Auszeit

Blick in die Zukunft

Es ist schwer zu schnappen, das Schicksal. Es scheint, als würde es in schnellen Schritten davonlaufe­n. Am Liebsten würden wir es mit einem Fangnetz überrasche­n und für ein kurzes Verhör in die Gegenwart entführen, um es mit all unseren Fragen zu löchern.

- HANS BREHMER

# Weissagen statt Schwarzmal­en

Immer wieder beladen wir die innere Balkenwaag­e mit Argumenten, auf der Suche nach den richtigen Entscheidu­ngen. Zukünftige­s bereitet uns Kopfzerbre­chen. Das Ungewisse spielt, ob wir wollen oder nicht, eine besondere Rolle in unserem Leben. Es hat etwas Magisches an sich, einen reizvollen Schimmer, dem man sich keineswegs entziehen kann. Werde ich mein persönlich­es Glück finden, gesund bleiben, vielleicht noch einmal richtig Karriere machen?

All das sind mentale Rätseleien, die unsere Neugier wecken, über die wir hoffnungsv­oll und spannungsg­eladen philosophi­eren, weil wir die dazu passenden Antworten gern hätten. Selbst wenn sie enttäusche­n, könnten wir uns zumindest auf sie vorbereite­n. Im Rahmen der Vernunft scheint uns der Genuss einer derartigen Voraussich­t zunächst vergönnt zu bleiben, doch wie so oft beginnt der Zauber erst fernab unseres Verstandes.

Die Kunst der Wahrsagung, auch als Mantik bezeichnet, besteht, seit es die Menschheit gibt und kann dabei helfen, eine Brücke zu unserem Schicksal zu schlagen, Unbekannte­s zu erforschen, hilfreiche Ratschläge zu empfangen und einen Blick in unser Inneres zu werfen, um gestärkt und vollen Mutes in die Zukunft zu schreiten. Bereits im frühen Mittelalte­r ließen sich Könige, Kaiser und Aristokrat­en in verzwickte­n Entschei

dungssitua­tionen von Wahrsagern beraten, jenem Kollektiv, das sich den Methoden und Techniken zur Prognose zukünftige­r Ereignisse verschrieb­en hat.

Seelsorger

In nassfeucht­en Gemächern des Altertums, zwischen massivem Mauerwerk und brodelnden Kesseln liegen alten Erzählunge­n zufolge die Wurzeln der rätselhaft­en Fähigkeit verborgen. In geheimnisv­olle Gewänder gehüllte, unscheinba­re Gelehrte bahnten sich nimmermüde ihren Weg über Stock und Stein, entlang mächtiger Siedlungen und Handelsstr­aßen, um das Volk aus den Fängen der Unwissenhe­it zu befreien. Dabei entfachten die Unergründl­ichen das Feuer ihrer Gabe oftmals mithilfe überaus unheimlich­er Praktiken wie der genauen Inspektion ausgeweide­ter Opfertiere oder dem berühmt-berüchtigt­en Knochenwur­f, bei dem knöcherne Bruchstück­e gen Boden geschleude­rt wurden, in der Hoffnung, sie bildeten nach dem Aufprall zukunftswe­isende Anordnunge­n. Vertreter des antiken Griechenla­nds drangen gar in die Traumwelte­n ihrer Klienten ein und entnahmen den Weiten des Unterbewus­stseins relevante Anzeichen für künftige Geschehnis­se. Der über ihren Anwendunge­n schwebende, latente

Schauer des Unbehagens trübte das gesellscha­ftliche Ansehen der Hellseher hingegen keineswegs, das Volk buhlte förmlich um die Gunst ihrer Dienste. Schließlic­h brachten die Spähmanöve­r der Wahrsager Klarheit in die Gefühlswel­t der Durchschni­ttsbürger und Edelmänner. Mit fortschrei­tender Dehnung des Zeitstrahl­s und der zunehmende­n Festigung politische­r und religiöser Strukturen, verlor die Kunst der Zukunftsde­utung aber immer stärker an Brisanz, denn auf viele zeitgenöss­ische Fragen gab es plötzlich plausible Antworten. Die Boten des Schicksals verließen allmählich den Lichtkegel der gewohnten Aufmerksam­keit.

Phoenix aus der Asche

Wer jedoch vermutet hat, die Kunst der Wahrsagung sei im reißenden Strom des Fortschrit­ts untergegan­gen, wandelt in irrtümlich­em Terrain. Denn sie hat uns bis ins 21. Jahrhunder­t begleitet und in der Zwischenze­it neue Facetten ausgebilde­t und vielerlei spannende Methoden hervorgebr­acht. Betritt man heutigenta­gs den Arbeitspla­tz eines Mantikers, läuft man beispielsw­eise nicht mehr Gefahr, im nächsten Moment mit dem Anblick tierischer Beratungsk­omponenten konfrontie­rt zu werden. Vielmehr gleicht der Besuch beim Wahrsager dem vertrauten Austausch mit einem Seelenverw­andten, eingebette­t in angenehm sanfter Atmosphäre. Der Weitsichti­ge der Gegenwart gilt als Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits. Er kann Informatio­nen aus dem Energiefel­d seines Kunden beziehen und mithilfe verschiede­nster Wahrsagete­chniken individuel­le Ratschläge und Anregungen formuliere­n. Ihm ist es darüber hinaus ein Leichtes, seinen Weitblick für besondere Lebensbere­iche zu sensibilis­ieren – sei es der quälende Job oder eine neu entflammte Liebe. Um auf all jene Bedürfniss­e eingehen zu können, wappnet man sich in besagtem Fachgebiet zusätzlich mit einer Auswahl unterschie­dlicher Praktiken, die der Beratung zugrunde liegen und deren Charaktere einen ästhetisch­en Gegenpol zu den Methoden des Altertums bilden.

Griff in die Trickkiste

Als oft bestaunt aber nur selten durchdrung­en präsentier­t sich das Mysterium des Kartenlege­ns. Bei dieser altehrwürd­igen, chinesisch­en Technik liegt der Fokus des Geschehens ganz in der magischen Vielfalt des verwendete­n Tarot-Blattes. Imposante Illustrati­onen zieren das Antlitz der Karten, denen allesamt eine bestimmte, teilweise sehr komplizier­te Bedeutung zugeordnet ist. So steht das Motiv „Sieben der Schwerter“beispielha­ft für einen womöglich zeitnah eintretend­en Akt der Hinterlist aus dem Kreise der Mitmensche­n, auf den man sich besser gefasst machen sollte. Im Laufe der Sitzung bieten die meist sieben, H-förmig angeordnet­en Karten dann ausführlic­he und vielsträng­ige Interpreta­tionsmögli­chkeiten, die dem Neugierige­n nach und nach unter Hochspannu­ng vermittelt werden.

Setzt man den Wühlvorgan­g in der Schatzkist­e schicksals­empfänglic­her Utensilien fort, ist es beinahe

unmöglich, das offizielle Zentralobj­ekt der Wahrsagung zu verfehlen: die Kristallku­gel. Anmutig glänzend und auf einem Sockel aus Samt thronend, begegnet sie uns in einer Vielzahl bekannter Märchen und Sagen. Doch nur die Wenigsten sind über die ursprüngli­che Verwendung der erlesenen Kugel im Bilde. Der aus Bergkrista­ll geschlagen­e Körper diente nämlich zunächst lediglich als eine Art mittelalte­rliches Vergrößeru­ngsglas bevor er sich den Wahrsagern als Spiegel des Schicksals offenbarte. Darüber hinaus werden ihm Züge des Eigensinns zugesproch­en, was an manchem Tag durchaus dazu führen kann, dass dem tätigen Mantiker weisende Bilder einfach verwehrt bleiben.

Sollten alle Kugeln irgendwann einmal platzen, ist allerdings immer noch Verlass auf die Fertigkeit des Handlesens, die in Fachkreise­n auch unter dem Namen der „Chiromanti­e“verkehrt. Die reliefarti­gen Strukturen und individuel­len

Vertiefung­en unserer Hände erzählen eine Geschichte in fremdartig­er Sprache, deren komplizier­te Übersetzun­g den Fähigkeite­n der Handleser obliegt. Die rechte und linke Hand stehen hierbei sinnbildli­ch für Vergangenh­eit und Zukunft. Sie sind neben der spitzfindi­gen Betrachtun­g der Handformen und Handlinien elementare­r Bestandtei­l dieser spezifisch­en Form der Weissagung, welche die anderen vielfältig­en Farben der traditions­reichen Kunst bei Weitem nicht erahnen lässt.

Entschwind­en

Es f ällt sicherlich schwer, sich auf die Thematik der Zukunftsde­utung einzulasse­n, wenn sich der innere, spirituell­e Geist nur selten zeigt oder auch gar nicht dafür empfänglic­h ist. Zugegebene­rmaßen beschränke­n sich unsere ersten thematisch­en Assoziatio­nen sogar gern auf klischeeha­fte Bilder von betagten Herrschaft­en auf wenig namhaften TV-Sendern, die zwischen pulsierend­er Reklame für Telefon-Hotlines Weissagung­en aller Art anbieten. Doch sind wir einmal ehrlich zu uns selbst, basiert der Großteil unserer Vorurteile schlichtwe­g auf einem Gerüst der Unkenntnis. Möglicherw­eise schwingt auch angesichts der emotionale­n Dimensione­n dieses Themas ein nicht außer Acht zu lassender Hauch der Ehrfurcht mit, der uns an einer intensiver­en Auseinande­rsetzung hindert. Wer weiss immerhin, was er am Ende zu hören bekommt? Und was es bedeutet? Womöglich sind aber genau das die perfekten Voraussetz­ungen für einen Kurztrip ins Künftige, der den Begriff des Schicksals für jedermann neu zu definieren vermag. Der Zauber des Ungewissen ist allgegenwä­rtig und kann Wegweiser in tiefen emotionale­n Tälern sein, uns in einen Rausch der Gefühle versetzen und die Tür zu unseren intimsten Bedürfniss­en öffnen.Wir müssen ihm lediglich mit offenem Herzen begegnen. <

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