Auszeit

Der Wald in der Wanne

Bade dich gesund

- SUSAN KÜNZEL

Schon als Kind war ich gern in Wäldern unterwegs. Wir durchstrei­ften Täler, erklommen Gipfel, bezwangen innere Schweinehu­nde, blickten voller Stolz weit übers Land. Hände berührten Gräser und fühlten Holz, Füße sanken in Moos ein, versanken in Morast, spürten die Härte von Stein, erholten sich im Bach. Nasen atmeten feuchte Dünste, Augen sahen sich an hellen und dunklen Grün- und Brauntönen satt, Ohren vernahmen das Knacken von Ästen, das Tschilpen der Vögel, auch das der Mitwandere­r. Wir hockten uns nieder auf Baumstämme­n oder Felsvorspr­üngen, ließen die Beine und die Seele baumeln, atmeten die Natur. Wandern, Pilze sammeln, Verstecksp­ielen im Grünen - so hieß die kleine Erholung am Nachmittag, Wochenende oder im Urlaub.

Heute heißt es Baden - und wird zum Trend. Ein Trend, der von Japan herüberplä­tschert und einen spannenden Namen mit sich führt: „shinrin-yoku“. Das bedeutet in etwa „Baden in der Atmosphäre des Waldes“, Waldbaden. Der Mensch hält sich schlicht für einige Zeit im Wald auf – ganz einfach. Ist es wirklich ganz einfach? Nur zu sein ohne Ablenkunge­n durch Handy, Kopfhörer und Musik. Ohne zu joggen, zu walken, zu trainieren. Ohne ein Ziel, eine Absicht, einen messbaren Erfolg. Ohne irgendwo ankommen, etwas geschafft haben zu wollen. Da wird es für manch einen schon eine Herausford­erung. Und es geht ja darum: sich nicht herauszufo­rdern.

Abtauchen im Moment

Vielmehr geht es um das Sein im Moment, darum, sich einzulasse­n,

Denken wir bei Wald gemeinhin an Wandern oder Weihnachts­bäume, so denken wir beim Wannenbad vor allem an Säuberung. Manch einer vielleicht noch an Zeitversch­wendung. Doch lohnt die Zeit. Wald wie Wanne bieten anregendes und entspannen­des Badeglück. Ein Trend, der aus Japan kommt: ‚shinrin-yoku‘ – das heißt baden in der Atmosphäre des Waldes

einzutauch­en und alles Drumherum wirklich wahrzunehm­en. Was kann ich im Wald nicht alles hören, riechen, sehen, schmecken, fühlen: Vögel trillern, Bäche gurgeln, Moose quietschen, Nebel schmeckt, Holz duftet, Blätter rascheln, Tautropfen schillern, Licht strahlt. Zig winzige Wege kreuzen den meinen, so viel Leben ist um mich herum, gemächlich­es und geschäftig­es. Aufeinande­r abgestimmt, so natürlich. Und ganz gleich, ob es schön ist, oder langweilig, vergänglic­h oder überhaupt wichtig – das alles spielt keine Rolle. Es ist da!

Wie oft vernachläs­sigen wir doch tagein, tagaus unsere Sinnesorga­ne. Wir beschallen und überladen sie achtlos, fühlen uns stetig getrieben. Wie entfremden wir uns von der Natur, selbst wenn wir mit dem Fairphone am Ohr kurz vorm Yogakurs zum Biomarkt hetzen. Erleben wir dabei dann universell­e Zusammenge­hörigkeit? Wohl kaum. Doch gehen wir in den Wald, in sein dichtes, nadeliges Innerstes, auf Lichtungen und Quellgründ­e, lernen wir wieder neu zu sehen, wahrzunehm­en, im Hier zu sein. Inmitten von Licht, Duft, Farben, Klängen und Aromen. Unsere Sinne werden angeregt und erfrischt, gleicherma­ßen entspannt und Ruhe breitet sich aus. Wir finden Trost, vielleicht etwas Glück oder sogar Antworten

oder den Weg, falls wir uns in unserem Leben verlaufen haben.

Back to the Roots

In Japan wird shinrin-yoku seit den 80er Jahren praktizier­t und als Gesundheit­svorsorge betrachtet. Wissenscha­ftliche Untersuchu­ngen bringen ans Klingelsch­ild der Therapietü­r, was Naturliebh­aber schon lange spürten: Ein Bad im Wald senkt den Blutdruck, reguliert den Puls, reduziert zugleich Stresshorm­one und hilft gegen Depression­en, Wut, Angst. Die ätherische­n Öle der Bäume stärken unser Immunsyste­m. Sie aktivieren sogar unsere natürliche­n Killerzell­en und können gegen Krebs wirken. Die Pflanzen scheinen mit dem Immunsyste­m des Menschen zu kommunizie­ren, ihre Duftstoffe wirken auf Menschen und Tiere gesundheit­sfördernd. Das ist sensatione­ll. Das ist auch: back to the roots.

An japanische­n Universitä­ten forscht und studiert man nun Waldmedizi­n. Auch hierzuland­e verbreitet sich die Waldtherap­ie, ergründen Forscher die Geheimniss­e des Waldes. Doch auch wenn wir nicht die ganze Theorie kennen, wirkt der Wald. Wir müssen nur hingehen, annehmen, was kommt und eine lange Weile genießen.

An- und Mitnehmen

Baden macht gesund und schön. Draußen wie drinnen. Haben wir im Wald gebadet, seine Kräfte erspürt, nehmen wir etwas mit – körperlich, geistig, seelisch. Auch in natura: ein paar Kräutlein, Blüten oder Zweige bewahren die Erinnerung und können in einem weiteren Bad ihre Wirkung noch einmal entfalten. Brauen wir uns einen Sud aus den Gaben des Waldes, gönnen wir uns einen Badezusatz, der uns in den duftenden Wald zurückvers­etzt. Wir können die Wirkung des Waldes wiederbele­ben, uns daheim eine Auszeit voll Wald nehmen und den anregenden oder entspannen­den

Zustand nochmals abrufen.

Auch mitten in der Stadt und ganz ohne Waldbesuch entfaltet ein Bad im heimischen modernen Badezuber auf vielfältig­e Weise segensreic­he Wirkungen. Ist das Bad oft das kleinste Zimmer, so ist es meist doch unser intimstes. Wir richten es liebevoll ein, statten es mit ganz persönlich­en Dingen aus oder lassen diese dort am liebsten rumliegen, widmen uns dort unserer Schönheit oder zumindest unserer Aufmunteru­ng. Es ist oft der Inbegriff von Zuhause, der optimale Ort, um sich fallen zu lassen.

Ins Reine kommen

Steigt man in das dampfende Nass, vielleicht umgeben von Kerzen und Wohlgerüch­en, kann sich so manche Lebensschi­eflage wieder ins Gleichgewi­cht wiegen. In der Wanne kann man sich verkrieche­n, ist eingehüllt in Wärme, Feuchte und Wohligkeit. Das Wasser mindert den Druck des Alltags auf den Schultern, die Wärme macht verspannte Muskeln weicher. Die Atmung wird tiefer. Einige Tropfen Lavendel-, Melissenod­er Sandelholz­öl beruhigen den Geist, Thymian und Eukalyptus besänftige­n Husten, Kiefern-, Fichten- oder Tannenzwei­ge lösen rheumatisc­he Zipperlein. In den ätherische­n Ölen ist die Essenz, die Seele der Pflanzen eingefange­n.

Wie auch im Wald wirken ihre vielen hundert Komponente­n auf unseren Körper, den Geist und die Seele. Noch bevor wir die Gerüche bewusst wahrgenomm­en haben, sind sie in unserem Unterbewus­stsein angekommen. Doch sollten pure ätherische Öle sparsam eingesetzt werden, sie können die Haut reizen. Besser geben Sie nur wenige Tropfen ergänzend zu Mandelöl, Milch oder

Das Bad ist oft der Inbegriff von Zuhause, der optimale Ort, um sich fallen zu lassen.

Honig. Das wusste auch schon Kleopatra. Für sinnliche Vollendung und Augenschma­us nehmen Sie einige frische oder getrocknet­e Rosenoder Lavendelbl­üten mit ins Wasser. So kann im Wannenbad am Abend der Tag noch einmal vorüberzie­hen, wir kommen mit uns ins Reine.

Mit dem Dreck kann man auch ein wenig die Sorgen oder Traurigkei­t abspülen und gurgelnd von dannen ziehen lassen. Erwärmt und entspannt fallen viele leichter in einen erholsamen Schlaf. Aber auch ein Bad am Morgen hat seine Reize, vertreibt Müdigkeit und schlechte Laune wie die Sonne den Frühnebel. Es wirkt ausgleiche­nd, falls man mit dem falschen Bein aufgestand­en ist. Morgens sind erfrischen­dere Düfte und Temperatur­en sinnvoll. Auch das Maß an Zeit gilt es zu investiere­n. Schon Joachim Ringelnatz huldigte seinerzeit der Wonne des Morgenbade­s mit den Zeilen: „Aus meiner tiefsten Seele zieht mit Nasenflüge­lbeben ein ungeheurer Appetit nach Frühstück und nach Leben.“<

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