Kunsttherapie
Jeder Mensch hat die Fähigkeit kreativ zu sein, hat innere Bilder in sich. Wenn jedoch in Lebenskrisen der Zugang zu diesen inneren Bildern mitsamt unserem Denken, Fühlen und Handeln blockiert ist, kann Kunsttherapie eine hilfreiche Brücke sein, um wieder zurück ins Leben zu finden.
An Staudämmen gibt es sogenannte Fischtreppen, die es Fischen ermöglichen, aus dem tiefergelegenen Wasser emporgehoben zu werden, um gegen den Strom weiterziehen und laichen zu können. Ähnlich wie diese Fischtreppen wirken auch die kreativen Prozesse in der Kunsttherapie, wenn unsere inneren Bilder – verbunden mit unseren Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen – den Fischen gleich nach oben steigen, in unser Bewusstsein gelangen, einen Ausdruck im Äußeren finden, sich verändern und etwas Neues entstehen lassen. Auch wenn die meisten Menschen wahrscheinlich eher kein Verlangen danach verspüren, ein Bild zu malen oder ihre Hände in Ton zu graben, lohnt es sich, in diesen kreativen Kosmos, in diese „Anderswelt“einzutauchen...
Den Flow erleben
Wer kleinen Kindern beim Spielen zusieht, kann es entdecken: dieses gedankenverlorene Tun, dieses Versinken im Jetzt und Hier, was uns Erwachsenen scheinbar verloren gegangen ist. Wenn ein Mensch kreativ arbeitet, dann kann das Ähnlichkeit haben mit der Wirkung einer tiefenentspannten Meditation. Man verschmilzt förmlich mit dem, was man tut, ist ganz bei sich und kommt in das selbstvergessene „FlowErleben“. In solchen Momenten der Hingabe, machen wir eine beglückende Erfahrung mit uns selbst, die tief in unserem Gehirn verankert wird. In der Hirnforschung gilt dieser Zustand als Ausdruck höchster Präsenz und innerer Verbundenheit und ermöglicht den besten Zugang zu unseren inneren Bildern.
Gestalt annehmen
Der Raum öffnet sich. Eine Kerze flackert, es dampft aus einer großen Teekanne, Farbflaschen aller couleur stehen auf dem Tisch, daneben Pinsel, Wassergläser, Kreiden, Farbpigmente, Tusche, Stifte, Zeitungen, Papier, Pappe, Holzbretter, Ton und Sand. Pflanzenfarben verströmen ihren Duft. Dieser Raum ist Schutzraum, Freiraum, Erfahrungsraum, Spielraum, Zwischenraum, Interaktionsraum – eine Auszeit ohne Ansprüche, Bewertungen oder Leistungsdruck. Hier gibt es kein Richtig oder Falsch. Alles, was hier schöpferisch entsteht, ist Ausdruck und Spiegelbild unserer Innenwelt. Hier begegnen wir uns selbst, werden mit unseren inneren Bildern konfrontiert, die auch Bilder der inneren Leere, Enge und Dunkelheit
sein können. Solchen Bildern in der Therapie zu begegnen, erfordert jedoch manchmal viel Zeit, Vertrauen und Mut. Die Art und Weise wie wir das Material empfinden, damit umgehen und es bearbeiten, kann Aufschluss darüber geben, welche Beziehung wir zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen und zur äußeren Welt haben. Es geht darum, Erlebnisse und Erfahrungen der gewohnten Perspektive zu entziehen und sie in ein anderes Licht zu stellen, die gewohnten Dinge und Verhaltensmuster auf eine ungewöhnliche, kreative Weise anzusehen und einen neuen Blick auf uns selbst und unser Leben zu entwickeln.
Kunst gegen Krisen
Kunsttherapie ist hilfreich, um eine Krankheit oder Krise besser bewältigen zu können, denn Kreativität ist nicht nur die treibende Kraft bei einem künstlerischen Gestaltungsprozess, sondern auch für das Gestalten des eigenen Lebens. Und so spielerisch der kreative Umgang mit den inneren Bildern auch anmutet, so effektiv und nachhaltig sind die Lösungen, die sich daraus ergeben. Einen Novemberblues oder eine melancholische Verstimmtheit, begleitet von Antriebslosigkeit und Traurigkeit, haben wohl die meisten von uns schon erlebt. Eine Depression jedoch zeigt sich in ganz anderen Dimensionen. Menschen mit Depression geht all das verloren, was im Grunde genommen existenzieller Natur und damit lebensnotwendig ist: Vitalität, Lebendigkeit, Kontakt zur Welt und Resonanz. Viele Betroffene spüren keine Gefühle mehr und empfinden sich von der Welt um sie herum abgetrennt, als würden sich nach und nach die Schotten in einem U-Boot schließen. Was dann noch bleibt ist vor allem das Erleben von Enge, Schwere, Erstarrung und Druck. Wer sich so erlebt, braucht zunächst Entlastung, Halt und Möglichkeiten, um wieder ins Pulsieren zu kommen. Hier sind nonverbale Therapieverfahren wie die Kunsttherapie sehr hilfreich, da Betroffene ihre Bedürfnisse meistens nicht in Worten äußern können. Zu Beginn einer Therapie ist wenig schon ganz viel, wenn zum Beispiel Klienten das Ein- und Ausatmen gleichzeitig mit einem Stift mitzeichnen und ihrem Körpererleben dadurch eine sichtbare Spur, einen Ausdruck verleihen. Die entstandene Zeichnung kann dann Ausgangspunkt für die nächsten Gestaltungsund Veränderungsschritte sein.
Sich erkennen
Manchmal kann aber auch nur das Betrachten von äußeren Bildern gestalterische und therapeutische Prozesse in Gang setzen. Vor
kurzem habe ich eine kunsttherapeutische Sitzung mit einer jungen Frau spontan ins Museum verlegt, weil es aus verschiedenen Gründen nicht möglich war, mit ihr ins kreative Tun zu kommen. Wir gingen durch die Ausstellungsräume und sie sollte solchen Bildern, Skulpturen oder Installationen Aufmerksamkeit schenken, die irgendetwas bei ihr auslösen, bei denen sie eine Art Resonanz oder inneres Echo spürte. Vor einem Bild saß sie besonders lang und fing plötzlich an zu weinen. Es war das Gemälde „Lasset die Kindlein zu mir kommen“von Fritz von Uhde, auf dem die Begegnung zwischen Jesus und Kindern in einem lichterfüllten Raum dargestellt ist. Als ich mich zu ihr setzte, fragte ich sie, welche Stelle oder welche Szene dieses Bildes sie besonders berührt. „Es ist das kleine Mädchen in der Mitte. Es ist die Art, wie Jesus ihre kleine Hand hält und wie sich die beiden ansehen. Es ist so vertrauensvoll, liebevoll, beschützend und zärtlich. Mir kommt mein Vater in den Sinn - das ist merkwürdig, weil ich zu ihm überhaupt keine richtige Verbindung habe. Ich glaube, ich sehe mich selbst in dem kleinen Mädchen. Ich glaube, ich habe mir immer so eine Beziehung zu meinem Vater gewünscht und bin so unendlich traurig darüber, dass ich so eine liebevolle Zuwendung von ihm nie bekommen habe.“Sie kam über das äußere Bild im Museum an ihre inneren Bilder, an ihre Traurigkeit, später im gestalterischen Prozess an ihre Wut und zu einem noch späteren Zeitpunkt an ihren tiefen Schmerz, der darunter verborgen lag. In welcher Form der Zugang zu den ureigenen Themen passiert, ist individuell ganz verschieden, aber immer ein geheimnisvoller, befreiender Vorgang und überraschendes Momentum.
Sich befreien
Der kunsttherapeutische Erfahrungsraum ist in diesem Sinne von einem inneren und äußeren Freiheitsgefühl geprägt, was deshalb entstehen kann, weil es keine Bewertung, keinen Leistungsdruck, keinen Anspruch an irgendwen oder irgendetwas gibt. Einfach nur sein – sonst nichts. Die Freiheit spüren, man selbst zu sein und sich als selbstwirksam zu erleben, kann unheimlich entlastend und stärkend wirken. Vor allem dann, wenn man in dieser Freiheit die Erfahrung machen kann, dass all das einen Ausdruck finden darf, was man sich sonst nicht zu zeigen oder zu sagen wagt. Die Kunsttherapie kann genau solche Dinge in uns auslösen, die wir mit uns und unserem Leben in einen bedeutungsvollen Zusammenhang bringen können. Und wir können mit ihr und mit den Liedzeilen von Andreas Bourani im Ohr wieder „atmen, wieder wachsen, bis die alten Schalen platzen… “Denn dort, „wo wir uns selbst begegnen, fallen wir mitten ins Leben“. <