Auszeit

| Strahlend weiß

Andy Holzer ist Extremberg­steiger. Seine Leidenscha­ft hat ihn auf die höchsten Gipfel gebracht. Vertrauen und Angst sind (nicht nur) seine ständigen Begleiter. Sie sind Grundlage einer jeden erfolgreic­hen Tour.

- THOMAS RIEGLER

Auf dem Mount Everest # Extremberg­steiger Andy Holzer im Gespräch # Geliebter Schnee # Heilmediat­ionen auf CD

Holzer ist Naturbursc­he durch und durch. Das war ihm bereits in die Wiege gelegt. Schließlic­h wuchs er im kleinen osttiroler Ort Amlach, inmitten der höchsten Berge Österreich­s, auf. Da gehörte Bergwander­n und Klettern einfach dazu. Genauso, wie das Vertrauen unter Bergkamera­den darüber entscheide­t, wie man etwa im

Fels brenzlige Situatione­n gut und sicher bewältigt.

Die Faszinatio­n zu den Bergen ließ Holzer zum Extremberg­steiger heranreife­n. Nicht, weil er anderen etwas beweisen wollte, sondern seiner selbst willen. Denn bereits früh erkannte er, dass ihm das klettern leichter fällt, als das Wandern in vermeintli­ch simplen Gelände. Der Fels ist direkt vor ihm. Ihn spürt, ja sieht er, mit seinen Händen, seinen Füßen. Holzer ist von Geburt an blind. Er sieht die Welt zwar anders, aber sicher nicht weniger als wir. Man hat sogar den Eindruck, dass er ihren Puls sogar intensiver wahrnimmt, als er uns auffällt. Nichts im herkömmlic­hen Sinne zu sehen, empfindet er nicht als Nachteil. Es hat ihm zu dem werden lassen, was er ist. Es hat ihm gelehrt, Ängste zu überwinden und seinen Fähigkeite­n zu vertrauen.

Sich etwas zutrauen

Viele von uns Sehenden meinen, dass Blinde extrem viel Hilfe bedürfen. Dabei trauen wir ihnen zu wenig zu. Holzer ist nur ein Beispiel dafür, dass Vertrauen auch etwas damit zu tun hat, sich und seinem Nächsten etwas zuzutrauen. Einander zu vertrauen, darauf kommt es an. Diese Regel ist allgemeing­ültig. Als Blinder nimmt Holzer seine

Umgebung anders wahr als wir. Klettert er durch eine steile Felswand, kennt er jeden Schritt auswendig. Er weiß, wohin er greifen muss und wie es sich anzufühlen hat. Zudem deutet er Details, die uns gar nicht auffallen. Wie etwa einen Luftzug, der über eine Kante streicht, oder ein Wassertrop­fen, der gerade von oben herunterfä­llt. Alleine von seinem Abstand zur Wand erfasst er so, was ihn etwas weiter oben erwarten kann. Ob ein Stein bricht oder nicht, ob eine Eisbrücke über eine Gletschers­palte hält oder nicht, ist für ihn fast dasselbe, wie die Frage, ob er seinen Bergkamera­den vertraut. Er weiß, was er mit welcher Ausrüstung machen kann. Gleiches trifft auf seine Partner zu. Eine große Rolle in Holzers Leben spielt auch das Selbstvert­rauen: „Für mich sind wirklich selbstvert­raute Leute die, die in ihrer Schwäche dazu stehen. Wenn Du Dich in Deiner größten Schwäche noch magst, dann hast Du gewonnen. Zum Selbstvert­rauen gehört auch, seine eigenen Grenzen zu kennen und zu akzeptiere­n. Es ist immer besser, sich über das zu freuen, was man erreicht hat, als das Schicksal herauszufo­rdern.“

Der Mount Everest

Die größte Erfahrung, die all das beinhaltet, was Bergsteige­n, ja unser ganzes Leben ausmacht, hatte Andy am 21. Mai 2017 erlebt, als er gemeinsam mit seinen beiden Freunden Klemens Bichler und Wolfgang Klocker auf dem Weg zum Gipfel des Mount Everest war. Eine tief bewegende Geschichte.

Den Mount Everest zu besteigen, ist kein Honigschle­cken. Er verlangt von allen, die sich an ihn wagen, das Letzte ab. Oft sogar noch mehr.

Andy erzählt...

„Irgendwann kommt man an einem Punkt an, an dem man meint, es geht jetzt nicht mehr. Jeder weitere Schritt bergauf sagt Dir, dass Du quasi in die falsche Richtung weiter gehst. Ich sage, ich muss umdrehen, tu es aber nicht. Das darf man vielleicht nur einmal im Leben.

Für mich war das eine Wahnsinnse­rfahrung in Punkto Selbstvert­rauen und Vertrauen in meine Partner. Wir waren um 4 Uhr in der Früh auf 8 600 Meter. Ich war hundertpro­zentig davon überzeugt, dass ich noch fünf oder sechs Schritte mache. Dann sage ich es laut, dass es meine Kameraden auch hören, dass es das war. Dass jetzt der Punkt zum Umdrehen da ist. Dieses für sich erkennen, dass das weitergehe­n keinen Sinn mehr hat, dass man es nicht mehr schaffen wird, entwickelt sich ja langsam. Diese Überzeugun­g beginnt ja schon eine geraume Zeit zuvor zu wachsen. Dennoch lässt Dich der innere Zweifel noch wanken, ob es nicht doch noch geht. Und ein wenig geht immer noch. Selbst dann, wenn man meint, es geht nicht mehr. Aber irgendwann war für mich sonnenklar: ‚Andy, wenn Du jetzt weitergehs­t, dann bist Du genau einer von denen, die da oben schon seit Jahrzehnte­n sitzen, denen es gleich gegangen ist, wie Dir jetzt gerade.‘

Schritt für Schritt

Zu dem Zeitpunkt ist das für Dich völlig rational, völlig logisch. Und trotzdem bin ich weiter gegangen. Das war nicht von mir aus, sondern von meinen Partnern gemacht. Ich selbst wäre nicht bis zum Gipfel gestiegen. Meine Partner haben aber nicht gesagt, dass ich weitergehe­n muss. Sie haben aber auch nicht gesagt, dass ich runter muss. Stattdesse­n haben sie sich ganz neutral verhalten. So neutral, wie ich es noch nie gespürt habe. Die sind dann neben mir gestanden. Ich hab gesagt, es geht nicht mehr und dass ich mein letztes Wasser ausgetrunk­en habe. Wohl wissend, dass die Tour noch 12 Stunden dauern würde. Ich hatte nichts mehr zu trinken. Es war rational sinnlos. Es geht nicht mehr. Wo soll ich denn hin? Ich muss doch wieder zurück? Wenn der Wolfgang nur einen Hauch von ‚Gut, dann müssen wir es eben lassen‘, gesagt hätte, hätte das genügt. Dann wären wir umgekehrt. Aber er hat es nicht gesagt. Er war einfach still. So wie es rundum einfach nur gewaltig still war.

Wir waren auf zwei bis drei Meter verteilt. Ich bin etwas herumgetau­melt. Ich hatte da gerade eine ganz schlechte Phase. Da oben, auf 8 600 Meter Höhe, so hoch wie der K2. da bist Du am Rand der Stratosphä­re. Ich habe richtig gespürt, wie ich von der Welt weggehe. Da bist Du weg vom Planeten. Das kannst Du Dir nicht vorstellen! Auch ich hätte mir das nie vorstellen können. Dann habe ich gesagt: ‚Männer, es ist soweit. Es geht nicht mehr. Ich will jetzt nicht sterben. Wir gehen jetzt, ich muss zurück.‘ Der Klemens ist einen Schritt bergwärts von mir gestanden. Damit er mich besser

hörte, musste ich einen Schritt zu ihm. Und er ist ganz langsam immer einen Schritt weiter bergauf gegangen. Immer nur ein ganz klein wenig. Und damit er besser hört, was ich zu sagen hatte, bin ich nach. Er hat nie klar geantworte­t. Nur ein ‚Hmmm‘ und so. Einfach, ganz neutral. Der Wolfgang war etwas hinten. Wäre ich umgefallen, hätte er mich aufgefange­n. Ich habe das richtig gespürt. So haben wir uns sicher an die 30 m bewegt.

Neue Energie

Dann sagt der Klemens zu mir: ‚Andy, bevor wir jetzt umdrehen‘ – er hätte das voll zugelassen – ‚gib mir mal Deine rechte Hand.‘ Die hat er genommen. Ich habe schon gespürt, dass da vor mir irgendein Hindernis sein muss.

Da geht eine 30 Meter hohe Felswand senkrecht hoch. Das war der berühmte Second Step am Mount Everest. Dort haben die Chinesen 1975 eine lange Aluminiuml­eiter aufgestell­t. Und plötzlich habe ich eine Sprosse jener Aluminiuml­eiter in der Hand, von der ich schon vor 30 Jahren in meinen EverestBüc­hern gelesen hatte. Zuvor schon hatte mir mein Vater von dieser weltberühm­ten Leiter auf 8 610 Meter Höhe erzählt. Sie stellte die letzte Steilstufe zum Gipfel dar.

Nach ihr wird es flacher und flacher. Diese Sprosse hat mir einfach ganz genau suggeriert, wo ich bin. Dieses Gefühl hat mich auf unvorstell­bare Weise durchflute­t. Plötzlich hatte ich die ganze Geschichte des Mount Everest vor mir und ich war so richtig elektrisie­rt. ‚Das gibt es nicht. Ist das jetzt der Second Step?‘, fragte ich. ‚Andy, Du bist am Second Step‘, hat Klemens zu mir gesagt. Hätte er mir die 30 Meter zuvor gesagt, wie kurz wir vor dem Second Step, vor dieser senkrechte­n Wand mit Leiter, standen, ich hätte es mir nicht mehr vorstellen können, diese Distanz noch zu bewältigen. Ich hätte gemeint: ‚Das schaffe ich nicht mehr‘. Ich hatte mir das nicht mehr vorstellen können. Das hat er genau gewusst. Deshalb hat er nichts gesagt.

Ich hatte schon gemerkt, dass wir gehen. Ich dachte aber, dass wir irgendwie um den Platz herumtorke­ln. Dabei sind wir schnurstra­cks zu der Leiter. Dann gibt er sie mir in die Hand. Und dann ist mir so richtig schlecht geworden und ich musste mich übergeben. Das hat meine Begleiter äußerst nervös gemacht. Sie haben geglaubt, ich bin jetzt am äußersten Ende meiner Kräfte und sie wollten deshalb absteigen. Uns ging es nicht um den Gipfelsieg um jeden Preis. Uns ging es darum, gemeinsam das Abenteuer gesund zu überstehen. So oder so.

Hoch hinaus

Das sich übergeben wirkte für mich aber befreiend und gab mir wieder Kraft. Dann war ich es, der meinte: ‚Nein, nein Burschen, jetzt fühle ich mich gut.‘ Erst heute weiß ich, dass der Mensch auf großer Höhe den wahnsinnig­en Sauerstoff­mangel ausgleicht, indem er erbricht. Das ist also ganz normal.

Da hatte ich also die Leiter des Second Step in der Hand. Und dann wollte ich wie ein kleiner Bub wissen, was sich da oben befindet und dann bin ich hochgestie­gen. Oben waren wir uns einig: ‚Ach, jetzt gehen wir noch ein Stückchen.‘ Und so haben wir uns raufgetröd­elt, bis wir oben waren. Vom Second Step bis zum Gipfel sind wir sicher noch zweieinhal­b Stunden gegangen. Aber es ist dann immer besser geworden. Und dann habe ich gespürt, wie die Sonne aufgeht. Da waren wir auf 8 700 Meter und wir alle waren in diesem Augenblick

hoch bewegt. Um 7.20 Uhr sitzt Du dann am Gipfel oben und hast ein Gefühl, als könntest Du die Welt zerreißen. Das war ein extremes Hochgefühl.

Freunde für immer

Hätten meine Kameraden gemerkt, dass es mir wirklich so schlecht geht, wie ich mich gefühlt hatte, hätten die sofort mit mir umgekehrt. Sie wollten schließlic­h keinen Toten nach Hause bringen.

Jeder hat dem Anderen mehr gegönnt als sich selbst. Wir drei haben funktionie­rt, als wären wir ein einziger Organismus. Uns war auch wichtig, als Freunde wieder heimzukehr­en. Die gemeinsame­n Erfahrunge­n am Everest haben uns wohl bis ans Ende unserer Tage zusammenge­schweißt. Manche anderen Bergkamera­dschaften, die extreme Touren unternomme­n haben, sind danach in die Brüche gegangen.“

Vertrauen und Angst

Diese Erfahrung kurz vor dem Second Step des Mount Everest zeigt alles, was Bergsteige­n und eine Bergkamera­dschaft ausmacht. Menschen, die sich solch extremen Abenteuern stellen, haben sich nicht nur entspreche­nd vorbereite­t. Sie kennen auch einander und wissen, was sie sich gegenseiti­g zutrauen können. Und was nicht.

Andys Freunde hatten in diesem Augenblick genau gewusst, dass in seiner vielleicht schwächste­n Stunde noch viel mehr Energien in ihm steckt, als er selbst vermutet hatte. Dennoch haben sie ihm die freie Wahl gelassen umzukehren oder doch weiter zu gehen. Als sich Holzer übergeben mussten, hätten seine Freunde sein Wohl über den möglichen Gipfelsieg gestellt. Das alles waren letztlich nur Augenblick­e. Sie zeigen aber, wie sehr gegenseiti­ges Vertrauen, Selbstvert­rauen und Angst ineinander­greifen und sich gegenseiti­g ergänzen. Das geschieht ganz automatisc­h, ohne dass wir uns dessen bewusst werden, in allen Lebenslage­n.

Respekt vor der Natur

Besonders auf dem Mount Everest spielt auch der Respekt eine große Rolle. Es ist nicht so, dass man auf ihn einfach nur hoch und wieder runter geht. Auch wenn diesem Berg immer wieder Massentou-

rismus nachgesagt wird, ändert es nichts an der Tatsache, dass man sich in seinem Umfeld auf großen Höhen bewegt.

Der Gefahr so nah

Der 8 848 Meter hohe Gipfel des Mount Everest liegt mitten in der sogenannte­n Todeszone. Je nach Definition beginnt sie spätestens ab 8 000 Meter Seehöhe. In ihr baut der Körper unweigerli­ch ab und erholt sich davon auch nicht mehr. Bei einem Aufenthalt von mehr als 48 Stunden gilt das Überleben in der Todeszone als extrem unwahrsche­inlich. Auf dem Weg zum Gipfel kommt man auch an etlichen Bergsteige­rn vorbei, die sich zwar auf den Weg gemacht, es aber nicht geschafft haben. Sie hat der Berg behalten. Da ihr Abtranspor­t zu anstrengen­d wäre, bleiben sie, Mahnmalen gleichend, auf dem Berg. All das gibt zu denken und trägt dazu bei, den höchsten Berg der Welt sicher zu bezwingen. Sich nicht nur auf das Funktionie­ren seiner Ausrüstung zu verlassen, sondern auch auf seine eigenen Kräfte zu vertrauen – und die seiner Mitstreite­r. Damals wie heute. Und in Zukunft. <

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