Und da kullern sie wieder
Wir Menschen sind die einzigen Lebewesen, die weinen können. Tränen erweichen das Herz unserer Mitmenschen, befreien Gefühle und spülen die Seele. Durchschnittlich vergießen wir rund 100 Liter Tränenflüssigkeit in unserem Leben. Aber warum?
Wir sind traurig, wütend oder ganz einfach berührt – und dann passiert es: Sie versammeln sich in unserem Augenwinkel und kullern schließlich als dicke Tropfen über unsere Wangen. Mal lautlos, mal schluchzend, mal wimmern, mal mit einer piepsigen Stimme. Das Gesicht verzieht sich, die Atmung wird schneller, der Herzschlag beschleunigt – ist das anstrengend! Während es die Kleinsten aus dem Effekt, aufgrund eines Bedürfnisses oder ganz einfach aus trotziger Überzeugung tun, fällt es uns Erwachsenen hingegen oft schwer: ganz ungeniert zu weinen.
Kontrollverluste
Viele Menschen empfinden Weinen in Anwesenheit anderer Personen als unangenehm und schämen sich für ihre vermeintliche Schwäche. Auch die Zeugen des Gefühlsausbruchs fühlen sich oft peinlich berührt, können das Weinen des anderen nur schwer ertragen. So recht davon abwenden mag man sich dann aber doch nicht. Sei es aus Wut, Enttäuschung, Angst, übermächtigem körperlichen oder seelischem Schmerz – Tränen lassen sich nur schwer und auch nur bis zu einem gewissen Grad kontrollieren. Tränen sind dabei vor allem der Ausdruck von Hilflosigkeit und zeigen, dass sich der Weinende in einer Situation befindet, die ihn überfordert und die er nicht (mehr) unter Kontrolle hat. Die starke Fassade fällt. Um solche unangenehmen Situationen zu vermeiden, weinen die meisten lieber alleine oder nur im Beisein vertrauter Gesichter. In den eigenen vier Wänden, bei der Arbeit dient oft auch die Toilette als Zuflucht – lieber einmal mehr an einem ungestörten Ort den Tränen freien Lauf gelassen, als sie öffentlich gezeigt. Dabei gehören sie zu den Grundäußerungen eines jeden Menschen. Bereits im Alter von drei Wochen kann ein Baby nicht nur schreien, sondern sich auch durch weinen verständlich machen, dass ihm etwas fehlt.
Tränen lügen nicht
Weinen ist eine sehr ursprüngliche Kommunikationsform, die in der Regel jeden Menschen anspricht. Tränen sind ein klares Zeichen nach außen, um Aufmerksamkeit zu bekommen und Fürsorge zu wecken. Allen Klischees zum Trotz, kann Weinen sowohl bei Männern als auch Frauen manipulierend wirken. Wer kennt ihn nicht, den bekannten Schlagertitel „Tränen lügen nicht“? Weinen spiegelt immer tatsächliche Empfindungen wider. Wie nah dabei jemand am Wasser gebaut ist oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, wie viel Gefühl ein Mensch grundsätzlich in seinem Leben zulässt und wie gut er sich in eine Situation hinein fühlen kann. Tränen können dabei auch Menschen verbinden. Gemeinsames Weinen lässt zwischen Menschen häufig ein inniges Gefühl von Vertrautheit entstehen – schließlich sitzt man gerade im gleichen Boot. Und auch wenn die Tränen im ersten Moment keine akute Besserung für eine Situation bringen, spendet allein schon das Gefühl Trost, mit seinem Kummer nicht alleine dazustehen.
Freudentränen
Die Geburt eines Kindes, ein lang ersehntes Wiedersehen, ein Heiratsantrag... Vielleicht hat der einen oder andere schon einmal aus Freude geweint. Ob wir nun von positiven oder negativen Gefühlen übermannt werden – wenn die psychische Erregung stark genug ist, löst unser Gehirn einen Nervenimpuls aus, der unsere Tränendrüsen in Aktion versetzt. Aus psychologischer Sicht kann es da sogar sinnvoll sein, ein Gefühl mit dem entgegengesetzten Körperkennzeichen auszudrücken. Doch warum sollte das einen Sinn ergeben, das Gegenteil von dem zu zeigen, was man jetzt
Was auch immer der Ausloser deiner Tranen ist : Lass laufen!
gerade fühlt? Für uns Menschen drücken Lachen und Weinen zwar unterschiedliche Gefühle aus, aber das weiß unser vegetatives Nervensystem nicht. Es reagiert schlicht wie ein Programm: Das Herz schlägt schneller, die Atmung wird immer tiefer, der Blutdruck steigt, die Pupillen weiten sich. Dabei sendet das Großhirn einen Impuls zum Tränenfluss an den Hirnstamm. Dieser unterscheidet nicht zwischen Freude und Traurigkeit, nicht einmal zwischen einer emotionalen Erregung oder einer Fliege im Auge. Die Tränen fließen einfach. In der menschlichen Entwicklung hat Weinen gar eine große Bedeutung, weil es Mitgefühl erzeugt und bei anderen Menschen das Empathie-System aktiviert. So entsteht beispielsweise der soziale Kontakt zwischen einer Mutter und ihrem Kind vor allem durch den Augenkontakt. Tränen verstärken dabei noch einmal die emotionalen Signale des Blickkontakts und festigen so die Mutter-Kind-Bindung.
Zweigestaltige Gefühle
Die amerikanische Psychologin Oriana R. Aragón untersuchte einmal im Rahmen eines Experiments zweigestaltige Gefühle, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Ihr Fokus: Emotionen, bei denen auf positive Gefühle schließlich Gefühlsausdrücke folgen, die eigentlich nur für negative reserviert sind. So wird tiefe Freude oder Dankbarkeit manchmal mit Gefühlsausdrücken der Trauer kombiniert. Weinen mag da bei positiven Gefühlen irgendwie überflüssig erscheinen, laut der Psychologin müsste das aber genauso gut auch umgekehrt bei negativen Emotionen funktionieren, beispielsweise bei Gefühlen der Trauer. Nervöses Lachen bei einer Beerdigung wäre dabei ein Paradebeispiel. Einen genauen wissenschaftlichen Zusammenhang zu Freudentränen gibt es bis heute nicht, jedoch ist sich Aragón sicher: Intensive, überwältigende Gefühle führen im Körper zu einer Gegensteuerung, die dafür sorgt, dass wir möglichst schnell wieder emotional stabil werden.
Ventil der Emotionen
Weinen dient also unter anderem dazu, dass sich der Mensch psychisch reguliert und sich von unangenehmen Erfahrungen befreit. Ein Verarbeitungsprozess, bei dem sich der Betroffene im Anschluss erleichtert fühlt. Weinen ist aus psychologischer Sicht also positiv, auf den Körper trifft dies nur bedingt zu. Zwar verliert er durch Tränen kaum nennenswerte Mengen an Flüssigkeit, jedoch wird durch übermäßiges Weinen viel Energie im Körper verbraucht. Wir fühlen uns erschöpft. Am Ende jedoch überwiegt ein Argument: Der Abbau von angestauten Gefühlen ist gesund. Tränen wirken dabei wie eine Art Ventil für unsere Emotionswelt. Was also auch immer der Auslöser unserer Tränen sein mag, Medizin und Wissenschaft geben uns einen Rat: Lass sie laufen! <
Tranen, die man lacht, muss man nicht mehr weinen Eckart von Hirschhausen