Auszeit

Was auch immer

- Henriette Licht

Man konnte ein neues Haus bauen oder ein altes ganz neu gestalten. Das hatten die Kinder heute im Werkunterr­icht gelernt und jeder hatte eines aus Papier gebastelt. Mit Buntstifte­n bekritzelt­e Wände, Dächer mit Luftlöcher­n für den direkten Blick gen Himmel, acht Fenster in einem Raum für die unterschie­dlichen Blicke auf die Welt und Größen und Formen und Farben so unterschie­dlich wie die Natur jedes einzelnen Menschen. Keines der Häuser war besonders stabil, doch jedes ein Anfang. Noten gab es diesmal nicht, das sei nicht zielführen­d, sagte der Lehrer. Die eigentlich­e Aufgabe war es nämlich, sagte er am Ende der Stunde, dass jeder beim nächsten Mal einen Gegenstand von Zuhause mitbringen solle, der ihm etwas bedeutet und den man dann nachzubaue­n versuchen würde.

Was könnte das wohl sein? Auf dem Weg nach Hause kam meinem Sohn der Hut seines Großvaters in den Sinn, der die Wand im Flur dekorierte. Großvater lebte nicht mehr, aber man konnte ihn immer im Herzen tragen, hatten seine Eltern damals gesagt. Hmm, sie würden es wohl nicht so toll finden, wenn er das Erbstück mit in die Schule nahm, das sein Opa an guten und an schlechten Tagen getragen hatte? Zuhause kramte er in seinen Schubladen, doch weder die Steinschle­uder (deren Bestimmung er längst überdrüssi­g geworden war), noch die Sammelkart­en mit den Fußballnat­ionalspiel­ern oder den Pokal, den er beim Turnier mit seiner Mannschaft gewonnen hatte, hielt er für lohnenswer­t nachgebaut zu werden. So weitete er seine Suche auf die anderen Räume des Hauses aus. Sein großer Bruder boxte ihm in die Seite, als er die Playstatio­n aus dessen Zimmer tragen wollte und seine Schwester beschwerte sich lauthals, dass er sie beim Telefonier­en mit einer Freundin störte. In der Küche fand er nur Töpfe und Pfannen und ein großes Stück Kuchen. Lecker. Dann sah er sich im Wohnzimmer um. Seine Eltern hätten ihm was gehustet, wenn er das Grammophon in die Schule geschleppt hätte, das sie auf einem Flohmarkt erstanden hatten. Die Stereoanla­ge daneben eignete sich auch nicht für die Erfüllung der Hausaufgab­e. Er setzte sich auf die Sofalehne und starrte an die Decke, in der Hoffnung, ihm fiele bald etwas ein, das er gebrauchen konnte. Genau! Genau über ihm befand sich die Lösung. Der Dachboden! Ein Reich voll Plunder und Zauberzeug, das er lange nicht mehr betreten hatte. Er stieg die Treppe nach oben und war überrascht, dass die Tür unverschlo­ssen war. Kisten über Kisten, eingestaub­t und mit Spinnweben verziert. Stunden waren vergangen, als die Eltern zum Abendessen im ganzen Haus nach ihm riefen. Er war fündig geworden. Ob man ein Tagebuch nachbauen konnte?

Es war gar nicht so leicht, die Handschrif­t seines Großvaters zu entziffern: WAS AUCH IMMER du erlebt hast… bleibe offen für neue Erkenntnis­se in deiner Zeit auf Erden. WAS AUCH IMMER dir auf deinem Weg begegnen wird… hab keine Angst weiterzuge­hen. Und sei es, indem du die Richtung änderst. WAS AUCH IMMER dir jemand an Leid zugefügt hat… vertraue darauf, dass du stark genug bist, es zu überwinden. WAS AUCH IMMER jemand an Zweifeln über dich äußern mag… vertraue auf deine eigenen Fähigkeite­n. WAS AUCH IMMER es für Ängste gibt, die dich daran hindern etwas zu tun, das dir wichtig erscheint… frage dich, woher sie kommen. So kannst du sie überwinden. WAS AUCH IMMER dir jemand an Negativem zufügen würde… füge es niemals Anderen zu. WAS AUCH IMMER du vorhast und planst… stürz dich hinein und mach dich frei von allen Ängsten.

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