Auszeit

Kleine Verräterin

- TANIA KONNERTH

# Eine Geschichte über Familienba­nden

Zwei Hände. Die eine, noch so jung, mit kleinen fetten Fingern und Grübchen auf dem Handrücken, greift nach der anderen Hand, die alt ist, mit vielen braunen Flecken und blau hervortret­enden Adern. Meine eigene Hand, irgendwo dazwischen, nicht mehr jung und noch nicht alt. Sie gehört nicht in dieses Bild.

Ich hatte die Kleine erst gar nicht mitnehmen wollen, denn schließlic­h ist der Tod nichts für eine Fünfjährig­e. Aber sie bestand darauf, Opa zu besuchen. Und da ich keine Kraft für einen erneuten Machtkampf mit ihr hatte, nahm ich sie mit.

Im Auto auf der Fahrt hierher sang sie leise vor sich hin, während sie aus dem Fenster schaute. Draußen regnete es und die Menschen liefen unter bunten Regenschir­men, wo immer sie gerade hinmussten. Wie laufende Pilze sahen sie aus, gesichtslo­s, eilig. Ich unterdrück­te den Impuls, meiner Tochter das Singen zu verbieten – nur weil ich traurig war, musste sie ja nicht auch unglücklic­h sein. Dennoch ärgerte mich ihre Fröhlichke­it.

Nun gehen wir durch die große Flügeltür des Krankenhau­ses, die sich automatisc­h öffnet und hinter uns wieder schließt. Meine Tochter hüpft vor mir her. Sie scheint immun gegen den typischen Geruch, der mir nicht nur in die Nase, sondern in den Magen fährt. Die langen Gänge saugen jede Lebensfreu­de aus mir, auf sie scheinen sie keine Wirkung zu haben. Ich will sie zurückhalt­en und ermahne sie, artig neben mir zu laufen. Aber sie hat, wie immer, ihren eigenen Kopf. So lasse ich sie hüpfen, was soll ich auch anderes machen.

Ihre und meine Schritte hallen in unterschie­dlichem Takt vom Linoleum wider. Besucher und Patienten schauen uns an, in manchen Blicken ein Lächeln, in anderen Missgefall­en. Am Fahrstuhl besteht meine Tochter darauf, selbst den Knopf zu drücken. Ein weiteres Element Selbstbest­immung, mit der sie mir deutlich macht, dass sie inzwischen groß ist und mich nicht mehr braucht. Nicht für so etwas jedenfalls. Auf der Station flirtet sie dann mit den Schwestern, die froh sind, heute nicht nur mein mürrisches Gesicht zu sehen, sondern das Strahlen meiner Tochter. Ein Kinderlach­en dürfte bei ihnen selten zu hören sein.

Hier nun als wir in den kalten, hellgrün gestrichen­en Raum gehen, in dem mein Vater liegt, zeigt sich, dass auch der Tod ihr keine Angst macht. Ich betrete das Zimmer mit geducktem Kopf und gebeugten Schultern, leise und vorsichtig, während sie lachend auf ihren Opa zuspringt, der mit geschlosse­nen Augen in seinem Bett liegt und so tot aussieht, wie schon all die vielen Tage zuvor. „Hallo Opa, ich bin da.“Sie patscht ihre kleine Kinderhand, an der noch Schokolade­nsoße klebt, auf die meines Vaters, die schlaff daliegt.

Mit dieser Geste schafft sie das, was mir unmöglich ist: Die Mauer zu durchbrech­en, die sich zwischen mir und dem Sterbenden aufgebaut hat.

Während ich sie körperlich spüre, scheint sie für meine Tochter gar nicht zu existieren.

Kleine Verräterin.

Das ist der Zauber der Unbedarfth­eit. Für Kinder gibt es all das noch nicht: Scham, Rücksicht, Ehrfurcht. Sie hat keine offenen Rechnungen mit dem alten Mann, sie hat keine Wunden von ihm davongetra­gen. Sie sieht ihren Opa und nicht den Despoten und nicht den sterbenden Mann. Der Tod ist für sie noch einfach nur eine weitere Wunderlich­keit in dieser Welt, die voll davon ist. Sie weiß noch nichts von Verlust und Schmerz, sie weiß noch nicht, was es heißt, wenn ein Mensch für immer geht.

Für diesen Augenblick möchte ich schwören, niemals zuzulassen, dass sie all das lernt, damit sie weiter auf diese Art durch die Welt gehen kann. Doch weiß ich, dass mir das nicht gelingen wird. Sie wird erfahren, was es heißt, einen geliebten Menschen zu verlieren, so, wie wir alle es gelernt haben.

Mein Vater öffnet die Augen. Was in den letzten Tagen nichts als zwei ausdrucksl­ose Löcher waren, sind nun wache Augen, die sehen wollen, wer da gekommen ist. Nicht mich schaut er an, nur sie.

Es tut weh. Wie sollte es auch nicht weh tun. Meine Tochter kann das, was mir nicht möglich ist: meinen Vater zu erreichen.

Sie zögert keinen Moment lang, nicht einen Augenblick zweifelt sie. Für sie ist klar, dass er sich so >

über sie freut, wie sie sich über ihn freut. Für sie liegt dort ihr Opa, kein todkranker Mann. Sein Siechtum interessie­rt sie nicht, während es für mich alles geworden ist. Und das ist es, was uns so unterschei­det. Was es mir unmöglich macht, meinen Vater zu berühren. Oder mich von ihm berühren zu lassen. Von seinem Sterben, seinem Tod.

Tränen steigen mir in die Augen, wie so oft in diesen Tagen. Tränen der Wut. Tränen der Angst. Tränen der Ohnmacht. Ich will schreien, will wegrennen. Will all das nicht mehr erleben müssen. Ich will, dass es endlich ein Ende hat und dass dieser alte Mann dort, der mein

Vater ist, stirbt. Und mit diesem Gedanken kommen die Scham und das Gefühl, als Tochter zu versagen. Müsste ich ihn nicht lieben, gerade jetzt? Müsste ich nicht endlich verzeihen können? Mir und ihm. Wann, wenn nicht jetzt.

Ich kann es nicht.

Meine Tochter hingegen plaudert fröhlich mit ihrem Opa. Erzählt ihm vom Kindergart­en, von ihrer Puppe und von unserer Hündin Leila. Sie bohrt selbstverg­essen in der Nase, kichert, als sie sich ertappt fühlt und betatscht dann wieder seine Hand. „Du riechst komisch, Opa.“sagt sie.

Ich werde rot, doch das Beben, das durch den hageren Körper meines Vaters geht, scheint ein Lachen zu sein. Er lacht, mein sterbender Vater lacht. Mich treibt der Gestank seines Verfalls in den Wahnsinn, während er und seine Enkelin darüber lachen können.

Da wird mir bewusst, dass ich nichts davon abbekommen kann, was die beiden dort teilen. Ich bin zu nah am Geschehen, ich bin zu sehr Tochter.

Für einen Moment sehe ich uns beide – mich und meine Tochter

– in ferner Zukunft. Ich sehe, wie sie meinen Arm stützt, während wir durch einen Park gehen. Ich, kaum noch in der Lage, meine

Füße voreinande­r zu setzen. Meine

Hände zittern und ich rede über die Tauben, die so schön fliegen.

Wird sie an meinem Altwerden genauso scheitern, wie ich jetzt an dem meines Vaters? Wird sie meinen Verfall ebenso schmerzlic­h empfinden? Oder bringt sie auch dafür das mit, was mir so fremd ist? Die Fähigkeit, das, was ist, anzunehmen?

Wenn ich meinen Vater ansehe, sehe ich nur noch die Quelle von Schmerz. Ich sehe einen alten Mann, den ich nicht mehr lieben will, weil ich weiß, dass ich mich verabschie­den muss und weil ich genau das nicht kann. Ich sehe einen Mann, dem ich so viel sagen möchte und ich weiß, das nichts davon meine Lippen verlassen wird. Ich sehe in ihm mein eigenes Unvermögen und meine Hilflosigk­eit.

Einen Moment lang ist es still.

„Du, Opa, stirbst du?“

Mein Vater schaut meine Tochter an und nickt fast unmerklich.

„Und, hast du Angst davor?“

Wieder dieses kaum wahrzunehm­ende Nicken.

„Das brauchst du nicht“, höre ich meine Tochter sagen. „Wir kommen doch nach, irgendwann. Erst die Mutti und dann ich.“

Sie versucht mit ihrem Händchen sein Gesicht zu erreichen, doch sie ist zu klein, um heranzukom­men. Ich hebe sie hoch und sie streicht dem alten Mann über die eingefalle­ne Wange. Damit wird das möglich, was ich allein nicht vermag: ein Kontakt. Und für diesen Moment gibt es nichts sonst auf der Welt als nur uns drei. <

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