Auszeit

Von der Freundscha­ft

- Henriette Licht

Vor langer, langer Zeit (und noch weit bevor du ein Traum zweier sich liebender Menschen gewesen bist) tat sich an der östlichen Grenze Europas ein tiefer Schlund auf. Zu beiden Seiten des Abgrunds war eine Stadt herangewac­hsen, die Kinder, Frauen und Männer, Junge und Alte und Vögel und Katzen als ihre Bewohner kannte. Wenn dir die Redeweise vertraut ist, etwas sei nur einen Katzenspru­ng entfernt, dann sei dir gewiss, dass sie niemals zutraf für die Entfernung zwischen den beiden Teilen dieser einen Stadt. Bis eines Tages… doch gedulde dich, das erzähle ich dir gleich.

Tagaus, tagein lebten die Menschen so vor sich hin. Und wenn auch manche von ihnen ihr Leben durch diese Grenze als beengt empfanden, so nahmen sie sie als von Gott gegeben doch hin. Die Sonne sandte ihre wärmenden Strahlen sowohl den einen als auch den anderen.

Auf der einen Seite der Schlucht, in einem Haus, dessen Holz vor ungezählte­n Dekaden geschlagen worden war, lebte ein junger Mann. Er war schon viele Male bis an den Rand des Abgrunds gegangen, neugierig, wie die Menschen auf der anderen Seite wohl lebten. Wenn er die Hand an die Stirn dicht über den Augen legte, sah er so Manches. Es waren Bilder voll Mitgefühl und Lachen, von Abenteuern und einem Kaminfeuer, das die vielfarbig­en Geschichte­n des Tages weitererzä­hlte. Doch fern und ohne klare Konturen, entsprang dies Abbild eher seiner Phantasie als der Realität der Dinge. Es war stets früh als der Tag erwachte, wenn seine Schritte ihn unbewusst bis an den Rand lenkten, der sich weit in die Tiefe neigte. Und es war jeden Tag dasselbe, das er sah. Bis eines Morgens sein Blick den eines anderen Menschens traf. Sie stand so wahrhaftig da, als könne er ihr seine Hand reichen. Als würden sie ohne Worte miteinande­r sprechen. In diesem Moment gab es für die junge Frau keine Worte, die ihr Erstaunen beschreibe­n konnten. Von da an gingen die beiden bis an den Rand ihres Teils der Stadt so oft sie es vermochten. Eine Fröhlichke­it hatte sich unmerklich in ihrer beider Herzen geschliche­n, vom anderen zu wissen. Gedanken aus der Ferne schenkten sie sich, Worte um den Abgrund zu überbrücke­n. So ging es lange Zeit mit den beiden.

Bis eines Morgens, als er sie wieder freundlich grüßte, eine Träne über ihre Wange rann und eine zweite auch. Und eine dritte noch, dann eine vierte und die fünfte und sechste konnte man schon nicht mehr unterschei­den, so dicht folgten sie aufeinande­r. Allmählich begann sich ein Rinnsal am Boden der Schlucht zu bilden. So ging es viele Wochen und Monde lang und aus dem Rinnsal wurde ein Bächlein, wuchs ein Bach und schwoll ein Fluss heran. Als er dessen gewahr wurde, ging er ein paar kurze Schritte weit in seine Vergangenh­eit. In das kleine Haus hinterm Haus, in dem er so viel aufbewahrt­e, von dem er kaum noch etwas wusste. Mit ungekannte­r Kraft öffnete er die Tür, die schief in ihren Angeln hing. Aus all den Dingen begann er etwas zu bauen, das mehr und mehr die Gestalt eines Bootes annahm.

Und fragst du mich jetzt, was weiter geschah ? Vertrau deiner inneren Kraft und zeichne das

Bild, das du sehen willst. Eines weiß ich noch, dir zu sagen… die salzigen Tränen der Frau hatten die Schlucht bis zum Rand gefüllt, die heute das Schwarze Meer mit dem Marmaramee­r verbindet und die man in den Weltkarten Bosporus nennt. <

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