Auszeit

Das Lächeln der Melancholi­e

Melancholi­e muss nicht weh tun, obwohl sie schmerzlic­h ist. Wer sie bewusst wahrnimmt, findet an ihr den erhabenen Schmerz, von dem schon die antiken Denker schwärmten und kann sie unbeschade­t überwinden.

- PHILINE SCHLICK

"O, ewiges Geheimnis! Was wir sind und suchen, können wir nicht finden, was wir finden, sind wir nicht.“Friedrich Hölderlin

Es ist Samstagabe­nd und der Telefondis­play leuchtet rhythmisch. Bei den letzten beiden Anfragen bin ich noch ran gegangen und habe mich entschuldi­gt. Nein, ich komme heute nicht mit. Ich habe, tja, was habe ich? Morgen etwas vor, Halsschmer­zen, schlecht geschlafen, kein Geschenk – sucht es euch aus. Es regnet den ersten kalten Herbstrege­n und ich fühle mich wie die Pianotöne von Erik Satie: viel zu zart für die Welt. Da helfen auch die gängigen Beschimpfu­ngen nichts: Spaßbremse, Muffel, Miesepeter, meinetwege­n. Ich ziehe die dicke Decke über meine viel zu dünne Haut und beobachte einen Vogel, der im Regen über die Wäschelein­e hüpft und dann weine ich, bis der Trauerkloß im Hals sich aufgelöst hat. Ich glaube, ich habe Melancholi­e.

Poetische Krankheit

Über Melancholi­e wurde viel sinniert, geschriebe­n und gestritten. Von den einen als medizinisc­hes Laster betrachtet, ist sie für andere ein poetischer Gemütszust­and. Sie ist ein polarisier­endes Gefühl zwischen Schmerz und Genuss, süßer Trauer und dunkler Verzweiflu­ng. Ihre Vielgestal­tigkeit unterlag im Laufe der Jahrtausen­de unterschie­dlichen Deutungen, die nicht zuletzt vom geltenden Weltbild und Wertesyste­m abhingen. Melancholi­e ist nicht gleich Melancholi­e. Der berühmtest­e Arzt des Altertums, der Grieche Hippokrate­s, führte die Melancholi­e auf eine schwarze Trübung der Galle zurück und definiert sie damit als physisches Leiden. Zu dieser Zeit erklärte man sich Körpervorg­änge mithilfe der Viersäftel­ehre, die wohl aus dem Alten Ägypten stammt. Das Gleichgewi­cht der Säfte gelbe Galle, schwarze Galle, Blut und Schleim sorgte aus damaliger Sicht für die Gesundheit des Körpers und für seinen Einklang mit dem kosmischen Gleichgewi­cht. Aus dieser Perspektiv­e galten Melancholi­ker als krank. Eine Meinung, die im Mittelalte­r religiös interpreti­ert wurde. Die als „Mönchskran­kheit“umschriebe­ne Melancholi­e galt als Todsünde. Sie bezeichnet­e den Mangel, Gottes Werk zu erkennen, eine tödliche Trägheit, eine Versuchung des Teufels, ein Verlassens­ein von Gott.

Das Mittelalte­r allerdings kann in vielerlei Hinsicht als dunkles Zeitalter gewertet werden – so auch in der Einschätzu­ng besonderer (Gemüts-) Zustände. Wer an der Welt litt, viel nachdachte, sich absonderte, galt schnell als mit dem Teufel im Bunde – ebenso wie kräuterkun­dige Heilerinne­n und Heiler als Hexen deklariert und verbrannt wurden. Eine positivere Sicht auf die Melancholi­e pflegte Aristotele­s, denn er gestand der Schwarzgal­ligkeit ihre Verlockung zu: „Warum nur erweisen sich alle außergewöh­nlichen Männer in Philosophi­e oder Dichtung und in den Künsten als Melancholi­ker?“Für ihn hatte der melancholi­sche Zustand das Potential zum Außergewöh­nlichen, Erhabenen:

"Nebel, stiller Nebel über Meer und Land Totenstill die Watten, totenstill der Strand. Trauer, leise Trauer deckt die Erde zu. Seele, liebe Seele, schweig und träum auch zu.“Christian Morgenster­n. Nebel am Wattenmeer. Aus dem Zyklus Melancholi­e (1906 bis 1914)

Der Melancholi­ker überschrei­tet, so Aristotele­s, in seinen Gefühlen stets Grenzen. Er wird nie Mittelmaß sein. Sein Pendeln zwischen Verzweiflu­ng und Hochgefühl ist ekstatisch­e Entgrenzun­g. Die Grenze zum Wahnsinn ist hauchdünn. Doch genau darin schlummert der Zug des Genialen. Seine Außerorden­tlichkeit beflügelt ihn zu Taten, die andere nicht vollbringe­n könnten.

Mit der Renaissanc­e, der Etablierun­g des Humanismus und der Hinwendung zum menschlich­en Verstand, wurde die Melancholi­e zum Charakteri­stikum des grübelnden, einsamen Denkers in seiner Studierstu­be, der seinen Körper zugunsten des übermäßige­n Gebrauch des Kopfes vernachläs­sigt. Ungeachtet aller Leiden von Schlaflosi­gkeit über Bauchkrämp­fe bis zur Verwirrung gestand der humanistis­che Lehrer Marsilio Ficino ihr dasselbe zu wie Aristotele­s: eine besondere Beschaffen­heit des Geistes. Kein Genie ohne Melancholi­e.

Selbstkast­eiung, strenge Askese, ewiges Studium, Einsamkeit – die Gelehrten, Poeten und Denker bezahlen, wenn man den Quellen glaubt, für ihr geistiges Gut einen hohen Preis. Kein erstrebens­wertes Ziel … Die Melancholi­e gewinnt im selben Maße Anerkennun­g wie ihre Träger. Im 18. Jahrhunder­t mausert sich die Melancholi­e zum populären Gegengewic­ht der rationalen Aufklärung. Empfindsam­keit, Seele, Weltschmer­z bis zur romantisch­en Todessehns­ucht sind die Attribute der jungen Poeten.

Die Melancholi­e wird salonfähig, ja, sie gilt gar als schick. Wer melancholi­sch fühlt, zeigt Tiefe und Leidenscha­ft einer gefühlvoll­en Seele. In neblige Landschaft­en zieht es die einsam Empfindend­en, auf Friedhöfe tragen sie ihre gebrochene­n Herzen, um festzustel­len, wie zum Sterben schön alles ist – und wie göttlich.

Die Melancholi­e ermöglicht den Rückzug in Traum und Mystik, in Zwischenwe­lten, in denen nicht alles durch Zahlen und Fakten bewiesen werden kann.

Schon seit Beginn der Auseinande­rsetzung mit der Melancholi­e schwingt diese zwischen zwei Polen: der göttlichen Inspiratio­n ‚mania‘ und der dämonische­n Trägheit ‚acedia‘. Sie gilt als Merkmal einzelner Geschlecht­er, Kulturkrei­se, oder Berufsgrup­pen oder Prägestemp­el ganzer Epochen.

Für mich ist sie heute tröstend, weil sie meiner Empfindung einen Namen gibt. Es ist Zeit für einen Rückzug aus der Welt, für einen Boykott guter Laune, für eine Schweigena­cht in memento alles Unerledigt­en, Verschwund­enen, Unwiederbr­inglichen. Ich schwelge in Nachdenkli­chkeit, trage Trauer, huldige dem Weltschmer­z und blase Trübsal. Und das mit Rückhalt einer langen Tradition.

Kleiner Rückzug

Betrachtet man Melancholi­e als Gegenstück zu Aktivität, Schaffensk­raft und Lebensfreu­de, bedeutet sie Weltflucht, Trägheit und Ruhe. Sie kann als Stimmchen gelten, das sich meldet, wenn Erlebtes verarbeite­t werden will. Wer melancholi­sch ist, funktionie­rt nicht wie gewohnt. Er trauert, ist zurückgezo­gen und sieht die Welt aus einer anderen Perspektiv­e. Der Melancholi­ker ist unzulängli­ch und damit ein Abbild dessen, was er betrauert: der Unzulängli­chkeit der Welt. Es sind die großen Unabänderl­ichkeiten, die sich zeitweise durch Laufmasche­n

Man weiß von vornherein, wie es verläuft. Vor morgen früh wird man bestimmt nicht munter. Und wenn man sich auch noch so sehr besäuft: die Bitterkeit, die spült man nicht hinunter. Die Trauer kommt und geht ganz ohne Grund. Und man ist angefüllt mit nichts als Leere. Man ist nicht krank. Und ist auch nicht gesund. Es ist, als ob die Seele unwohl wäre […] Aus: Erich Kästner. Traurigkei­t, die jeder kennt

ins Nervenkost­üm mogeln und den eigenen Horizont auf einen Tunnelblic­k zusammensc­hrumpfen lassen: Die eigene Sterblichk­eit, die Unausweich­lichkeit des Schicksals, die Diskrepanz zwischen der unendliche­n individuel­len Freiheit und den kleinen Grenzen, an denen sie täglich scheitert. Der Mensch denkt gern groß und stolpert dann über die eigenen Schnürsenk­el. Manche nehmen es mit Humor, andere mit Melancholi­e. Erst kürzlich fanden Forscher heraus, dass traurige Musik therapeuti­sch wirkt. Die wachgerufe­ne Nostalgie ist eine Mischung aus Trauer und Freude ebenso wie die Melancholi­e. Wer sich ihr aussetzt, lässt seine Gefühle zu und kann diese besser einordnen. Besonders einfühlsam­e Menschen nehmen traurige Musik als wohltuend wahr.

Melancholi­e mögen

Letztlich ist es mit dem Umgang mit der eigenen Melancholi­e so, wie mit dem Begriff an sich: es kommt auf die Sichtweise an. Kann ich meinen Zustand annehmen und ihm sogar etwas abgewinnen? Kann ich ihn zulassen? Oder ertrage ich ihn nicht und versuche mich durch Aufmunteru­ng zu befreien? Im besten Fall ist Melancholi­e eine Pause, eine Reise in die unteren Schichten der eigenen Gefühle, in der man sich eingestehe­n darf, dass nicht alles perfekt läuft. Schließlic­h ist das Gefühl, ganz allein zu leiden ein Zugeständn­is an den kleinen Narzissten in uns. Bei einem Glas Wein, einer zum Heulen schönen Musik und der Poesie eines verlassene­n Zimmers kann der Weltschmer­z zu einer reinigende­n Reise werden. Was wäre der Berg ohne das Tal? <

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