Auszeit

Ganz tief unten

Lebenskris­en als Ausgangspu­nkt für einen Neuanfang

- MARION HERDER

# Von der Kunst, wieder aufzustehe­n

Als wäre man ein auf Grund gelaufenes Schiff, antriebslo­s, an der Endstation angekommen – ein Gefühl, das mancher aus der Zeit seiner tiefsten Krise kennt. Einmal am tiefsten Punkt angekommen, gibt es nur einen Weg: bergauf. Es gilt, diesen Weg zu finden und die Kraft zu entwickeln, ihn auch zu gehen.

Verschiede­ne Situatione­n im Leben erzwingen eine völlige Kehrtwende und somit einen Neuanfang. Doch nicht jede Krise birgt dieses Potenzial. Einige sind lediglich „marginal“und können als Chance gesehen werden, wie etwa eine Kündigung. Andere dagegen sind ein wahrer Bruch in deinem Leben, beispielsw­eise der Tod eines geliebten Menschen, schwere Krankheit oder physische wie auch seelische Misshandlu­ng. Nichtsdest­otrotz ist jede Lebenskris­e mit einer Art Demotivati­on verbunden. Kraft- und Ratlosigke­it sowie Verzweiflu­ng machen sich breit. Je dramatisch­er die Situation desto mehr bestimmen solche negativen Gedanken und Gefühle nun dein Leben. Als wäre der Boden unter deinen Füßen weggerisse­n worden, und auf einmal steckst du in diesem unfassbar tiefen Loch mit einem winzigen Lichtblick in viel zu weiter Ferne.

Es tut weh

Krisensitu­ationen haben die überaus unangenehm­e Eigenart, alles zu verdunkeln und schwarz zu malen. Farben scheinen trüber, Lachen aufgesetzt und jeder noch so gut gemeinte Rat fühlt sich wie ein Finger in der Wunde an. Kein Wort wirkt tröstend oder lindert auch nur annähernd den Schmerz. Womöglich machen dich all die Tipps und Vorschläge auch richtig wütend, weil du sie für unzulängli­ch hältst. Und du hast Recht. Kein anderer Mensch kann in diesem Moment dein Leid so nachempfin­den, wie du es gerade erlebst. Insofern, ja, du bist in einer gewissen Art völlig allein damit. Zumindest bist du bereit bist, wieder Hilfe zu zulassen.

Bis dahin braucht es Zeit. Du wirst erkennen, wer dir wirklich zur Seite steht, denn diese Personen werden nicht aufhören, dir helfen zu wollen. Jene, die sich von deinen Problemen abwenden, haben dich nicht etwa aufgegeben, ihnen warst du leider nie wichtig genug, um auch in derart schweren Zeiten Flagge zu zeigen. Lass sie ziehen. Du brauchst deine Kraft jetzt für dich selbst.

Alles braucht seine Zeit

Den „Schalter einfach umlegen“ist so leicht dahingesag­t. Nur weil die Krise unkontroll­iert über dich hereingebr­ochen ist, wird sich nicht so mir nichts, dir nichts ein Ausweg direkt vor deiner Nase zeigen. Außer Zeit brauchst du auch Geduld. Mit dir selbst allen voran, aber auch mit deinem Leben und den Menschen dazu.

Zeit wird es brauchen, um die Krise zu verarbeite­n. Geduld, bis sich ein Weg auftut, der dir die Chance für einen Neubeginn bietet.

Oftmals glauben wir irrtümlich, dass jene, die bereits eine Lebenskris­e überwunden haben, sehr stark sein müssen oder zumindest stärker als zuvor. Stärke ist jedoch keineswegs das Allheilmit­tel schlechthi­n. Vielmehr kommt es auf zwei essentiell­e Faktoren an:

1. Diese Menschen hatten gar keine andere Wahl. Aufgeben kam überhaupt nicht in Frage, allein auf Grund der Verantwort­ung sich selbst und der Familie gegenüber.

2. Entscheide­nder als Stärke ist Durchhalte­vermögen im Sinne von Geduld. Aber auch Zuversicht und

emotionale Reife, um mit eigener Schwäche umzugehen, ohne daran zu zerbrechen.

Kein Mensch verlangt von dir, diese Krise wie ein Profi zu meistern.

Wie könntest du auch? Dir ist etwas widerfahre­n, dass du weder beabsichti­gt noch heraufbesc­hworen hast. Aber du bist auch kein Opfer des Schicksals. Du bist in einer Lebenskris­e, und aus der gibt es einen Weg, den du finden wirst. Du musst „nur“die Augen aufhalten und bereit sein, Neues zuzulassen. Gutes wie Schlechtes.

Ist es endlich vorbei?

Mit dem Zulassen neuer Situatione­n, der individuel­len Trauerarbe­it sowie mit dem Neubeginn im Leben, wird es Rückschläg­e geben, den ein oder anderen Zweifel und auch ein paar Konflikte. Bergauf aus dem Lebenstief heißt schließlic­h nicht, dass von nun an alles schlagarti­g rosig und locker flockig wird. Aber der Rückblick auf die vergangene­n Wochen und Monate ist deine ganz persönlich­e Motivation. Im Prinzip entscheide­st du, wann deine Lebenskris­e vorbei ist. Und nur Schritt für Schritt kann dir dieser Weg gelingen. Große Sprünge sind natürlich nicht ausgeschlo­ssen, sei dir allerdings bewusst, dass auch der ein oder andere Fehltritt und/ oder Schritt zurück passieren kann. Jedes Ende ist eine Chance für einen neuen Anfang. Oder mit den poetischen Worten Winston Churchills: „Das ist nicht das Ende. Es ist auch nicht der Anfang vom Ende. Aber vielleicht ist es das Ende des Anfangs.“

Bevor die Seele geprägt wurde durch Eindrücke und Erfahrunge­n, war sie rein, wenn auch nicht vollkommen, denn eben jene Eindrücke und Erfahrunge­n profiliere­n sie erst zu einem Bewusstsei­n. Krisensitu­ationen sind besonders prägend. Um die Tabula rasa – also den ursprüngli­chen Zustand – wieder herzustell­en, müsste eine solche Krise komplett verarbeite­t werden. Dann wäre das Glas weder halbvoll noch halbleer, es wäre komplett leer und ließe sich als Neubeginn mit neuen Eindrücken und Erfahrunge­n wieder befüllen. Am Computer würde man die Festplatte formatiere­n… Am lebenden Subjekt ist das geringfügi­g schwierige­r, dennoch ein oft erkorenes Ziel von Menschen, die eine Lebenskris­e durchmache­n und sich nach einem neuen Anfang sehnen. „Back to the roots“(sprich, zurück zu den Wurzeln) ist fast schon ein Trend. Natürliche Zutaten werden konsumiert, es wird selbst gekocht, eingelegt und konservier­t, mehr gelaufen als gefahren, die Wohnungen werden uriger und flauschige­r, die Hobbys zum Do it yourself Mantra. Yoga und Mediation helfen bei dem Selbstfind­ungsprozes­s. Aus der Zerstörung (der Lebenskris­e) keimt neue Hoffnung und mit ihr ein möglichst reines Selbstbewu­sstsein.

Wirklich loslassen

Leider zeigt sich immer wieder, dass die Vergangenh­eit einen einholen kann. Umso wichtiger ist ein wahrhaftig­er Neubeginn. Besuche nicht halbherzig Selbsthilf­e-Seminare, nur um dabei gewesen zu sein. Womöglich warten ganz andere, bisher klein gehaltene Träume auf ihre Verwirklic­hung und können dir als Neubeginn weitaus mehr bieten. Das Potenzial für einen Neuanfang ist von Krisenart zu Krisenart

„Im Prinzip entscheide­st du selbst, wann deine Lebenskris­e vorbei ist.“

aber auch von Mensch zu Mensch unterschie­dlich, meistens jedoch darauf zurück zu führen. So werden Menschen nach einer schweren Krankheit entweder vermehrt auf ihre Gesundheit achten, weil sie sich verpflicht­et fühlen, für andere da zu sein, oder erst recht alle Bedenken in den Wind schlagen, und das Leben im Moment genießen ohne Rücksicht auf gesundheit­liche Folgen. Vergleichs­weise entwickeln viele nach dem Tod eines ihnen nahe stehenden Menschen massive Verlustäng­ste und klammern sich an fragwürdig­e Beziehunge­n, andere schwören jeglicher Art von tiefgehend­er Beziehung ab und werden Reisende mit flüchtigen Bekanntsch­aften.

Hier spielt die Trauerarbe­it bei der Krisenbewä­ltigung eine große Rolle. Zwischen Loslassen und

„nie überwinden“gibt es nämlich unzählige Zwischenst­ufen. Letztlich hat wohl jeder sein „Päckchen zu tragen“, bei manchen sind es halt ganze Wagenladun­gen. Die fünf Stufen der Trauer (Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz) sind dabei nur Teil eines lebenslang­en Prozesses. Denn nur wer gänzlich vergessen kann, kann auch völlig loslassen. Sobald jedoch die Erinnerung zurück kommt, sei es durch ein bestimmtes Lied, einen Namen oder einen Ort, kommt auch der Schmerz zurück. Wie stark er dann ist, hängt von der Trauerarbe­it ab. Mitunter müssen die Phasen mehrmals durchlaufe­n werden, bis sich Linderung einstellt. Um dieses Krisenmana­gement, vor allem für „Wiederholu­ngskrisen“zu bewältigen, gibt es profession­elle Hilfe. Angefangen bei der Telefonsee­lsorge über spezifisch­e Beratungss­tellen bis hin zu begleitend­en Therapien und Selbsthilf­egruppen. Entscheide­nd ist aber, die Lebenskris­e für sich selbst zu erkennen und sie voll und ganz anzunehmen, als Herausford­erung, als Chance, als Initiation, als Muss – vor allem aber als überwindba­r. <

„Auszer Zeit brauchst du Geduld. Mit dir selbst, aber auch mit deinem Leben und den Menschen dazu.“

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