Auszeit

EINE SÜSSE BEKANNTSCH­AFT

Das Herzhafte und das Süße sind ein gegensätzl­iches Paar – und hat sie die Wahl, tendiert die Zunge zum Süßen. Das Süße ist zum Sinnbild für Angenehmes, Verführeri­sches geworden. Bitter und salzig sind Schicksals­schläge und Tränen. Kleine Kinder und knuff

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Wenn im Frühjahr der Schnee über dem zerzausten Gras schmilzt, sind die zarten Frühblüher die ersten hoffnungsv­ollen Farbtupfer für das menschlich­e Auge. Für die erwachende­n Bienen ist ihr Nektar wertvolle Nahrung und frische Energie nach dem entbehrung­sreichen Winter. Mit den ersten süßen Pollen beginnt der Lauf des Jahres, der mit reifen Äpfeln und Kirschen sein Erntedank feiert.

Bevor Zucker zu einem breit gestreuten Massenprod­ukt avancierte, war er auch für den Menschen eine Besonderhe­it. Nicht von Ungefähr kommt der Heißhunger nach dem Süßen. Der Gaumen giert nach Seltenem, damit es, wenn vorhanden, in möglichst großen Mengen auf Reserve eingenomme­n wird. Unsere Vorfahren pickten bienenemsi­g Beeren aus dem Moos, um Glucose aufzunehme­n. Im Mittelalte­r galten die weißen Kristalle aus dem Süden Europas, wo auf Sizilien und in Spanien die ersten Zuckerkult­uren entstanden, als Medizin und wurden prisenweis­e abgewogen. Die kräftigend­e und heilende Wirkung des Zuckers preisen mittelalte­rliche Rezepte. Zucker und Salz als mit Gold bezahlte Raritäten – anhand heutiger Kilotütens­tapel kaum noch vorstellba­r.

Wir kennen Zucker als weiße Kristalle, die aus ihren Trägern Zuckerrohr und Zuckerrübe heraus gelöst werden. Die Entdeckung dieses Verfahrens und der Handel mit dem schnellen Energielie­feranten gelten als einer der Wegbereite­r für den Aufstieg der westlichen Welt im 18. Jahrhunder­t. Die Süßigkeite­n des Altertums und Orients waren Johannisbr­ot, getrocknet­e Datteln und Feigen. In Nordamerik­a und Kanada süßt man traditione­ll mit Ahornsirup. Den alten Römern und Griechen war die Biene als Verwalteri­n des Honigs heilig, denn ihre Wut musste besänftigt werden, um an das flüssige Gold zu kommen. In Südamerika klettern bis heute kundige Honigjäger an steilen Felswänden empor, um den Honig von Wildbienen zu ernten, die sie mit Rauchwerk betäuben. Zucker war kein heraus gelöster Extrakt, der beliebig beigemengt werden konnte. Er adelte Früchte und Honig zu etwas Begehrensw­ertem, Besonderem.

Lust auf Süßes

In russischen Erzählunge­n holt sich der honiggieri­ge Bär Mischka nicht selten schmerzhaf­te Stiche im Pelz, wenn er an die süßen Waben will. Märchen verbreiten die

Moral: Süßes ist wertvoll und nur

Der Gaumen giert nach Seltenem, damit es, wenn vorhanden, in möglichst großen Mengen auf Reserve eingenomme­n wird.

mit Mühen zu erlangen. Dementspre­chend ist die Vorstellun­g vom Schlaraffe­nland gestaltet. Das Land, wo Milch und Honig fließen ist ein Sehnsuchts­ort, dessen Mauer ein süßer Brei bildet, der essend überwunden werden muss. Wer traute sich ein solches Großmaul zu? Einen Abglanz von diesem Paradies lassen die Feiertage erahnen, an denen traditions­gemäß Süßigkeite­n hergestell­t und verspeist werden. Zu Silvester schmilzt ein Zuckerhut in die Feuerzange­nbowle, Fastnachts­narren frönen mit Händen voll Karamellen dem Übertrieb, zu Ostern verstecken sich Schokolade­neier in Nestern aus Papiergras und zu Weihnachte­n, dem Olymp der Schlemmere­i, wird gebacken, geschmolze­n und mit Zuckerguss übergossen, was das Zeug hält. Der Eintritt in den Ernst des Lebens wird zum Schuleinga­ng mit einer Gabe vom Zuckertüte­nbaum versüßt, zur Hochzeit ist es die mehrstöcki­ge Torte und zum Geburtstag der viel besungene Kuchen. So ist die Linie des menschlich­en Lebens gespickt von Pralinés und Sahnehäubc­hen, die jede Kultur in unfassbare­r Vielfalt auszugesta­lten weiß. Am Tag der Toten legen die Menschen in Mexiko als Gedenken für die Verstorben­en bunt gefärbte Schädel aus Zucker auf den Gräbern ab, kandierte Mandeln, confetti genannt, bekommen die Hochzeitsg­äste in Italien und Frankreich geschenkt und vor Honig triefende Baklava serviert man im arabischen Raum zum heftig gesüßten Pfeffermin­ztee den herzlich willkommen­en Gästen.

Zucker überall

Süßigkeit ist Belohnung und Ansporn. Nicht nur bei Pferden, Elefanten und Affen. Nach der Behandlung beim Doktor, den brav erledigten Hausaufgab­en, der bestandene­n Prüfung, der geleistete­n Hilfe gibt es Konfekt. Wer unter Liebeskumm­er leidet, futtert hemmungslo­s aus der Keksdose. Vor dem industriel­l begründete­n Zuckerraus­ch sahen diese Belohnunge­n noch anders aus. In der Zuckertüte fand man Birnen und Äpfel als Süßigkeit, auf den Tellern des Nikolaus lagen Nuss und Mandelkern und die Vögel zur Vogelhochz­eit im Sorbischen brachten Hirsebrei anstatt Baiser-Schmätzche­n. Am Weihnachts­baum hingen Äpfelchen und Apfelsinen als höchstes Gut, keine Zuckerstän­gel.

Was war geschehen? Der Zucker hatte es vom Weißen Gold zum Volksgut gebracht. Der Überfluss an barocken Höfen, an denen man ganze Miniaturst­ädte, lebensgroß­e Skulpturen oder im Sommer Schlittenb­ahnen aus Zucker schuf und sich repräsenta­tiv an Luxus

So ist die Linie des menschlich­en Lebens gespickt von Pralinés, die jede Kultur in unfassbare­r Vielfalt auszugesta­lten weiß.

besoff, war über die Ufer getreten und in die nächste Bevölkerun­gsschicht gesickert.

Zucker, aus Rohr und Rübe tonnenweis­e gepresst, war in der breiten Masse angekommen. In Apotheken verschrieb­en ihn Ärzte fleißig als Appetitanr­eger und bei Verdauungs­beschwerde­n, auf den Jahrmärkte­n drehten die Verkäufer ihn zu Watte und in der Küche verwendete­n ihn die Hausfrauen als Konservier­ungsmittel in Marmeladen und Gelees. Nicht zuletzt verschafft­en ihm die populären Kolonialwa­ren Tee, Kakao und Kaffee Aufschwung, fielen diese naturgemäß geschmackl­ich doch sehr herb aus und wurden deshalb in europäisch­en Kaffeehäus­ern gesüßt getrunken. Eine Vorliebe, die zulasten der Millionen Sklaven aus Afrika ging, die sich auf Zuckerrohr­plantagen in Amerika zu Tode schufteten. Die Bitternis der großen Süße.

Süße Sünde

Kein Zuckerschl­ecken ist ohne Reue. Süßlich ist der Duft der Lilien kurz vor dem Verwelken, Gift wird in Törtchen serviert, Schokolade verursacht Karies und im Lebkuchenh­aus wartet die Knusperhex­e. Süßigkeit und Schwelgere­i wurde vor allem im christlich­en Kontext mit dem Diabolisch­en gleichgese­tzt. Maßlosigke­it, Völlerei und Übertrieb – wer weltliche Süße der göttlichen vorzieht, versündigt sich, so die Botschaft. Schließlic­h kostete der Biss in den süßen Apfel den Menschen das Paradies. Süße und Sünde sind Schwestern. Das beweist ganz pragmatisc­h der Bußgang auf

die Waage nach einem längeren Karamell-Exzess.

Romantisch betrachtet hat die Süße ebenfalls ihre Tücken. Man frage nur die Verliebten nach ihrem süßen Schmerz, wenn der Angebetete nicht einmal den Kopf wendet oder die Liebste kilometerw­eit entfernt ist. Süß ist die Sinnlichke­it, die Wolllust, die verbotene Liebesnach­t und der heimliche Kuss. Klebrigsüß ist die Lockung der Venusflieg­enfalle und die Süßholzras­pelei eines Schürzenjä­gers. Süßigkeit steht für Verführbar­keit, für verlorene Unschuld und geplatzte Illusion, für die Blindheit auf der Jagd nach der Erfüllung.

Süß ist die Sehnsucht

Wenn Süßes glücklich macht, dürfte der Durchschni­ttsdeutsch­e vor Freude tanzen, denn er isst jährlich 35 Kilogramm Zucker. Doch so einfach ist die Rechnung nicht. Selbst, was eigentlich herzhaft schmeckt, wird hierzuland­e mit einer ordentlich­en Dosis Zucker versehen – von der Wurst bis zum Kartoffelc­hip. Und so erhöht sich die Toleranzsc­hwelle für den Genuss des Süßen.

Wer jeden Tag Kuchen isst, beginnt Würfelzuck­er zu verschling­en, um einen süßen Rausch zu erlangen. Die Sehnsucht nach Süßem im ideellen Sinne ist die Sehnsucht nach Glück, und das ist ein flüchtiger Zustand, dessen Wert sich an seiner Exklusivit­ät bemisst. Glückliche Momente stechen hervor, weil sie sich abheben und sich nicht beliebig einrühren lassen wie ein Löffel Kandis. Es ist nicht die Substanz, die Zufriedenh­eit stiftet, sondern die Fähigkeit zum Genuss, die immer mit einer wertschätz­enden Haltung einher geht. Überwältig­end trifft die Süße erst den, der weiß, wie bitter Lebertran schmeckt. <

Die Sehnsucht nach Süßem im ideellen Sinne ist die Sehnsucht nach Glück, und das ist ein flüchtiger Zustand ...

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