FREIE LIEBE Wie viel Wahrheit verträgt die Partnerschaft?
Können unsere Liebesbeziehungen freier sein, ohne unverbindlich zu werden? Können, dürfen wir zugeben, dass doch etwas mehr passiert ist mit der neuen Kollegin? Wieviel Freiheit, wie viel Wahrheit verträgt die Liebe? Und wie viel braucht sie?
Gegenfrage: Kann Liebe überhaupt „unfrei“sein? Kann unter Verhältnissen von Heimlichtuerei, Druck und Verstellung Liebe gedeihen? Denn überall wird dieselbe Geschichte berichtet: die Geschichte von Trennungsschmerz, Beziehungsöde oder Eifersuchtsdrama. Fast, als sei das Schönste der Welt zur Quelle von Verzweiflung geworden. Sabine Lichtenfels, die als Gründerin der Globalen Liebesschule von Tamera zahllose Liebespaare berät, kommt zu dem Schluss: „In unserer Kultur nennen wir etwas Liebe, das keine Liebe ist.“
Gefangen im Gestern
„Die Frisuren sind galaktisch geworden, aber in der Liebe träumt die Turnschuhgeneration unserer Zeit immer noch den Traum ihrer Großeltern“, schreibt Dieter Duhm in seinem Buch „Der unerlöste Eros“. Und der heißt ungefähr so: Es gibt den einen idealen Menschen für mich, und es kommt darauf an, ihn zu finden, festzuhalten und nie wieder loszulassen. Heute entscheiden sich die meisten für serielle Monogamie, für Traumpartner mit Ablaufdatum. Wenigstens solange es dauert, wollen wir die Illusion des Ein und Einzigen aufrechterhalten. Wenn wir uns verlieben, steht der Geliebte so unverrückbar im Mittelpunkt unseres Daseins, dass der Gedanke, wieder ohne ihn leben zu müssen, zu schlimm ist, um ihn
„LIEBE NUR MICH!“DIESE FORDERUNG IST UNMÖGLICH UMZUSETZEN. AB HIER BEGINNT DAS GANZE BEZIEHUNGSDRAMA.
auszuhalten. Und so versuchen wir, uns seiner Treue zu versichern. „Liebe nur mich!“Diese Forderung ist unmöglich umzusetzen. Ab hier beginnt das ganze Beziehungsdrama. Gestern hat er mir einen Kaffee ans Bett gebracht, warum nicht heute? Hat ihm die Nacht vielleicht nicht gefallen? Habe ich mich zu sehr, zu wenig geöffnet, war ich zu prüde, zu ordinär? Denkt er an eine andere? Nein, nein, nein, das darf er nicht. Es entsteht ein unausgesprochenes Vertragssystem, und bevor wir uns versehen, haben wir einen Käfig von Reaktionsmustern errichtet, in dem keine spontane Regung mehr möglich ist. Je mehr wir den Geliebten klammern, desto weniger Liebe fließt zwischen uns. Je weniger Liebe fließt, desto größer wird die Panik, desto mehr umklammern wir ihn. In diesem Teufelskreis verabschiedet sich die Liebe. Und irgendwann mit 30 oder 50 stellt man fest: Ich habe mich schon lange nicht mehr verliebt. Spätestens jetzt ist es Zeit, neu nachzudenken.
Unter welchen Voraussetzungen können wir beidem folgen – der Sehnsucht nach Partnerschaft ebenso wie der Lust auf Abenteuer? Gibt es Treue ohne sexuelle Ausschließlichkeit? Wie erhalten unsere Liebesbeziehungen Dauer über alle Höhen und Tiefen hinweg – auch durch die Zeiten hindurch, wo man jemand anderen einmal mehr begehrt als den eigenen Partner?
Die Kunst, frei zu sein
Freie Liebe, Motto der 60er Jahre, brach damals so viele Herzen, dass die meisten Sex-Rebellen reumütig in die Ehehäfen zurückkehrten. Doch die Sehnsucht nach Wahrheit und Freiheit in der Liebe blieb. Mittlerweile hat die PolyamorieBewegung aus den USA hat auf deutsche Städte übergegriffen: Man darf mehrere lieben, und zwar offen. Und man versucht, behutsamer und fairer miteinander umzugehen und sich an Regeln zu halten, um den anderen nicht zu verletzen. Rita, 27, und Sebastian, 26, aus Köln sind seit zwei Jahren ein überzeugtes Polyamorie-Paar. Sie leben in einer renovierten Altbauwohnung, sind berufstätig, häuslich, kochen gern – und lieben sexuelle Offenheit. Dazu besuchen sie entsprechende Partys, aber haben auch beide regelmäßige Liebhaber. Sebastian mag dabei auch Männer. Gibt es tatsächlich nie Eifersucht zwischen ihnen?
„Nein“, sagt Sebastian. Und auch Rita sagt: „Im Gegenteil. Dadurch dass wir voneinander wissen, was uns gefällt, können wir alles miteinander teilen, das bringt uns noch mehr zusammen.“
Bedingung dafür ist absolute Offenheit. Wie wäre es aber für Rita und Sebastian, wenn sich einer von beiden richtig neu verliebt? Haben sie keine Angst, einander zu verlieren? In schwierigere Situation kamen sie, so Rita, als sie ihre Partner noch außerhalb der Polyamorie-Szene suchten. Da gab es schon mal Missverständnisse und falsche Erwartungen. Seitdem konzentrieren sie sich auf Camps und Partys der Szene, wo alle Teilnehmer unter den gleichen Voraussetzungen dabei sind. Ganz von selbst entstehen Liebesnetzwerke aus Singles, Paaren und Gruppen – man kennt sich und respektiert die Regeln.
Als der „Spiegel“vor einigen Wochen über freie Liebe schrieb, reagierte ein Leser empört: „Schön und gut, solange man allein ist.
Aber wenn Kinder kommen, ist es unverantwortlich.“Das stimmt nicht unbedingt. Erfahrungen exotischer Kulturen zeigen, dass Kinder sehr gut mit einer alternativen Liebespraxis umgehen können. Im Volk der Mosuo zum Beispiel wählt sich die Frau frei ihre Partner – und bleibt auch nach einer Heirat im Haus der Mutter. Ihre Brüder sind die sozialen Väter ihrer Kinder, zuständig für alles Alltägliche. Der leibliche Vater ist der Besuchsvater, der seine Kinder inspiriert und begeistert, frei von jeder Alltagslast. Es ist ein System, in dem auch eine Scheidung für die Kinder ohne tiefes Leid geschehen kann – anders als im westlichen Ehe-Modell.
Sich vertrauen
Egal, wie man sie organisiert: Der Schlüssel für das Gelingen freier Liebe ist Vertrauen. Zu dem Schluss kommt die Gemeinschaft von Tamera in Portugal. Jegliche Form der sexuellen Liebe unter Erwachsenen, ob innerhalb oder außerhalb einer Partnerschaft, polygam oder monogam, wird begrüßt und von der Gemeinschaft unterstützt. Dr. Dieter Duhm, Mitgründer von Tamera: „Wir brauchen ein System des menschlichen Zusammenlebens, in dem sich die Menschen wieder vertrauen können. Ein System, in dem Lüge und Betrug keinen evolutionären Vorteil mehr bieten. Ein System, wo die sexuelle Beziehung eines Menschen zu einem anderen in einem Dritten keine Angst und keinen Hass mehr hervorruft.“
Wer in einer Gemeinschaft lebt, befriedigende Kontakte mit mehreren Menschen hat und soziale und wirtschaftliche Sicherheit genießt, dessen Partnerschaft ist weniger belastet von überzogenen Erwartungen. Einige Paare, die schon kurz vor der Trennung standen und als letzten Ausweg nach Tamera kamen, fanden in dieser Atmosphäre wieder zusammen – teilweise als Liebespaare, teilweise wenigstens als verantwortungsvolle Eltern.
Clara, 34, Mutter zweier Kinder: „Niemand kann verlangen, dass ein Partner einen immer am allermeisten liebt und begehrt. Aber ich weiß, dass mein Freund mir niemals etwas vormachen würde; und das ist mir letztlich wichtiger. Wenn wir Konflikte haben, ist die Gemeinschaft da und hört beiden zu, so haben wir bisher immer wieder zusammengefunden. Für mich ist es die beste Art, die Liebe zu leben.“<