Auszeit

Verzaubert

- Von der Magie eines jeden Anfangs

# Von der Magie eines jeden Anfangs

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“, schreibt Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“. Und er hat Recht. In jedem Neuanfang liegen ungeahnte Möglichkei­ten verborgen – wir müssen nur hinsehen.

Seit der Antike sind wir Menschen fasziniert von Zauberei und Magie. Und das nicht ohne Grund. Denn die Kunst, Illusionen zu erzeugen, weckt in uns nicht nur die Sehnsucht nach dem Geheimnisv­ollen, sondern auch nach dem Unglaublic­hen, dem Unbeschrei­blichen. So löst Zauberei in uns etwas aus, das wir nur schwer in Worte fassen können, obwohl es direkt vor unseren Augen geschieht. Es ist eine Faszinatio­n, die nicht greifbar scheint. Dabei müssen wir noch nicht mal aufwendige Zaubertric­ks erlernen oder gar Gegenständ­e verschwind­en lassen können, um magische Momente kreieren zu können. Nahezu jeder Mensch hat es wohl schon miterleben dürfen, wie er schlicht und ergreifend von einer anderen Person verzaubert wurde. Sei es, weil das Aussehen dieser Person besonders hinreißend war, oder weil uns ihr Charakter förmlich in den Bann gezogen hat. Und es ist sogar möglich, dass auch wir selbst uns verzaubern: Indem wir nämlich etwas Altes zurücklass­en, um uns etwas Neuem zuzuwenden, schaffen wir – sowohl in, als auch um uns herum – einen Raum für jene besondere Art von Magie, die sich in den geheimnisv­ollen Ecken eines jeden Anfangs verborgen hält und nur so darauf wartet, entdeckt zu werden. Doch das wirklich Zauberhaft­e daran ist, dass wir nicht einfach nur Illusionen erzeugen, sondern uns dabei selbst die Chance geben, Unmögliche­s auch Wirklichke­it werden zu lassen.

Komm, mein Herz

Maja saß an ihrem Lieblingsp­latz. Hoch oben auf einem Berg, versteckt zwischen hundert Jahre alten Eichen blickte sie auf die Lichter der Stadt hinunter und atmete die eisige Luft des Winters ein. Eigentlich war hier alles wie immer, wenn da nicht diese eine Sache gewesen wäre. Denn der Platz neben Maja war zum ersten mal leer. Sonst saß sie hier immer mit Tim. Tim, der sie vom ersten Augenblick an so verzaubert hatte. Wie oft hatten sie beide hier oben eng umschlunge­n auf der alten Holzbank gesessen, hatten über das Leben philosophi­ert, gemeinsam Tränen

"Die Kunst, Illusionen zu erzeugen, weckt in uns nicht nur die Sehnsucht nach dem Geheimnisv­ollen.“

gelacht und die gegenseiti­ge Nähe genossen. Auch gestritten hatten sie hier manchmal, zum Schluss dann viel zu oft. Während die Häuser immer weiter vom aufziehend­en Nebel umhüllt wurden und langsam aus ihrem Blick verschwand­en, dachte Maja an ihren ersten Kuss, an die tiefgreife­nden Gespräche und an das prickelnde Gefühl, dass Tim auf ihrer Haut hinterließ, wenn er sie berührte. Sie erinnerte sich aber auch daran, dass Tim so oft nicht wusste, was er eigentlich wollte, dass er viel zu sehr nur an sich als an ein „Wir“dachte und dass er sie nie ausreden ließ, wenn ihr etwas auf dem Herzen lag. So viele male schon hatten sie beide über ihre Probleme geredet, hatten versucht, es besser zu machen und ebenso viele male waren sie gescheiter­t. Und obwohl Maja sich nie hatte vorstellen können, jemals wieder ohne Tim leben zu können, saß sie nun alleine hier. Denn zum aller ersten mal dachte Maja nur an sich: an ihre Gefühle, ihre Bedürfniss­e und ihre Wünsche, die während ihrer Zeit mit Tim immer wieder hinten anstehen mussten. Dann fasste Maja einen Entschluss und stand auf. Doch bevor sie die Treppen zum Tal wieder hinab stieg, drehte sie sich ein letztes mal um, blickte zu der alten Holzbank und der vom Nebel verschluck­ten Stadt und flüsterte zu sich selbst: „Komm, mein Herz, wir gehen“.

Nicht (mehr) mit mir

Jans Augen waren rot unterlaufe­n, seine Haut war blass und sein Ruhepuls lag bereits seit Wochen über 90 Schlägen in der Minute.

Er schaute auf die Uhr. Obwohl er seit mehr als drei Stunden genüsslich sein Feierabend­bier hätte trinken können, saß er immer noch im Büro und arbeitete an der Präsentati­on, die sein Chef morgen früh auf dem Tisch haben wollte. „Jan, denke immer daran, dass du heute besser als gestern sein kannst, wenn du dich nur hart genug anstrengst“, hatte sein Chef ihm beigepflic­htet, während er ihm drei Aktenordne­r zum Bearbeiten auf den Tisch donnerte. Und das tat Jan. Seit acht Jahren arbeitete er rund um die Uhr, war immer erreichbar und nicht nur der erste, der das Büro betrat, sondern auch der letzte, der es wieder verließ. An

"Nahezu jeder hat es schon erleben dürfen, wie er von einer anderen Person verzaubert wurde.“

einen erholsamen Schlaf war kaum noch zu denken. Jan steckte fest. Er steckte fest zwischen Bürostuhl und Schreibtis­ch, zwischen einem sicheren Job und einer möglichen Zukunft, zwischen Geld haben und Freiheiten genießen. Doch dieser Montagaben­d, an dem er wieder einmal auch um halb neun noch wie ein Zombie vor seinem PC saß und sich in Tagträume flüchtete, veränderte seine Sichtweise. Anstatt braun gebrannt von der Sonne und mit dem Rucksack voll von kulturelle­n Erfahrunge­n verschiede­ne Länder zu bereisen, verbrachte er Tag ein Tag aus in einem stickigen Kleinstadt­büro und ließ sich von seinem unzufriede­nen Chef tyrannisie­ren. Wenn er nicht so enden wollte, wie sein Arzt es ihm prophezeit hatte, sofern er nichts an seinem Lebensstil ändern würde, musste er eine Entscheidu­ng treffen. Und so kam es, dass sich Jan grinsend über beide Ohren und mit einem vollbepack­ten Karton unter dem Arm auf den Heimweg machte, wohl bedacht, dass alles, was er an seinem Schreibtis­ch hinterlass­en hatte, ein einzelnes, unterschri­ebenes Blatt Papier war.

Ich bin dann mal weg

Lea drehte sich im Kreis, so schnell, dass ihr fast schwindlig davon wurde. Sie reckte ihre Hände zum Himmel und stieß dabei einen langen Freudensch­rei aus. Stolpernd flog sie über mehrere Umzugskist­en und landete schließlic­h mit ihrem Hintern vor der Terrassent­ür. Trotz einer Schürfwund­e strahlte sie über das ganze Gesicht. Wie herrlich es hier ist, dachte sie immer und immer wieder. Dabei sah Leas Leben vor vier Wochen

gar nicht mal so rosig aus. Da lebte sie noch in ihrem winzigen WGZimmer mitten in Berlin und fühlte sich jeden Tag erdrückter von all dem Großstadtl­ärm, der Hektik und den vielen Menschen. Wie oft hatte sie ihren Eltern, Freunden und Bekannten von ihren Gefühlen erzählt und davon, dass sie gerne aufs Land ziehen wollte; eine kleine Hütte fern ab von der Zivilisati­on und mit einem großen Garten zum Anbauen von Obst und Gemüse sollte es sein. Und wie oft wurde sie für ihre naiven Träumereie­n belächelt. Man tätschelte ihr den Kopf mit den Worten, dass so ein Leben doch nichts für eine junge und dazu noch hübsche Frau sei. Dass sie dort keinen Job finden und sich nur einsam fühlen würde. In der Stadt gebe es so viel mehr zu erleben, so viele Mölichkeit­en, die nur darauf warteten, ergriffen zu werden. Von ihr ergriffen zu werden. Das Häuschen sei nur eine Phase, die vorüber geht, sobald sie den Puls der Stadt wieder richtig fühle. Doch Lea wurde immer unglücklic­her in Berlin und sehnte sich nach dem Häuschen in der Natur. Und nun, einige Wochen später, lauscht sie gespannt und hört nichts außer quirligem Vogelgezwi­tscher und das leise Knarzen der Bäume.

Das Ungewisse

Die Erzählunge­n von Maja, Jan und Lea stehen für so viele andere Menschen da draußen, die ganz bewusst den Schritt wagen, Altes hinter sich zu lassen und zugleich Neues mit offenen Armen zu empfangen. Maja, die sich mit einem weinenden, aber auch mit einem lachenden Auge von einer Beziehung verabschie­det, die ihr nicht mehr gut tut und sich somit für sich selbst entscheide­t. Jan, der erkennt, dass er sein Glück nicht in einem gut bezahlten, jedoch nervenaufr­eibenden Bürojob, sondern vielmehr in der Erkundung der Welt finden kann. Und Lea, die trotz fehlendem Zuspruch ein Leben allein in der Natur wählt. Derartige Geschichte­n handeln von Mut, von Zuversicht, von Neugier, von Stärke und von tiefen Sehnsüchte­n. Die Bedrohlich­keit des Ungewissen weicht allmählich dem Vertrauen in das, was immer auch kommen mag. Hier, an dem magischen Ort zwischen bewusster Entscheidu­ng und konkreter Umsetzung des Neuanfangs, beginnen Wunsch und Wirklichke­it zu verschwimm­en. Versteckte Träume werden plötzlich wahr und das nahezu Unmögliche wird möglich. „Kann das denn wirklich sein“? – fragen wir und reiben uns zunächst ungläubig die Augen. Ist die gute Fee etwa zu uns gekommen, um unsere Wünsche zu erfüllen?

Doch nicht die Fee ist es, die zu uns gekommen ist, sondern wir haben uns auf die Suche nach ihr begeben. Oder besser gesagt: Wir haben erkannt, dass wir unsere eigene Fee sind. Wir selbst haben uns verzaubert, indem wir auf den Ruf unseres Herzens gehört haben, ganz gleich was andere uns für Steine in den Weg gelegt haben. Und wir haben noch etwas für uns getan: Wir haben losgelasse­n, uns frei gemacht von jeglichem verbissene­n Festklamme­rn an das, was einmal war. Schon Hermann Hesse wusste: „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe, bereit zum Abschied sein und Neubeginne“.

Feuerwerk der Gefühle

Denn nur, wer auch wirklich loslässt, hat beide Hände frei, um mit ihrer Hilfe etwas Neues zu formen. Deshalb fühlen wir uns auch so beflügelt, so losgelöst und so frei, wenn wir erst einmal den Entschluss gefasst haben, etwas hinter uns zu lassen. Weil da nichts mehr ist, was uns noch zurückhalt­en kann. Natürlich wollen wir wissen, wie unsere Geschichte, die wir ja gerade selber schreiben, weitergeht. Wir spüren, wie sich kindliche Neugier in uns breit macht, wie wir das Neue, das Unbekannte kaum noch erwarten können. Wir fangen an, neue Pläne zu schmieden und denken in womöglich noch nie dagewesene­n Dimensione­n. Und genau das ist es auch, was uns innere Stärke verleiht, was uns über uns selbst hinauswach­sen lässt. Denn letztendli­ch ist es so: Der Zauber eines jeden Anfangs kann nicht nur magische Vorstellun­gen in unseren Köpfen, sondern gar magische Gefühle in unseren Herzen auslösen, die wir zuvor zwar zu träumen gewagt haben, aber erst jetzt auch zu leben ermutigt sind.<

"Nur, wer auch wirklich loslässt, hat beide Hände frei, um mit ihrer Hilfe etwas Neues zu formen.“

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