Der Wald in der Wanne
Bade dich gesund
Schon als Kind war ich gern in Wäldern unterwegs. Wir durchstreiften Täler, erklommen Gipfel, bezwangen innere Schweinehunde, blickten voller Stolz weit übers Land. Hände berührten Gräser und fühlten Holz, Füße sanken in Moos ein, versanken in Morast, spürten die Härte von Stein, erholten sich im Bach. Nasen atmeten feuchte Dünste, Augen sahen sich an hellen und dunklen Grün- und Brauntönen satt, Ohren vernahmen das Knacken von Ästen, das Tschilpen der Vögel, auch das der Mitwanderer. Wir hockten uns nieder auf Baumstämmen oder Felsvorsprüngen, ließen die Beine und die Seele baumeln, atmeten die Natur. Wandern, Pilze sammeln, Versteckspielen im Grünen - so hieß die kleine Erholung am Nachmittag, Wochenende oder im Urlaub.
Heute heißt es Baden - und wird zum Trend. Ein Trend, der von Japan herüberplätschert und einen spannenden Namen mit sich führt: „shinrin-yoku“. Das bedeutet in etwa „Baden in der Atmosphäre des Waldes“, Waldbaden. Der Mensch hält sich schlicht für einige Zeit im Wald auf – ganz einfach. Ist es wirklich ganz einfach? Nur zu sein ohne Ablenkungen durch Handy, Kopfhörer und Musik. Ohne zu joggen, zu walken, zu trainieren. Ohne ein Ziel, eine Absicht, einen messbaren Erfolg. Ohne irgendwo ankommen, etwas geschafft haben zu wollen. Da wird es für manch einen schon eine Herausforderung. Und es geht ja darum: sich nicht herauszufordern.
Abtauchen im Moment
Vielmehr geht es um das Sein im Moment, darum, sich einzulassen,
Denken wir bei Wald gemeinhin an Wandern oder Weihnachtsbäume, so denken wir beim Wannenbad vor allem an Säuberung. Manch einer vielleicht noch an Zeitverschwendung. Doch lohnt die Zeit. Wald wie Wanne bieten anregendes und entspannendes Badeglück. Ein Trend, der aus Japan kommt: ‚shinrin-yoku‘ – das heißt baden in der Atmosphäre des Waldes
einzutauchen und alles Drumherum wirklich wahrzunehmen. Was kann ich im Wald nicht alles hören, riechen, sehen, schmecken, fühlen: Vögel trillern, Bäche gurgeln, Moose quietschen, Nebel schmeckt, Holz duftet, Blätter rascheln, Tautropfen schillern, Licht strahlt. Zig winzige Wege kreuzen den meinen, so viel Leben ist um mich herum, gemächliches und geschäftiges. Aufeinander abgestimmt, so natürlich. Und ganz gleich, ob es schön ist, oder langweilig, vergänglich oder überhaupt wichtig – das alles spielt keine Rolle. Es ist da!
Wie oft vernachlässigen wir doch tagein, tagaus unsere Sinnesorgane. Wir beschallen und überladen sie achtlos, fühlen uns stetig getrieben. Wie entfremden wir uns von der Natur, selbst wenn wir mit dem Fairphone am Ohr kurz vorm Yogakurs zum Biomarkt hetzen. Erleben wir dabei dann universelle Zusammengehörigkeit? Wohl kaum. Doch gehen wir in den Wald, in sein dichtes, nadeliges Innerstes, auf Lichtungen und Quellgründe, lernen wir wieder neu zu sehen, wahrzunehmen, im Hier zu sein. Inmitten von Licht, Duft, Farben, Klängen und Aromen. Unsere Sinne werden angeregt und erfrischt, gleichermaßen entspannt und Ruhe breitet sich aus. Wir finden Trost, vielleicht etwas Glück oder sogar Antworten
oder den Weg, falls wir uns in unserem Leben verlaufen haben.
Back to the Roots
In Japan wird shinrin-yoku seit den 80er Jahren praktiziert und als Gesundheitsvorsorge betrachtet. Wissenschaftliche Untersuchungen bringen ans Klingelschild der Therapietür, was Naturliebhaber schon lange spürten: Ein Bad im Wald senkt den Blutdruck, reguliert den Puls, reduziert zugleich Stresshormone und hilft gegen Depressionen, Wut, Angst. Die ätherischen Öle der Bäume stärken unser Immunsystem. Sie aktivieren sogar unsere natürlichen Killerzellen und können gegen Krebs wirken. Die Pflanzen scheinen mit dem Immunsystem des Menschen zu kommunizieren, ihre Duftstoffe wirken auf Menschen und Tiere gesundheitsfördernd. Das ist sensationell. Das ist auch: back to the roots.
An japanischen Universitäten forscht und studiert man nun Waldmedizin. Auch hierzulande verbreitet sich die Waldtherapie, ergründen Forscher die Geheimnisse des Waldes. Doch auch wenn wir nicht die ganze Theorie kennen, wirkt der Wald. Wir müssen nur hingehen, annehmen, was kommt und eine lange Weile genießen.
An- und Mitnehmen
Baden macht gesund und schön. Draußen wie drinnen. Haben wir im Wald gebadet, seine Kräfte erspürt, nehmen wir etwas mit – körperlich, geistig, seelisch. Auch in natura: ein paar Kräutlein, Blüten oder Zweige bewahren die Erinnerung und können in einem weiteren Bad ihre Wirkung noch einmal entfalten. Brauen wir uns einen Sud aus den Gaben des Waldes, gönnen wir uns einen Badezusatz, der uns in den duftenden Wald zurückversetzt. Wir können die Wirkung des Waldes wiederbeleben, uns daheim eine Auszeit voll Wald nehmen und den anregenden oder entspannenden
Zustand nochmals abrufen.
Auch mitten in der Stadt und ganz ohne Waldbesuch entfaltet ein Bad im heimischen modernen Badezuber auf vielfältige Weise segensreiche Wirkungen. Ist das Bad oft das kleinste Zimmer, so ist es meist doch unser intimstes. Wir richten es liebevoll ein, statten es mit ganz persönlichen Dingen aus oder lassen diese dort am liebsten rumliegen, widmen uns dort unserer Schönheit oder zumindest unserer Aufmunterung. Es ist oft der Inbegriff von Zuhause, der optimale Ort, um sich fallen zu lassen.
Ins Reine kommen
Steigt man in das dampfende Nass, vielleicht umgeben von Kerzen und Wohlgerüchen, kann sich so manche Lebensschieflage wieder ins Gleichgewicht wiegen. In der Wanne kann man sich verkriechen, ist eingehüllt in Wärme, Feuchte und Wohligkeit. Das Wasser mindert den Druck des Alltags auf den Schultern, die Wärme macht verspannte Muskeln weicher. Die Atmung wird tiefer. Einige Tropfen Lavendel-, Melissenoder Sandelholzöl beruhigen den Geist, Thymian und Eukalyptus besänftigen Husten, Kiefern-, Fichten- oder Tannenzweige lösen rheumatische Zipperlein. In den ätherischen Ölen ist die Essenz, die Seele der Pflanzen eingefangen.
Wie auch im Wald wirken ihre vielen hundert Komponenten auf unseren Körper, den Geist und die Seele. Noch bevor wir die Gerüche bewusst wahrgenommen haben, sind sie in unserem Unterbewusstsein angekommen. Doch sollten pure ätherische Öle sparsam eingesetzt werden, sie können die Haut reizen. Besser geben Sie nur wenige Tropfen ergänzend zu Mandelöl, Milch oder
Das Bad ist oft der Inbegriff von Zuhause, der optimale Ort, um sich fallen zu lassen.
Honig. Das wusste auch schon Kleopatra. Für sinnliche Vollendung und Augenschmaus nehmen Sie einige frische oder getrocknete Rosenoder Lavendelblüten mit ins Wasser. So kann im Wannenbad am Abend der Tag noch einmal vorüberziehen, wir kommen mit uns ins Reine.
Mit dem Dreck kann man auch ein wenig die Sorgen oder Traurigkeit abspülen und gurgelnd von dannen ziehen lassen. Erwärmt und entspannt fallen viele leichter in einen erholsamen Schlaf. Aber auch ein Bad am Morgen hat seine Reize, vertreibt Müdigkeit und schlechte Laune wie die Sonne den Frühnebel. Es wirkt ausgleichend, falls man mit dem falschen Bein aufgestanden ist. Morgens sind erfrischendere Düfte und Temperaturen sinnvoll. Auch das Maß an Zeit gilt es zu investieren. Schon Joachim Ringelnatz huldigte seinerzeit der Wonne des Morgenbades mit den Zeilen: „Aus meiner tiefsten Seele zieht mit Nasenflügelbeben ein ungeheurer Appetit nach Frühstück und nach Leben.“<