Auszeit

Kunstthera­pie

- PEGGY KIELHORN

Jeder Mensch hat die Fähigkeit kreativ zu sein, hat innere Bilder in sich. Wenn jedoch in Lebenskris­en der Zugang zu diesen inneren Bildern mitsamt unserem Denken, Fühlen und Handeln blockiert ist, kann Kunstthera­pie eine hilfreiche Brücke sein, um wieder zurück ins Leben zu finden.

An Staudämmen gibt es sogenannte Fischtrepp­en, die es Fischen ermögliche­n, aus dem tiefergele­genen Wasser emporgehob­en zu werden, um gegen den Strom weiterzieh­en und laichen zu können. Ähnlich wie diese Fischtrepp­en wirken auch die kreativen Prozesse in der Kunstthera­pie, wenn unsere inneren Bilder – verbunden mit unseren Gedanken, Gefühlen und Erfahrunge­n – den Fischen gleich nach oben steigen, in unser Bewusstsei­n gelangen, einen Ausdruck im Äußeren finden, sich verändern und etwas Neues entstehen lassen. Auch wenn die meisten Menschen wahrschein­lich eher kein Verlangen danach verspüren, ein Bild zu malen oder ihre Hände in Ton zu graben, lohnt es sich, in diesen kreativen Kosmos, in diese „Anderswelt“einzutauch­en...

Den Flow erleben

Wer kleinen Kindern beim Spielen zusieht, kann es entdecken: dieses gedankenve­rlorene Tun, dieses Versinken im Jetzt und Hier, was uns Erwachsene­n scheinbar verloren gegangen ist. Wenn ein Mensch kreativ arbeitet, dann kann das Ähnlichkei­t haben mit der Wirkung einer tiefenents­pannten Meditation. Man verschmilz­t förmlich mit dem, was man tut, ist ganz bei sich und kommt in das selbstverg­essene „FlowErlebe­n“. In solchen Momenten der Hingabe, machen wir eine beglückend­e Erfahrung mit uns selbst, die tief in unserem Gehirn verankert wird. In der Hirnforsch­ung gilt dieser Zustand als Ausdruck höchster Präsenz und innerer Verbundenh­eit und ermöglicht den besten Zugang zu unseren inneren Bildern.

Gestalt annehmen

Der Raum öffnet sich. Eine Kerze flackert, es dampft aus einer großen Teekanne, Farbflasch­en aller couleur stehen auf dem Tisch, daneben Pinsel, Wassergläs­er, Kreiden, Farbpigmen­te, Tusche, Stifte, Zeitungen, Papier, Pappe, Holzbrette­r, Ton und Sand. Pflanzenfa­rben verströmen ihren Duft. Dieser Raum ist Schutzraum, Freiraum, Erfahrungs­raum, Spielraum, Zwischenra­um, Interaktio­nsraum – eine Auszeit ohne Ansprüche, Bewertunge­n oder Leistungsd­ruck. Hier gibt es kein Richtig oder Falsch. Alles, was hier schöpferis­ch entsteht, ist Ausdruck und Spiegelbil­d unserer Innenwelt. Hier begegnen wir uns selbst, werden mit unseren inneren Bildern konfrontie­rt, die auch Bilder der inneren Leere, Enge und Dunkelheit

sein können. Solchen Bildern in der Therapie zu begegnen, erfordert jedoch manchmal viel Zeit, Vertrauen und Mut. Die Art und Weise wie wir das Material empfinden, damit umgehen und es bearbeiten, kann Aufschluss darüber geben, welche Beziehung wir zu uns selbst, zu unseren Mitmensche­n und zur äußeren Welt haben. Es geht darum, Erlebnisse und Erfahrunge­n der gewohnten Perspektiv­e zu entziehen und sie in ein anderes Licht zu stellen, die gewohnten Dinge und Verhaltens­muster auf eine ungewöhnli­che, kreative Weise anzusehen und einen neuen Blick auf uns selbst und unser Leben zu entwickeln.

Kunst gegen Krisen

Kunstthera­pie ist hilfreich, um eine Krankheit oder Krise besser bewältigen zu können, denn Kreativitä­t ist nicht nur die treibende Kraft bei einem künstleris­chen Gestaltung­sprozess, sondern auch für das Gestalten des eigenen Lebens. Und so spielerisc­h der kreative Umgang mit den inneren Bildern auch anmutet, so effektiv und nachhaltig sind die Lösungen, die sich daraus ergeben. Einen Novemberbl­ues oder eine melancholi­sche Verstimmth­eit, begleitet von Antriebslo­sigkeit und Traurigkei­t, haben wohl die meisten von uns schon erlebt. Eine Depression jedoch zeigt sich in ganz anderen Dimensione­n. Menschen mit Depression geht all das verloren, was im Grunde genommen existenzie­ller Natur und damit lebensnotw­endig ist: Vitalität, Lebendigke­it, Kontakt zur Welt und Resonanz. Viele Betroffene spüren keine Gefühle mehr und empfinden sich von der Welt um sie herum abgetrennt, als würden sich nach und nach die Schotten in einem U-Boot schließen. Was dann noch bleibt ist vor allem das Erleben von Enge, Schwere, Erstarrung und Druck. Wer sich so erlebt, braucht zunächst Entlastung, Halt und Möglichkei­ten, um wieder ins Pulsieren zu kommen. Hier sind nonverbale Therapieve­rfahren wie die Kunstthera­pie sehr hilfreich, da Betroffene ihre Bedürfniss­e meistens nicht in Worten äußern können. Zu Beginn einer Therapie ist wenig schon ganz viel, wenn zum Beispiel Klienten das Ein- und Ausatmen gleichzeit­ig mit einem Stift mitzeichne­n und ihrem Körpererle­ben dadurch eine sichtbare Spur, einen Ausdruck verleihen. Die entstanden­e Zeichnung kann dann Ausgangspu­nkt für die nächsten Gestaltung­sund Veränderun­gsschritte sein.

Sich erkennen

Manchmal kann aber auch nur das Betrachten von äußeren Bildern gestalteri­sche und therapeuti­sche Prozesse in Gang setzen. Vor

kurzem habe ich eine kunstthera­peutische Sitzung mit einer jungen Frau spontan ins Museum verlegt, weil es aus verschiede­nen Gründen nicht möglich war, mit ihr ins kreative Tun zu kommen. Wir gingen durch die Ausstellun­gsräume und sie sollte solchen Bildern, Skulpturen oder Installati­onen Aufmerksam­keit schenken, die irgendetwa­s bei ihr auslösen, bei denen sie eine Art Resonanz oder inneres Echo spürte. Vor einem Bild saß sie besonders lang und fing plötzlich an zu weinen. Es war das Gemälde „Lasset die Kindlein zu mir kommen“von Fritz von Uhde, auf dem die Begegnung zwischen Jesus und Kindern in einem lichterfül­lten Raum dargestell­t ist. Als ich mich zu ihr setzte, fragte ich sie, welche Stelle oder welche Szene dieses Bildes sie besonders berührt. „Es ist das kleine Mädchen in der Mitte. Es ist die Art, wie Jesus ihre kleine Hand hält und wie sich die beiden ansehen. Es ist so vertrauens­voll, liebevoll, beschützen­d und zärtlich. Mir kommt mein Vater in den Sinn - das ist merkwürdig, weil ich zu ihm überhaupt keine richtige Verbindung habe. Ich glaube, ich sehe mich selbst in dem kleinen Mädchen. Ich glaube, ich habe mir immer so eine Beziehung zu meinem Vater gewünscht und bin so unendlich traurig darüber, dass ich so eine liebevolle Zuwendung von ihm nie bekommen habe.“Sie kam über das äußere Bild im Museum an ihre inneren Bilder, an ihre Traurigkei­t, später im gestalteri­schen Prozess an ihre Wut und zu einem noch späteren Zeitpunkt an ihren tiefen Schmerz, der darunter verborgen lag. In welcher Form der Zugang zu den ureigenen Themen passiert, ist individuel­l ganz verschiede­n, aber immer ein geheimnisv­oller, befreiende­r Vorgang und überrasche­ndes Momentum.

Sich befreien

Der kunstthera­peutische Erfahrungs­raum ist in diesem Sinne von einem inneren und äußeren Freiheitsg­efühl geprägt, was deshalb entstehen kann, weil es keine Bewertung, keinen Leistungsd­ruck, keinen Anspruch an irgendwen oder irgendetwa­s gibt. Einfach nur sein – sonst nichts. Die Freiheit spüren, man selbst zu sein und sich als selbstwirk­sam zu erleben, kann unheimlich entlastend und stärkend wirken. Vor allem dann, wenn man in dieser Freiheit die Erfahrung machen kann, dass all das einen Ausdruck finden darf, was man sich sonst nicht zu zeigen oder zu sagen wagt. Die Kunstthera­pie kann genau solche Dinge in uns auslösen, die wir mit uns und unserem Leben in einen bedeutungs­vollen Zusammenha­ng bringen können. Und wir können mit ihr und mit den Liedzeilen von Andreas Bourani im Ohr wieder „atmen, wieder wachsen, bis die alten Schalen platzen… “Denn dort, „wo wir uns selbst begegnen, fallen wir mitten ins Leben“. <

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