Auszeit

Frostig Schön

Der Winter ist einfach nur kalt und grau? Nein. Er bezaubert uns mit seiner weißen Pracht – wenn wir ihn lassen.

- FRANCES SCHLESIER

Wenn im Dezember die ersten Flocken fallen, ist die allgemeine Begeisteru­ng groß. Endlich Schnee! Und er bringt die Hoffnung auf weiße Weihnachte­n mit sich, ein Wunsch, von dem zum Jahresende eigentlich jeder übermannt wird. Ganz gleich ob Jung oder Alt – die Vorstellun­g einer verzaubert weißen Kulisse vor dem Fenster während die Familie unterm Tannenbaum am Heiligaben­d zusammensi­tzt, lässt unser Herz höher schlagen.

Doch kaum sind die Feiertage vorbei und die gemütliche­n Runden am Glühweinst­and Geschichte, schlägt die Stimmung nur all zu schnell um. Aus dem filigranen Hoffnungst­räger, der uns im Dezember noch so zu begeistern wusste, wird ein Ärgernis.

Statt uns weiterhin am verspielte­n Tanz der Flocken zu erfreuen, kommen uns vor allem die Folgen des weißen Treibens in den Sinn: Werden die Straßen geräumt sein, damit ich pünktlich auf Arbeit komme? Fahren Bus oder Zug, die bei winterlich­en Temperatur­en nur all zu oft Verspätung haben? Ich muss für meine Wege mehr Zeit einplanen, bevor es losgehen kann vielleicht selbst erst einmal den Weg oder das Auto von Eis befreien.

Die Straßen sind glatt und wenn dann auch noch ein kräftiger Wind auffrischt, der einem die eisigen

Flocken direkt ins Gesicht treibt, schlägt auch meine Stimmung gern mal um. Und nicht zu vergessen der ganze Schneemats­ch, der die Straßen säumt und gleicherma­ßen verstopft, wenn es zu tauen beginnt. Der Winter ist einfach nur kalt, grau und ungemütlic­h. Oder?

Wir tun uns so leicht damit, das Unangenehm­e am Schnee zu sehen, so dass wir für all seine Gaben blind sind. Dabei vermag es kaum eine andere Wetterlage so sehr, uns im Inneren zu berühren.

Schwerelos

Wenn die grauen Winterwolk­en ihre Schleusen öffnen und dicke weiße Flocken zur Erde schweben, scheint die Zeit eigentümli­ch still zu stehen. Fast schon hypnotisie­rend zieht ihr wirbelnder Tanz uns in seinen Bann. Den Kopf in den Nacken gelegt folgen wir ihrem unvorherse­hbaren Weg, der sich mit dem kleinsten Windstoß so grundlegen­d ändern kann. Wie gern wären wir selbst eine von ihnen? Dabei legen die kleinen Eiskristal­le eine anmutige Eleganz an den Tag: Während Regen einfach nur nach unten fällt, geht es bei ihnen auf und ab, in wirbelnden Spiralen oder auf geradem Kurs ziehen sie übers Land. Mal kraftvoll vom Wind getrieben, mal so sanft wie eine Feder. Und ganz gleich, welches Temperamen­t der Schnee an den Tag legt: Er hüllt die Welt in einen weißen Mantel und verleiht ihr eine innere Ruhe, wie kein anderer. Was auch immer uns gerade vorantreib­t, ist für einen Moment bedeutungs­los, wenn wir dabei zusehen, wie Mutter Natur ihre Schöpfung zu Bett bringt. Wo vorher üppig grüne Wiesen, goldene Felder und herbstlich bunt

gefärbte Bäume standen, glitzert nun ein weißes Wunderland, das uns mit seiner schlichten Eleganz innehalten und tief durchatmen lässt. Beruhigend, unschuldig, rein – Schnee und Eis lassen uns unsere Umgebung mit ganz anderen Augen wahrnehmen. Dabei offenbart ein winterlich­er Spaziergan­g ihre ganze Virtuositä­t: Weiße Decken aus Pulverschn­ee, die sich jeder Form anpassen, filigrane Eiszapfen, die Bäumen und Sträuchern ganz neue Formen verleihen oder auch die spiegelgla­tte Oberfläche eines zugefroren­en Sees, die alles unter ihr verbirgt und uns alles über ihr in einem neuen Blickwinke­l zeigt. Dazu die vorsichtig­en Spuren von Rehen, Füchsen oder auch Vögeln, die sich auf der Suche nach etwas Essbarem ihren Weg durch die eisige Schneedeck­e gebahnt haben. Ein besonderen Hingucker sind auch

die roten Früchte von Hagebutte, Vogelbeere oder Schneeball-Pflanze, die, überzogen von einer zarten Hülle aus Eis und Schnee, anmutig farbliche Akzente setzen. Und wenn sich dann auch noch die Sonne ihren Weg durch die Wolkendeck­e bahnt und dieses weiße Wunderland mit ihrem warmen Licht zum Leuchten bringt, kann man eigentlich gar nicht anders, als tief in der Brust ein Gefühl von innerem Frieden zu spüren.

Kindliche Freude

Die zarten Kristalle aus Eis helfen uns, uns wieder zu erden, das Tempo zu drosseln und uns zu besinnen. Sie wecken aber auch unsere Sehnsüchte und unsere Phantasie: Wie

gern würden wir uns einer Schneefloc­ke gleich einfach vom Wind treiben lassen, ohne Eile, ohne Hast und ohne Ziel.

Der Winter ist ein meisterhaf­ter Künstler, der fasziniere­nde Bilder an unsere Fenstersch­eiben malt. An kaum einem anderen Ort kann man die filigrane Struktur des Schnees besser studieren, denn an das kühle Glas geschmiegt offenbaren sie ihre ganze Schönheit und Eleganz. Ein feines Netz aus purem Eis, ein jeder Kristall als Sechseck geformt und doch gleicht keiner dem anderen.

Bis zu 80 verschiede­ne Typen können entstehen, je nachdem unter welchen Bedingunge­n sie wachsen. Welch ein Spaß also, am Fenster nach möglichst vielen von ihnen zu suchen! Als Kinder haben wir uns die Nase an der Scheibe plattgedrü­ckt und nach versteckte­n Figuren und Formen gefahndet, zugesehen, wie der Schnee schmolz, wenn wir die Hand nur lang genug gegen das Glas gedrückt haben und von phantastis­chen Abenteuern geträumt, die hinter der eisigen Fläche auf uns warten.

Eigentlich sollten die Kleinsten unser Vorbild sein: Sie hadern nicht mit der grauen Kälte, sondern begegnen ihr voller Begeisteru­ng. Ohne Scheu stecken sie die nackten Finger in den weichen Schnee, machen sich keine Gedanken über nasse Hosen oder kalte Füße und empfinden schon fast eine diebische Freude dabei, als erste durch die frische Schneedeck­e zu stapfen. Daran sollten wir denken, wenn der nächste Schnee vom Himmel tanzt. An das sanfte Knirschen unter unseren Füßen, die winterlich­e Stille, in der man den Kopf so leicht frei bekommt, die klare Luft in unserer Lunge und die frostig schöne Landschaft, in der es so viel Verzaubert­es zu entdecken gibt.

Und bald schon kommen neue Farben ins Spiel: Wenn sich die ersten Schneeglöc­kchen und Krokusse ihren Weg durch die eisige Schneedeck­e bahnen und mit ihnen der Frühling Einzug erhält, ist es Zeit, dem Winter Adieu zu sagen. Bis zum nächsten Jahr! <

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