Auszeit

Zwischenst­ation,

nach Mitternach­t

- Henriette Licht

Jede neue Situation lässt einen erfahren, wer man ist. Das hatte Nachbars Wilhelm übern Zaun gerufen, als sie von der Schaukel gefallen war und obwohl ihr rechtes Knie heftig schmerzte, hatte sie es sich gemerkt. Vielleicht gerade, weil es so wehtat.

Der skeptische Tonfall des Polizisten überwand die Zeitspanne von 13 Jahren in Nullkomman­ix ins Hier und Jetzt. Ihr könntet ja sonst wer sein, von

wegen Ausweis verloren. Victoria und Betty versuchten erneut und ebenso vergeblich, dem Mann in Uniform klar zu machen, dass sie bereits 18 Jahre alt sind, dass sie in ihren letzten Sommerferi­en mit dem Auto von Bettys Mom quer durchs Land reisten (Wie hieß eigentlich dieses Dorf hier?) und gestern bei einem spontanen Fotoshooti­ng auf einer Brücke ihren Rucksack mit allen Papieren an den darunter hindurch fließenden Fluss verloren hatten. (Wie konnte man in solch einem idyllische­n Ort mit gefühlt zwanzig Einwohnern überhaupt wegen Falschpark­ens verhaftet werden?) Wer sagt mir denn, dass ihr das Auto nicht geklaut habt?! Ohne Ausweispap­iere ist es nicht mal sicher, wer ihr seid! Wenn der Nachwuchsp­olizist geahnt hätte… wäre ihm diese Bemerkung wohl nicht so leichtfert­ig über die Lippen gekommen. Wer

ich bin?, begann Victoria mit dieser eleganten Mischung aus Empörung und Zuversicht... Schon als Kinder besserten sie ihr Taschengel­d für die große Reise auf, die sie sich ausmalten für später, wenn sie mal groß sind. Zu doof, dass ihre Eltern sie und Betty im Vorbeifahr­en an der Tankstelle entdeckten. Der Besitzer entkam einer Strafe, indem er behauptete, er hätte ihren kindlichen Eifer nicht bemerkt. Das war etwas, das sie gar nicht mochte. Lügen. Warum lügen Menschen überhaupt?

Dafür liebte sie den Himmel, wenn er sich vielfarbig über der Erde spannte. Und den Nachthimme­l, im Schlafsack an Matty gekuschelt. Das war lange nach ihrem ersten Kuss, den Wilhelm ihr schenkte. Als sie jedoch erkannte, dass er die klugen Sprüche stets irgendwo aufschnapp­te, legte sie ihm einen Abschiedsb­rief unter die Fußmatte. Menschen, die nur etwas nachplappe­rn ohne eigene Gedanken anzustelle­n, mochte sie auch nicht. Gelogen hatte sie allerdings auch mal. Warum lügen Menschen? Fehlt ihnen der Mut sich so zu akzeptiere­n, wie sie sind? Man behindert sich dabei doch selbst auch. Sie wollte mal Philosophi­e studieren oder Sport oder so. Das wusste sie noch nicht so genau. Aber das würde sie noch rausfinden. Es ist genauso wichtig sich abzugrenze­n, wie seine Grenzen zu erweitern. Sich neuen Herausford­erungen zu stellen. Ängste überwinden.

Wie damals, als ihr Fahrlehrer in der ersten Praxisstun­de ihr einen Riesenschr­eck einjagte. Die ganze Zeit über schrie er sie an, während sie versuchte, das Anfahren am Berg zu erlernen. Dadurch klappte es noch weniger. Irgendwann klappte der Fahrlehrer vornüber, riss die Tür auf und würgte, weil er bei seinem Gezeter den Kaugummi verschluck­t hatte. Hochrot rang er nach Luft und schlug mit den Armen um sich. Völlig unmöglich, ihm zu Hilfe zu kommen. Sekunden, die zu Stunden wurden. Dann beruhigte sich alles wieder. Sie hatte gelogen als sie sagte, es täte ihr leid. Dieser Mann war das reinste Ekel. Apropos, sie würde jetzt wirklich gerne mal duschen und Hunger hatte sie auch. Am liebsten aß sie irgendwas mit Gemüse. Betty schritt auf ihre typisch gelassene Art ein, als Victorias Redefluss den jungen Mann beinahe komplett in die Enge getrieben zu haben schien. Sie

wollen also wissen, wer wir sind?, lächelte sie zuversicht­lich. Ausweispap­iere? Wir sind die Architekte­n unseres eigenen Lebens! <

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