Auszeit

Und da kullern sie wieder

Wir Menschen sind die einzigen Lebewesen, die weinen können. Tränen erweichen das Herz unserer Mitmensche­n, befreien Gefühle und spülen die Seele. Durchschni­ttlich vergießen wir rund 100 Liter Tränenflüs­sigkeit in unserem Leben. Aber warum?

- SABRINA LIEB

Wir sind traurig, wütend oder ganz einfach berührt – und dann passiert es: Sie versammeln sich in unserem Augenwinke­l und kullern schließlic­h als dicke Tropfen über unsere Wangen. Mal lautlos, mal schluchzen­d, mal wimmern, mal mit einer piepsigen Stimme. Das Gesicht verzieht sich, die Atmung wird schneller, der Herzschlag beschleuni­gt – ist das anstrengen­d! Während es die Kleinsten aus dem Effekt, aufgrund eines Bedürfniss­es oder ganz einfach aus trotziger Überzeugun­g tun, fällt es uns Erwachsene­n hingegen oft schwer: ganz ungeniert zu weinen.

Kontrollve­rluste

Viele Menschen empfinden Weinen in Anwesenhei­t anderer Personen als unangenehm und schämen sich für ihre vermeintli­che Schwäche. Auch die Zeugen des Gefühlsaus­bruchs fühlen sich oft peinlich berührt, können das Weinen des anderen nur schwer ertragen. So recht davon abwenden mag man sich dann aber doch nicht. Sei es aus Wut, Enttäuschu­ng, Angst, übermächti­gem körperlich­en oder seelischem Schmerz – Tränen lassen sich nur schwer und auch nur bis zu einem gewissen Grad kontrollie­ren. Tränen sind dabei vor allem der Ausdruck von Hilflosigk­eit und zeigen, dass sich der Weinende in einer Situation befindet, die ihn überforder­t und die er nicht (mehr) unter Kontrolle hat. Die starke Fassade fällt. Um solche unangenehm­en Situatione­n zu vermeiden, weinen die meisten lieber alleine oder nur im Beisein vertrauter Gesichter. In den eigenen vier Wänden, bei der Arbeit dient oft auch die Toilette als Zuflucht – lieber einmal mehr an einem ungestörte­n Ort den Tränen freien Lauf gelassen, als sie öffentlich gezeigt. Dabei gehören sie zu den Grundäußer­ungen eines jeden Menschen. Bereits im Alter von drei Wochen kann ein Baby nicht nur schreien, sondern sich auch durch weinen verständli­ch machen, dass ihm etwas fehlt.

Tränen lügen nicht

Weinen ist eine sehr ursprüngli­che Kommunikat­ionsform, die in der Regel jeden Menschen anspricht. Tränen sind ein klares Zeichen nach außen, um Aufmerksam­keit zu bekommen und Fürsorge zu wecken. Allen Klischees zum Trotz, kann Weinen sowohl bei Männern als auch Frauen manipulier­end wirken. Wer kennt ihn nicht, den bekannten Schlagerti­tel „Tränen lügen nicht“? Weinen spiegelt immer tatsächlic­he Empfindung­en wider. Wie nah dabei jemand am Wasser gebaut ist oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, wie viel Gefühl ein Mensch grundsätzl­ich in seinem Leben zulässt und wie gut er sich in eine Situation hinein fühlen kann. Tränen können dabei auch Menschen verbinden. Gemeinsame­s Weinen lässt zwischen Menschen häufig ein inniges Gefühl von Vertrauthe­it entstehen – schließlic­h sitzt man gerade im gleichen Boot. Und auch wenn die Tränen im ersten Moment keine akute Besserung für eine Situation bringen, spendet allein schon das Gefühl Trost, mit seinem Kummer nicht alleine dazustehen.

Freudenträ­nen

Die Geburt eines Kindes, ein lang ersehntes Wiedersehe­n, ein Heiratsant­rag... Vielleicht hat der einen oder andere schon einmal aus Freude geweint. Ob wir nun von positiven oder negativen Gefühlen übermannt werden – wenn die psychische Erregung stark genug ist, löst unser Gehirn einen Nervenimpu­ls aus, der unsere Tränendrüs­en in Aktion versetzt. Aus psychologi­scher Sicht kann es da sogar sinnvoll sein, ein Gefühl mit dem entgegenge­setzten Körperkenn­zeichen auszudrück­en. Doch warum sollte das einen Sinn ergeben, das Gegenteil von dem zu zeigen, was man jetzt

Was auch immer der Ausloser deiner Tranen ist : Lass laufen!

gerade fühlt? Für uns Menschen drücken Lachen und Weinen zwar unterschie­dliche Gefühle aus, aber das weiß unser vegetative­s Nervensyst­em nicht. Es reagiert schlicht wie ein Programm: Das Herz schlägt schneller, die Atmung wird immer tiefer, der Blutdruck steigt, die Pupillen weiten sich. Dabei sendet das Großhirn einen Impuls zum Tränenflus­s an den Hirnstamm. Dieser unterschei­det nicht zwischen Freude und Traurigkei­t, nicht einmal zwischen einer emotionale­n Erregung oder einer Fliege im Auge. Die Tränen fließen einfach. In der menschlich­en Entwicklun­g hat Weinen gar eine große Bedeutung, weil es Mitgefühl erzeugt und bei anderen Menschen das Empathie-System aktiviert. So entsteht beispielsw­eise der soziale Kontakt zwischen einer Mutter und ihrem Kind vor allem durch den Augenkonta­kt. Tränen verstärken dabei noch einmal die emotionale­n Signale des Blickkonta­kts und festigen so die Mutter-Kind-Bindung.

Zweigestal­tige Gefühle

Die amerikanis­che Psychologi­n Oriana R. Aragón untersucht­e einmal im Rahmen eines Experiment­s zweigestal­tige Gefühle, die auf den ersten Blick nicht zusammenpa­ssen. Ihr Fokus: Emotionen, bei denen auf positive Gefühle schließlic­h Gefühlsaus­drücke folgen, die eigentlich nur für negative reserviert sind. So wird tiefe Freude oder Dankbarkei­t manchmal mit Gefühlsaus­drücken der Trauer kombiniert. Weinen mag da bei positiven Gefühlen irgendwie überflüssi­g erscheinen, laut der Psychologi­n müsste das aber genauso gut auch umgekehrt bei negativen Emotionen funktionie­ren, beispielsw­eise bei Gefühlen der Trauer. Nervöses Lachen bei einer Beerdigung wäre dabei ein Paradebeis­piel. Einen genauen wissenscha­ftlichen Zusammenha­ng zu Freudenträ­nen gibt es bis heute nicht, jedoch ist sich Aragón sicher: Intensive, überwältig­ende Gefühle führen im Körper zu einer Gegensteue­rung, die dafür sorgt, dass wir möglichst schnell wieder emotional stabil werden.

Ventil der Emotionen

Weinen dient also unter anderem dazu, dass sich der Mensch psychisch reguliert und sich von unangenehm­en Erfahrunge­n befreit. Ein Verarbeitu­ngsprozess, bei dem sich der Betroffene im Anschluss erleichter­t fühlt. Weinen ist aus psychologi­scher Sicht also positiv, auf den Körper trifft dies nur bedingt zu. Zwar verliert er durch Tränen kaum nennenswer­te Mengen an Flüssigkei­t, jedoch wird durch übermäßige­s Weinen viel Energie im Körper verbraucht. Wir fühlen uns erschöpft. Am Ende jedoch überwiegt ein Argument: Der Abbau von angestaute­n Gefühlen ist gesund. Tränen wirken dabei wie eine Art Ventil für unsere Emotionswe­lt. Was also auch immer der Auslöser unserer Tränen sein mag, Medizin und Wissenscha­ft geben uns einen Rat: Lass sie laufen! <

Tranen, die man lacht, muss man nicht mehr weinen Eckart von Hirschhaus­en

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