn unglaubliche Feststellung: Er war nicht allein. Immerzu hatte er Angst, dass niemand ihn versteht. Als er das erste Mal in der Klinik essen ging, befürchtete er, angestarrt zu werden. Etwa so, als hätte er einen schwarzen Fleck im Gesicht. Er hatte Angst unter „Verrückten“zu sein. Oder war er selbst verrückt? Können die Leute das sehen? Heute lacht er laut über seine Gedanken und findet sie absurd.
„Als Depressiver bist du wie in einem Spinnennetz gefangen. Je mehr du kämpfst, desto stär- ker klebst du fest.“ „Erstaunlicherweise sind das dort alles Menschen wie du und ich.“
In seinen ersten Tagen machte er einen Test mit 90 Fragen. Danach wurde ihm eine mittelschwere Depression diagnostiziert. Schon lange hatte er sich nicht mehr an Richtlinien und Strukturen gehalten, weil alles so sinnlos schien. Nun bekam er einen Stundenplan. Darin standen Dinge wie Frühsport, Einzelgespräche mit Therapeuten und Gruppentherapien. Jene begannen stets mit einer Befindlichkeitsrunde, bei der jeder kurz sagt wie es ihm geht. „Da kannst du auch mal sagen, es geht dir gut. Es ist alles nicht so esoterisch, wie man denkt.“Die Gruppengespräche helfen den Betroffenen ihre eigenen Probleme in Relation zu setzen, mitzufühlen und sich wieder zu spüren. Nicht alle in einer Gruppe leiden an derselben
Krankheit. „Essstörungen, Angstzustände und Suchtkranke sind da vertreten durch Ärzte, Anwälte und Steuerberater.“In den Einzelgesprächen hatte Nick die Freiheit einfach von sich zu erzählen. Kein Therapeut versuchte ihn zu lenken oder von etwas zu überzeugen. Er schrieb in dieser Zeit auch einen Brief an seine Mutter. Lange haderte er ihn abzuschicken. Und eigentlich war das auch nicht wichtig:
„Mit dem Schreiben hatte ich meinen Rucksack ausgepackt und mich befreit.“
In Kunsttherapien können sich die Patienten der Oberbergklinik ausdrücken, malen, töpfern und später ihre Werke interpretieren. „Das mit der Interpretation führte für mich zu weit, aber es hat Spaß gemacht. Wenn ich Lust auf Rot hatte, machte ich alles rot. Einfach ohne Wertung.“Am Abend telefonierte Nick fast täglich mit seiner Frau. Sie tauschten sich aus und er nahm sie mit auf die Reise aus seiner Depression. „Wir kamen uns auf der Gefühlsebene sehr nah.“Nach vier Wochen ging es für Nick auf „Belastungsurlaub“nach Hause. Seine Familie wollte mit ihm auf den Weihnachtsmarkt. Menschenmengen, Enge und ein hoher Geräuschpegel: Alles was er verabscheute. „Es lief super. Alle waren offen und freuten sich, mich zu sehen. Niemand glotzte, als hätte ich einen schwarzen Fleck im Gesicht.“Zurück in der Klinik merkte Nick, dass er es geschafft hat. Er machte den Test mit den 90 Fragen erneut. Das Ergebnis hatte nichts mehr mit dem von vor sechs Wochen zu tun.
„Ich war wieder der Alte, ohne jemals wieder der Alte zu sein.“
Noch heute nutzt Nick die Werkzeuge, die man ihm während des Klinikaufenthalts an die Hand gegeben hat. Zum Beispiel hat man ihn Achtsamkeit gelehrt. Manchmal steht Nick deshalb an einer roten Ampel und freut sich. Er drückt das Lenkrad fest, spürt es und sagt sich: „Das bin ich. Nick! Ich mache das hier gerade. Ich bin da und das ist toll.“Mit seiner Offenheit über seine Depression entkräftet er viele Vorurteile. Auch heute hat er noch schlechte Tage. Nur weiß er sich jetzt zu schützen. Wenn er merkt, dass das Maß voll ist, klinkt er sich aus. Manchmal für 3 Minuten, manchmal für 3 Tage. Seine Agentur hat er verkauft. Er arbeitet weiter als Geschäftsführer, hat lediglich einen Teil der Verantwortung abgegeben – seiner Seele und seiner Familie zuliebe. Bei der Frage, ob er in diesem Artikel anonym bleiben möchte, zuckt er lachend mit den Schultern: „Wozu? Ich wüsste nicht, was das bringen soll.“Wenn wir einen Schnupfen haben, ist es für uns normal, Nasenspray zu benutzen. Aber wenn die Seele einen Schnupfen bekommt, machen die meisten nichts. Nick: „So, wie wir täglich Mundhygiene betreiben, müssen wir das auch mit unserer Psyche machen. Sei das durch ein Gespräch mit Freunden, Sport oder einen Therapeuten.“Alle sechs Wochen spricht Nick noch mit seiner Therapeutin. Er sagt liebevoll: „Lala-Tante“. Seine Seele hat sich schon lange nicht mehr erkältet. <