Auszeit

ICH HABE MEIN LEBEN ZURÜCK

Raus aus der Angst Die Angst hat jahrelang das Leben von Sandy bestimmt. Angst vor Höhen und Tiefen, Angst vor der Angst. Nach Jahren des Kampfes, des geduldigen Arbeitens an und mit sich, hat sie ihr Leben wieder. Und sie hat eine Botschaft an uns.

- UWE FUNK

Ich habe mich mit ihr in einem kleinen Café zu einem Interview verabredet. „Zack Zack“heißt das kleine kultige Café – ich hoffe, dass trotzdem alles entspannt abläuft. Denn über die eigenen Ängste zu reden, ist mit Sicherheit nicht einfach.

Und da kommt sie schon, klein und zierlich, aber mit festen und beeindruck­end schnellen Schritten, als wäre sie vor etwas auf der Flucht. Der lange Pferdeschw­anz verstärkt die aufrechte Körperhalt­ung und verleiht dem Gesicht einen Hauch von Strenge. Eine Strenge, die sich im Laufe des Gesprächs aber fast völlig auflöst, so dass ganz andere Dinge sichtbar werden – eine Wärme, die ungebroche­n aus ihren dunklen Augen strahlt, ein berührende­s Lächeln, mit dem sie auf sympathisc­he

Art und Weise auch die eigenen Schwächen als Gewinn für sich erklärt. Und keine Angst ist zu sehen. Aber sie ist noch da. Ich sage Sandy, der Artikel würde heißen „Ich habe keine Angst mehr. Nur noch ein bisschen“. Sie schüttelt energisch den Kopf und sagt „Nö. Das stimmt ja so nicht.“Denn selbst jetzt, zehn

Jahre nach der Therapie, ist die Angst immer noch da. Nicht mehr als lähmender, eiskalter Schatten, der sich über ihr ganzes Leben gelegt hatte. Aber die Angst sitzt irgendwo tief drin immer noch als Teil von ihr, als Potenzial, in den nur allzu bekannten Situatione­n die allzu bekannten Reaktionen auszulösen. Gerade erst hat sie es wieder beim Blutentneh­men erlebt: Das Spritzenth­ema war bei ihr schon immer ein Angstthema. Und auch dieses Mal macht der Körper wieder dicht, nimmt sich quasi „vom Netz“. Aber sie kann damit umgehen. „Es war sowieso von Anfang an ein doofer Tag“, sagt sie, und sie wird nicht locker lassen, bis sie die Situation gemeistert hat, an einem anderen Tag.

Vorbereite­t sein

Mit anderen Ängsten geht es ihr ähnlich. Sie weiß, dass sie da sind, weiß aber auch, wie sie sich vorbereite­n kann. Kein Verdrängen der Ängste, aber auch kein krampfhaft­es Erzwingen der Konfrontat­ion. Im letzten Jahr war Sandy in ihrem

Aber die Angst sitzt noch irgendwo tief drin, um in den allzu bekannten Situatione­n die allzu bekannten Reaktionen auszulösen.

Urlaub klettern. Gemeinsam mit ihren beiden Kindern ging es unter Anleitung eines Kletterfac­hmanns einen kleinen Felsen hoch, und wieder runter. Zwar gut gesichert, aber nicht ganz leicht zu bewältigen. Und da waren sie wieder, die blockieren­den Signale aus Kopf und Körper, die schwitzend­en Hände, das Zittern der Knie, das rasende Herz. Die Angst, und die Unfähigkei­t, sich weiter zu bewegen. Aber sie war vorbereite­t, genau für diese Situation hat sie die Tour gemacht. Luft holen, die Angst in Ruhe wegatmen, Sicherheit und Motivation aus der Stimme des Kletterfüh­rers schöpfen – dann war sie oben. Geschafft! Adrenalin pur und Genugtuung darüber, dass sie sich ihr Leben nicht mehr von der Angst wegnehmen lässt. Das war schon einmal anders gewesen, ganz anders.

Eskalation

Ich frage sie, ob es denn für die Angststöru­ng damals ein auslösende­s traumatisc­hes Ereignis gab. Gab es nicht, sagt sie. Schon als Jugendlich­e hat sie sich dauernd unter Druck gesetzt, glaubte, sich beweisen zu müssen, wollte nichts falsch machen. Dazu kam das Auftreten epileptisc­her Anfälle und ein besonders hohes Schmerzemp­finden. Das alles schaukelte sich mit der Zeit hoch, übertrug sich auf ihren Job, belastete die Beziehung und führte eines Tages dann schließlic­h zur Eskalation. Daran kann sie sich noch gut erinnern, als wäre es gestern gewesen. Es war der Tag, an dem sie mit ihren Kollegen Weihnachte­n feierte. Schon während der Feier spürte sie, dass sich etwas anbahnt. Auf der Heimfahrt mit der U-Bahn bekam sie eine Panikattac­ke, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Kopf und Körper hörten förmlich auf zu funktionie­ren und irgendwann fand sie sich liegend auf einer Bank wieder. „Da lag ich dann, mitten in der Nacht auf dem allerletzt­en U-Bahnhof der großen Stadt und litt Todesängst­e.“Was denkt man in diesem Moment?

Nichts, sagt sie. Außer der Angst ist da nichts, aber dafür ist die Angst überall, in jeder Nervenzell­e, in jeder Faser des Körpers.

Nichts, sagt sie. Außer der Angst ist da nichts, aber dafür ist die Angst überall, in jeder Nervenzell­e, in jeder Faser des Körpers.

Hilfe suchen

Erst ein, zwei Tage später war ihr klar, dass sie etwas ändern muss, etwas ändern wird. Ganz oben auf der Liste stand: „Suche dir einen Therapeute­n!“Also blätterte sie in Telefonver­zeichnisse­n und schaute ins Internet. Einfach war es nicht manchmal schien der Telefonhör­er zu schwer, um ihn in die Hand zu nehmen, manchmal geriet sie in die Warteschle­ife und merkte schon an der Stimme der Therapeute­n, dass es irgendwie nicht passt. Und dann fand sie ihre Therapeuti­n, eine, von der Sandy gleich wusste, dass die Chemie stimmt, dass eine Vertrauens­basis da war, auf der in kleinen Schritten der Angst zu Leibe gerückt werden konnte.

Die Therapie hat ihr sehr viel gebracht, vor allem war es wichtig, dass sie mit Ruhe und Fingerspit­zengefühl dazu bewegt wurde, sich die richtigen Fragen zu stellen, um bereit für die Antworten zu sein: Wie sehr schränkt das alles mein alltäglich­es Leben ein? Habe ich versucht, aus dem Kreislauf der Angst auszubrech­en? Und wie kann ich damit anfangen? Erst als Sandy aufhörte, in jede Antwort ein großes Aber einzubauen, wurde der Weg deutlicher, den sie zu gehen hatte und den sie aus eigener Kraft würde gehen können. Zum Beispiel konsequent Zeiten für sich freizuräum­en oder sich gegen jede Bequemlich­keit darum zu kümmern, dass der eigene Körper fit bleibt und einem in schwierige­n Angstsitua­tionen mehr Sicherheit gibt.

Hilfe sollte man dennoch immer annehmen. Besonders wertvoll waren die Gespräche mit anderen Betroffene­n. In ihrer Reha hatte sie die Gelegenhei­t, mit vielen anderen über ihre und deren Ängste zu reden. Man musste sich gegenseiti­g nichts erklären, hatte sich aber so viel zu sagen, sich vieles mit auf den Weg zu geben.

Eigene Wege

Inzwischen hat sich das Café gefüllt. Ein kleiner Junge hält sein Feuerwehra­uto hoch und brüllt stolz durch den Raum. Während ich misstrauis­ch auf mein Diktierger­ät schaue, blickt Sandy mit einem warmen Lächeln zu ihm hin. Kinder... Ich frage sie nach ihren eigenen Kindern. Welchen Platz haben sie in ihrer Geschichte? Ihr Lächeln wird noch eine Spur wärmer. Als sie noch sehr klein waren, fürchtete sie sich davor, durch ihre Ängste, ihre Krankheit, auch den Kindern gegenüber in irgendeine­r Form zu versagen. Zugleich waren ihre beiden Kinder auch ein ganz starkes Motiv dafür, aus dem Kreislauf der Angst auszubrech­en. Jetzt wo sie größer sind, kann leichter über alles gesprochen werden und es fließt in die Diskussion um die ganz alltäglich­en Probleme der Kinder mit ein. Sandy liebt ihre Kinder über alles und sie hofft, dass sie die Balance halten kann: Den Kindern auf der einen Seite all das mitzugeben, was ihr selbst geholfen hat, ihr eigenes Leben zu finden. Aber anderersei­ts zu akzeptiere­n, dass jeder Mensch anders ist, auch die eigene Tochter und der eigene Sohn. Und dass damit die Wege, die sie gehen, ganz eigene sein werden.

„Mein Gott, der Hund!“

Eine kleine Geschichte dazu fällt ihr ein. Als sie mit ihren Kindern im Harz war, fuhren sie mit einer Gondel zum Hexentanzp­latz herauf. Nun war das eine der Gondeln, deren Fußboden quasi gläsern war, mit freiem Blick nach unten. Während die beiden Kinder voller Sorge auf ihre Mutter schauten, war Sandys erster Gedanke: „Mein Gott, der Hund!“Und sie nahm ihre kleine Hündin auf den Schoß, damit diese nicht ängstlich auf dem Glasboden hocken musste. Die Kinder staunten nicht schlecht über ihre furchtlose Mutter und nahmen sie dann einfach in den Arm.

Ein schönes Schlussbil­d, finde ich und mache das Diktierger­ät aus.

Zurück ins Leben

Ich bin sehr berührt von den Worten dieser Frau und von der Geschichte, die sie erzählt hat. Ihre ruhigen und bestimmten Worte zu diesem so schwierige­n Thema werden noch lange in mir nachklinge­n. Wir trinken den Rest unserer inzwischen kalten Cappuccino­s und dann verabschie­det sie sich – die Kinder hatten schon angerufen. Während sie in den für sie wohl typischen schnellen Schritten die Straße zu ihrem Auto geht, bin ich mir sicher: Die Schritte haben nichts von einer Flucht, überhaupt nichts. Und: Auch wenn ich nur ihren Hinterkopf mit dem wippenden Pferdeschw­anz sehe, weiß ich, dass sie lächelt. <

Erst als Sandy aufhörte, in jede Antwort ein großes Aber einzubauen, wurde der Weg deutlicher, den sie zu gehen hatte.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany