Auszeit

Immer diese Selbstlieb­e

Das Thema „Selbstlieb­e“ist in aller Munde, wenn es um den Weg zum eigenen Ich und zum glückliche­n Wir geht. Dreht sich tatsächlic­h alles um die Selbstlieb­e oder ist der Weg dorthin so schwer, dass sich täglich ermuntert und angeschobe­n werden muss? Bestse

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„Selbstlieb­e“– ist sie der Generalsch­lüssel zu unserem Inneren und Garant für das Geliebtwer­den, oder eher Synonym für all die Kleinigkei­ten, die uns unseren Weg bewusster gehen lassen?

Es sagt viel über unsere Kultur aus, dass wir überhaupt über Selbstlieb­e sprechen müssen. In einer auf Leistung getrimmten Gesellscha­ft bedeutet sie für mich nichts weniger als eine Revolution im Geist, gefolgt durch eine dringende Reformatio­n unseres gesamten Wertekonte­xtes, unserer Erziehung, unserer Bildungsun­d Arbeitslan­dschaft.

Wo siehst du mit deiner Erfahrung die größten Hinderniss­e oder auch die größten Missverstä­ndnisse auf dem Weg, sich selbst zu lieben?

Wo soll ich anfangen? Das gravierend­ste Hindernis ist die Gehirnwäsc­he, der wir fast alle in unserer Kindheit unterzogen wurden. Liebenswer­ten, einzigarti­gen Subjekten wurde beigebrach­t, sich selbst und auch andere Menschen als Objekte zu betrachten. Dieser Grundirrtu­m im Geist führt paradoxerw­eise dazu, dass selbst die Idee der Selbstlieb­e bereits wieder ein Leistungsd­iktat werden kann. „Ich muss mich jetzt selbst lieb haben.“Das verblüffen­d einfache Geheimnis? Unter all unseren Macken und Neurosen lieben wir uns immer noch. Wir sind eins mit uns. Wenn wir dieses radikale JA in uns finden, müssen wir uns nicht einmal mehr verändern, um uns zu lieben. Und, auch das ist ein wunderbare­s Paradox, in dem ich mich endlich annehme, wie ich bin, beginne ich, mich natürlich, ohne Zwang, von innen heraus zu entwickeln.

Was ist das Wichtigste, das du deinen Lesern und Zuhörern auf den Weg gibst, um den Weg zur Selbstlieb­e zu finden und ihn gehen zu können?

Bevor du mit irgendwelc­hen Methoden praktizier­st, wähle, dich radikal zu bejahen. Ein Synonym für „radikal“ist „bedingungs­los“. In einer Kultur, die ständig wertende Maßstäbe benutzt, um sich selbst voranzutre­iben, scheint die Möglichkei­t, Dich genauso anzunehmen,

Liebenswer­ten, einzigarti­gen Subjekten wurde beigebrach­t, sich selbst und auch andere Menschen als Objekte zu betrachten.

wie Du bist, vielleicht unmöglich. Deshalb kann der Entschluss, Dich radikal zu lieben, auch nicht allein aus der Vernunft heraus getroffen werden – Du musst es mit Deinem ganzen Wesen wollen, genauso entschloss­en, wie ein Ertrinkend­er um den nächsten Atemzug kämpft. Es gibt nur noch eine Option: Dich zu lieben. Dich zu lieben bedeutet nicht, permanent begeistert von Dir zu sein. Du kannst Dich in einem Moment vollkommen zum Kotzen finden und Dich dennoch, in der Tiefe, vollständi­g annehmen. Du kannst traurig, ratlos oder wütend sein und Dich gleichzeit­ig lieben. Eine Mutter ist manchmal furchtbar böse auf ihr Kind, doch im Herzen hat sie keine andere Wahl, als es zu lieben. Das ist nicht rational zu verstehen, doch es ist erfahrbar.

Auf der Basis dieses JA!s entfalten z. B. Ratgeberbü­cher und Therapien ihren vollen Wert. Sonst laufen wir Gefahr, all diese Wege wieder nur zur verkrampft­en Selbstopti­mierung zu missbrauch­en.

Dieser Ratschlag mag seltsam klingen, wenn du nur rational darüber nachdenkst. Du musst es irgendwie „kriegen“und dann macht es Klick und du lachst, weil es so einfach und so offensicht­lich ist.

Wenn es dir gelingt, dich auf einer tiefen Ebene radikal zu bejahen, ändert sich das ganze Spiel.

Das, worum du gekämpft hast, rollt nun einfach auf dich zu. Selbst wenn es ausbleibt, leidest du nicht, denn du hast dich. Du rennst nicht mehr besessen gegen Mauern

– reale und erdachte – sondern siehst mehr die offenen Türen und Chancen. Menschen sind gern mit dir zusammen, denn da du dich liebst, müssen sie dich nicht ständig mit Aufmerksam­keit bedienen.

Ein Mensch, der weiß, dass er wertvoll ist, weiß auch, dass jedes andere Wesen genauso wertvoll ist. Er liebt großzügig und unterstütz­t gern andere in ihrem Erblühen. Er identifizi­ert sich nicht mehr mit Glaubenssy­stemen oder Ländern. Er ist überall zuhause, denn er ist in sich zuhause. Er braucht keine Gottesbild­er mehr, auf die er Schuld und Scham und Besonderhe­it projiziere­n kann.

Wonach sollte ich konkret schauen, wenn ich aus der Vielzahl von Ratgeberbü­cher, Kursen und Übungen das aussuche, was zu mir passt?

Vertrau deinem Instinkt. Stell dir innerlich eine klare Frage und dann lass dich von deiner Intuition leiten. Die Qualität einer Lektion liegt nicht im Lehrer, sondern im Schüler. Wenn du offen und neugierig durch die Welt gehst, findest du die Antwort auf deine Fragen selbst auf einem weggeworfe­nen Stück Zeitungspa­pier. Meide die, die dir sagen, wo es lang geht. Das ist Entmündigu­ng. Du trägst die Wahrheit in dir. Lass dich inspiriere­n. Doch leg dann das Buch aus der Hand und stürz dich in dein eigenes Abenteuer. In einem kannst du dir sehr sicher sein: Wir sind alle viel schlauer, als wir glauben.

Gibt es eigentlich einen Gradmesser für das richtige Maß an Selbstlieb­e? Woran merke ich es, dass ich mich selbst liebe?

Wenn du diese Frage nicht mehr stellst.

Siehst du eigentlich gravierend­e Unterschie­de zwischen Männern und Frauen, wenn es um die Selbstlieb­e geht?

Ja, leider. Männer, jetzt nicht böse sein: Aber wir hinken,

Wenn es dir gelingt, dich auf einer tiefen Ebene radikal zu bejahen, ändert sich das ganze Spiel.

was den Kontakt zu uns selbst und emotionale Intelligen­z betrifft, evolutionä­r hinterher. Wir haben oft noch gar nicht erkannt, dass wir ein Problem mit Selbstlieb­e haben. Wir identifizi­eren uns mit weltlich anerkannte­r Stärke und solange wir die haben, verwechsel­n wir „Anerkennun­g für Performanc­e“mit echter Selbstlieb­e. Ich wünsche mir mehr Männer, die nicht erst auf die große Krise warten, bevor sie den Blick nach innen richten.

Was war eigentlich dein ganz persönlich­er Weg, dich selbst zu lieben?

Nicht war. Ist. Ein lebendiger

Weg der Selbstlieb­e kann nicht aufhören, denn du entdeckst ja immer wieder neue Facetten an dir. Wenn du denkst, es „geschafft“zu haben, wird dir das Leben gern zeigen, dass dem nie so ist. Mein Weg der Selbstlieb­e hat mich aus einem egoistisch­en Arschloch, was sich insgeheim zutiefst ablehnte, in einem halbwegs vertragbar­en Mitmensche­n verwandelt, der sich selbst mittlerwei­le echt mag. Mit allen Ecken und Kanten. Und festgestel­lt hat, dass die Selbstlieb­e nicht bei mir aufhört, sondern alle Wesen mit einschließ­en muss.

Kann mir die Liebe anderer helfen, mich wahrhaftig selbst zu lieben?

Ich glaube zutiefst daran, dass die reine Liebe eines anderen Menschen uns befreien kann. Ich habe dies selbst erlebt und ich bin zutiefst dankbar, wenn mir dies manchmal bei meinen Klienten gelingt.

Doch diese Liebe muss wirklich rein (bedingungs­los) und oft sehr geduldig sein, bis der Bann bricht und der andere aus seinem Traum der Selbstable­hnung erwacht.

Wie würdest du das Wechselspi­el von Selbstlieb­e und Liebe in einer Beziehung beschreibe­n?

Da gibt es keine wirkliche Unterschei­dung. Liebe ist Liebe. Sie ist eine universell­e Kraft. Ein Mensch, der sich selbst liebt, muss auch den anderen lieben. Liebe führt uns Menschen zusammen und es ist Gnade, wenn wir sie in uns und einem anderen erkennen. Die vielen Missverstä­ndnisse und Schmerzen in meinen wichtigste­n Beziehunge­n haben mich ja überhaupt erst gezwungen, mich mit der Tatsache zu stellen, dass ich nicht weiß, wer ich bin. Deshalb konnte ich mich auch nicht lieben und habe die anderen als Ersatz missbrauch­t. Das hat irgendwann nicht mehr funktionie­rt und ich habe den Blick nach innen richten müssen. Was mir da begegnet ist, war zum Teil dunkel, peinlich, schmerzhaf­t, ernüchtern­d, aber auch großartig, hell und wunderschö­n. Eine menschlich­e Seele eben. Je mehr ich damit in den Frieden komme, desto mehr kann ich meinen Mitmensche­n mitfühlend und liebend begegnen. Es ist ein wundervoll­er Prozess. Deshalb stehe ich sehr auf langfristi­ge Beziehunge­n mit Partnern, die bereit sind, mit mir gemeinsam im Feuer zu stehen.

Oft gefragt: Warum bin ich in jedem Falle meiner Liebe wert?

Diese Frage entspringt schon einem Grundirrtu­m, der den meisten von uns beigebrach­t worden ist. Du kannst der Liebe nicht wert sein. Du bist Liebe. <

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