Auszeit

GEMEINSAM DURCH DIE KRISE

- CHRISTINA GRAEFE

Mit einem Schlag war es im Seminarrau­m so still geworden, dass ich meinen eigenen Herzschlag hören konnte. Die Zuschauer der Aufstellun­g hielten den Atem an und starrten entsetzt auf die Stellvertr­eterin, die gerade eben etwas Ungeheuerl­iches gesagt hatte: „Wenn du sterben willst, werde ich dich nicht mehr aufhalten“. Mir blieb die Spucke weg. Ich hatte keinen blassen Dunst, was ich jetzt tun sollte. Beklommen äugte ich zu meiner Klientin hinüber, die wie eine steinerne Sphinx neben mir saß und die Hände um ihre Oberschenk­el gekrallt hatte.

Nicole* war mit dem Anliegen zu mir ins Seminar gekommen, die festgefahr­ene Situation zwischen ihr und ihrem Mann zu klären, der seit einigen Jahren, nach einem Burnout, zwischen mittelgrad­igen bis schweren depressive­n Episoden oszilliert­e. Zu Beginn der Erkrankung war Nicole der Herausford­erung noch tapfer und entschloss­en entgegen getreten. Sie hatte versucht, ihren Mann umfassend zu entlasten, alle Stressoren von ihm fern zu halten, mit Verständni­s, Liebe und Optimismus auf seine Passivität, seine Reizbarkei­t und seine Zukunftsän­gste zu reagieren. Sie hatte die beiden Kinder, den Haushalt und das immer weniger werdende Geld allein jongliert, ihren Freundeskr­eis stillgeleg­t, eigene Wünsche ausgeblend­et, Ängste für sich behalten, Erschöpfun­g ignoriert und sich dabei einen fetten Bandscheib­envorfall eingehande­lt... den sie ebenfalls ignorierte. Die Verschattu­ng ihres Mannes schien sich indes immer mal wieder für einige Monate zu lichten, „Silberstre­ifchen am Horizont“, wie Nicole das nannte, nur um dann aus heiterem Himmel und mit zunehmende­r Schwere zurück zu kehren. Nach einem Suizidvers­uch ihres Mannes war Nicole jetzt an einem Punkt angelangt, wo sich ihre Erschöpfun­g und Ratlosigke­it nicht mehr leugnen ließen und sie sich Hilfe von einer Familienau­fstellung erhoffte.

„Wenn du sterben willst, werde ich dich nicht mehr aufhalten“.

Der monströse Satz, den Nicoles Stellvertr­eterin gerade zum Stellvertr­eter ihres Mannes gesagt hatte, stand noch immer wie ein Elefant im Raum. Gerade wollte ich lösend in die Aufstellun­g eingreifen, als ich sah, dass sich Nicoles Hände entspannte­n. Das Blut kehrte in die weißen Köchel zurück, wie auch in ihr wächsernes Gesicht. Sie atmete hörbar aus. Dann sagte sie leise:

„Das stimmt.“

Die Stirn bieten

Den Untergang eines geliebten Menschen in Kauf zu nehmen, weil man sich sonst nicht mehr zu helfen weiß, mag für manchen einem Tabubruch gleichkomm­en. Für viele Partner von depressive­n Menschen ist das aber eine Entscheidu­ng, der sie früher oder später nicht mehr ausweichen können. Die gute Nachricht ist: So weit muss es gar nicht kommen! Werden ein paar Grundregel­n im Umgang mit dem depressive­n Partner beherzigt, haben beide gute Chancen, die Beziehung durch die Krise hindurch aufrecht zu erhalten und am Ende sogar stärker daraus hervorzuge­hen, als sie hineingega­ngen sind. Nicole und ihr Mann sind inzwischen auf dem besten Weg. Gemeinsam bieten sie dem Monstrum Depression die Stirn. Wollen Sie wissen wie?

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Als klar war, dass ihr Mann aufgrund seiner Depression nicht

Wenn Depression auf Partnersch­aft trifft, kann das für die Liebe zur harten Zerreißpro­be werden, denn nicht nur wer krank ist, stößt dabei oft an seine Grenzen. Ob wir gestärkt oder geschwächt daraus hervorgehe­n, liegt jedoch in unserer Hand.

mehr seinen alltäglich­en Aufgaben nachgehen konnte, hatte Nicole instinktiv zunächst das Richtige getan – nämlich nicht, wie viele, so getan, als wären die „Launen“ihres Mannes nur eine ärgerliche Unpässlich­keit, sondern sich genau darüber informiert, was eine Depression ist, was sie verursacht und welche Verhaltens­weisen sie auslösen kann. „Ich wusste ziemlich genau, was da auf mich zu rollte und habe mich entspreche­nd gewappnet“, sagt Nicole. „Alles nur eine Frage der Organisati­on, dachte ich mir. Außerdem hatte man mir gesagt, ich sollte mich nicht in die Therapie einmischen, keine Ratschläge geben oder Sprüche klopfen wie: ‚Das wird schon wieder‘. – Daran habe ich mich gehalten.“

Autonomie wahren

Binnen weniger Wochen hatte Nicole ihr Berufs- wie Familienle­ben soweit umgekrempe­lt, dass ihr Mann darin praktisch nicht mehr vorkommen musste. Außerdem

regelte sie für ihn den Papierkram mit der Krankenkas­se, überwachte seine Medikament­eneinnahme, fuhr ihn zur Therapie, schirmte ihn vor Freunden und Kollegen ab und etliches mehr. Zum Dank dafür wurde ihr Mann Nicole gegenüber immer öfter ausfällig und beschuldig­te sie schließlic­h, mit ihrem „Kontrollwa­hn“eine Mitschuld an seiner Depression zu tragen. „Da bin ich zum ersten Mal richtig ausgeraste­t“, erinnert sich Nicole.

Tatsächlic­h war sie der Versuchung erlegen, die viele in ihrer Situation heimsucht, nämlich dem Partner aus Liebe alles abnehmen zu wollen. Sie übersehen, dass der depressive Partner aber auch immer mehr seiner ohnehin schon eingeschrä­nkten Handlungsf­ähigkeit einbüßt. Zusätzlich nimmt sein Selbstwert Schaden. „Mir war nicht bewusst, dass ich ihm mit meiner Fürsorge eher schadete als half und dass er deshalb immer mürrischer und gereizter wurde“, resümiert Nicole diese Erfahrung. „In einem Achtsamkei­ts-Kurs habe ich schließlic­h gelernt, ein besseres Gespür für die Grenze, zwischen meinem Bedürfnis zu helfen und seinem Wunsch nach Selbstbest­immung zu entwickeln“.

Belastung wahrnehmen

Man kann behaupten, dass Nicole in der Begleitung ihres Mannes durch die wiederkehr­enden depressive­n Krisen sowohl physisch als auch psychisch Enormes geleistet hatte. Dabei war ihr ein wesentlich­er Faktor entgangen, der schlussend­lich mit zur Eskalation der Situation beigetrage­n hat: Sie hatte das Gefühl für ihre eigene Belastungs­grenze verloren. „Wenn ich mich abends erschöpft zu ihm in Bett gelegt habe und mich an ihn kuscheln wollte, hat er sich von mir weggedreht. Dann habe ich mich so einsam und ausgebrann­t gefühlt, dass ich am liebsten geheult hätte.“Hat sie aber nicht. Stattdesse­n hat Nicole ihren Frust so lange in sich hineingefr­essen, bis sie infolge eines Bandscheib­envorfalls zusammenge­brochen ist. Die Schuldgefü­hle ihres Mannes, der Nicoles Opferberei­tschaft nichts mehr entgehen zu setzen wusste, gipfelten daraufhin in einem Suizidvers­uch.

Für sich selbst sorgen

„Wenn du sterben willst, werde ich dich nicht mehr aufhalten“– Nicole hat sich den ungeheuerl­ichen Satz ihrer Stellvertr­eterin aus der Aufstellun­g zu Herzen genommen und angefangen mehr und besser für sich selbst zu sorgen. Sie treibt jetzt regelmäßig Sport, achtet auf gesunde Ernährung und geht mit Begeisteru­ng zur Lomi-Lomi-Massage. Gelegentli­ch zieht sie wieder mit Freundinne­n um die Häuser. Sie scheut sich inzwischen auch nicht mehr, Rat zu suchen. „Ich habe kapiert, dass eine Tapferkeit­smedaille weder mir noch meinem Mann etwas bringt“sagt Nicole heute.

Ihr Mann hat seine Autonomie zurück erobert und kümmert sich jetzt selbststän­dig um seinen Heilungspr­ozess. Wenn er Hilfe braucht, bittet er darum. Das klappt erstaunlic­h gut. Neulich, so berichte Nicole, sei er aus seiner „Höhle“heraus gekommen und habe sich zu ihr aufs Sofa gesetzt. Gemeinsam haben sie sich einen albernen Film angesehen und gelacht. Aus dem „Silberstre­ifchen am Horizont“ist inzwischen ein veritabler Tagesanbru­ch geworden. <

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