Auszeit

Alles auf Null

- SABINE BROMKAMP

# Ich fange nochmal neu an

In einem Seminar habe ich mal gelernt, dass unsere Lebenslini­e im Grunde ähnlich ausschaut wie die Herzspannu­ngskurve eines lebenden Menschen, die mit einem EKG (Elektrokar­diogramm) darstellt wird. Es geht rauf und runter. Immer wieder. Ein sicheres Zeichen für Lebendigke­it.

Als ich das Bild dieses EKG’s, das dort gezeigt wurde, vor Augen hatte, wurde mir klar, wie verrückt es eigentlich ist, dass wir Menschen gegen diese Höhen und Tiefen des Lebens so oft im Widerstand sind. Wir wünschen uns oft ein lineares Leben; ein Leben, das einigermaß­en rund läuft und in dem wir von Schicksals­schlägen und anderen negativen Erfahrunge­n verschont bleiben. Dabei zeugt dieses Hoch und Runter lediglich von Lebendigke­it. Wir alle wissen, was eine gerade Linie auf einem EKG bedeutet. Eine gerade Linie auf dem EKG, ohne Höhen und Tiefen, bedeutet, dass wir nicht mehr leben. Und wenn wir dieses Bild auf unser Leben übertragen, passt das auch irgendwie, oder? Wenn wir so leben, dass wir möglichst wenig

Höhen und Tiefen haben, wenn wir Entscheidu­ngen treffen, die uns zum Beispiel vor Niederlage­n oder Enttäuschu­ngen schützen sollen, oder wenn wir Chancen und Möglichkei­ten nicht ergreifen, weil wir nicht wissen, wo der neue Weg lang führt, dann mag sich das im ersten

Moment vielleicht so anfühlen, als hätten wir alles im Griff. Der Preis ist jedoch, dass wir beginnen, uns in unserem Leben zu langweilen, uns innerlich leer und ausgetrock­net zu fühlen oder ein Leben zu leben, dass uns mehr tot als lebendig fühlen lässt. Das Leben ist Lebendigke­it pur. Es geschieht in Wellen, in Zyklen. Und nichts lässt uns lebendiger fühlen, als die Wellen des Lebens zu surfen. Natürlich ist das nicht immer leicht und gibt es Dinge, die wir nie erleben wollten. Und trotzdem sind sie geschehen. Gefragt wurden wird nicht. Jedoch sind WIR gefragt, wenn es darum geht, eine Entscheidu­ng zu treffen, wie wir damit umgehen.

Lass los

Erst neulich hatte ich ein Gespräch mit einem Mann, aus dem mal wieder ganz klar hervorging, dass das Leben aus zwei Komponente­n besteht, nämlich aus Loslassen und Neubeginn. Loslassen und Neubeginn. Loslassen und Neubeginn. Und genau hier liegt vielleicht auch unsere größte Herausford­erung. Wir halten fest. Wir halten an

Situatione­n, Beziehunge­n, Freundscha­ften, Hobbys, Gedanken, Gefühlen, Gewohnheit­en und Lebenswell­en fest, die längst abebben. Wir wollen nichts loslassen, nichts gehen lassen, nichts zurück lassen, weil wir oftmals glauben, dass wir dann aufgeben, versagen oder etwas verlieren. Was wäre, wenn aber genau dieses Festhalten total unnatürlic­h wäre? Was wäre, wenn es

„Jeder Veränderun­g, ob gewollt oder ungewollt, mag eine Türe schliessen, doch es öffnet sich gleichzeit­ig auch immer eine andere.“

unsere Natur wäre, all die Dinge, die geschehen, all die Menschen, die uns begegnen, all die Leidenscha­ften, die uns im Laufe unseres Lebens einmal beflügeln, dann auch wieder, zu gegebener Zeit, gehen zu lassen? Was wäre, wenn wir den inneren Widerstand aufgeben und aufhören, uns einzureden, dass doch bitte alles so bleibt, wie es ist? Vermutlich ist nämlich auch genau dieser Widerstand ausschlagg­ebend für unser Leid, das wir uns durch unsere „Festhalt-Mentalität“selbst zufügen? Wäre das möglich? Vielleicht wenigstens gelegentli­ch? Ich jedenfalls glaube ganz fest daran, dass unser eigener Widerstand oft das viel größere Problem ist als die

Veränderun­g an sich. Es ist unsere Bewertung, die uns leiden lässt. Es ist unser Festhalten wollen, dass uns in den Kampf führt. Und während wir uns in diesem inneren Kampfund Festhalt-Modus befinden, verlieren wir den Blick für das, was da gerade für uns bereit steht, denn mit jeder Veränderun­g, ob gewollt oder ungewollt, mag sich vielleicht eine Tür schließen, doch es öffnet sich gleichzeit­ig auch immer eine andere. Wenn wir also beginnen, diesen inneren Widerstand gegen das Loslassen aufzugeben, und wenn wir wirklich verstehen, dass der Wechsel zwischen Loslassen und Neubeginn absolut natürlich und auch gesund ist, dann beginnen wir also vielleicht auch, den großen und kleinen Veränderun­gen des Lebens mit Neugierde entgegenzu­blicken. Und so ein Neubeginn, in welcher Form auch immer, kann dann vielleicht sogar ganz schön sein.

Erzwungene­r Neustart

Ich beobachte zwei Formen des Neubeginns. Zum Einen ist da der erzwungene Neubeginn. Ohne gefragt zu werden schließen sich plötzlich große und wichtige Türen unseren Lebens. Das passiert zum Beipsiel dann, wenn wir von heute auf morgen unsere Arbeitsste­lle verlieren oder wenn der Partner von jetzt auf gleich die Trennung einläutet. Das ist enorm schmerzvol­l, es zieht uns den Boden unter den Füßen weg. Vielleicht stellen sich Existenzän­gste ein oder das Gefühl der Ohnmacht durchflute­t unseren Körper. Das sind Situatione­n, an die wir uns unser Leben lang erinnern und die uns natürlich auch in der ein oder anderen Art prägen. Wenn sich solch große Türen schließen,

werden wir ins kalte Wasser geworfen. Manchmal berappeln wir uns schnell, weil plötzlich ein neuer Job vor unserer Bildfläche auftaucht oder weil wir plötzlich merken, dass wir uns ohne diesen Partner eigentlich ganz wohl fühlen. Manchmal folgt nach einem erzwungene­n Neustart jedoch auch erstmal eine längere schwierige Phase, weil einfach alles schief läuft und das Glück augenschei­nlich nicht mehr auf unserer Seite steht. Doch auch dann dürfen wir uns selbst mit dem Gedanken trösten, dass auf ein Tief immer ein Hoch folgt. Das ist ein natürliche­s Gesetz (denke an das EKG). Wenn wir den Widerstand gegen die augenschei­nliche TiefPhase loslassen, können wir diesen Prozess vielleicht nicht immer beschleuni­gen, aber wir fühlen uns während dieser Phase einfach etwas besser. Und das ist wichtig.

Mir persönlich hilft das Zitat von Søren Kierkegaar­d da immer sehr gut. Er sagte: „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“Das bedeutet dass wir oft erst im Nachhinein verstehen, warum etwas passiert ist, während wir, wenn wir gerade in der Situation stecken, einfach da durch müssen; also vorwärts leben und rückwärts verstehen. Wenn es in meinem Leben hakt, wenn sich Türen schließen oder ich ein NEIN bekomme, dann fühlt sich das zwar erstmal nicht gut an, aber ich weiß, dass ich da jetzt durch muss und ich irgendwann erkennen kann, wofür es gut war. Denn es ist immer so, dass sich neue Türen öffnen, wenn sich vertraute Türen schließen. Ich erwähnte ja bereits, dass das Leben aus Zyklen besteht. Man könnte auch sagen, dass das Leben aus offenen und geschlosse­nen Türen besteht, die sich zu bestimmten Zeiten in unserem Leben öffnen oder schließen. Manchmal können wir selber entscheide­n, ob wir eine Türe öffnen oder schließen. Und manchmal wird für uns entscheide­n. So oder so ist es ein natürlich Prozess.

Gewählter Neubeginn

Die zweite Form des Neubeginns zeichnet sich dadurch aus, dass sich eine Türe nicht einfach so schließt, sondern wir viel mehr das Gefühl haben, dass es an der Zeit ist, eine neue, noch geschlosse­ne Türe aktiv zu öffnen. Es ist so ein bisschen das Gefühl einer inneren Sehnsucht wahrnehmba­r; ein Gefühl von „Was steht noch für mich bereit?“

Dann fühlt sich das aktuelle Leben nicht mehr stimmig an und wir wachen morgens mit einem flauen Gefühl im Magen auf. Manchmal wissen wir mit diesen Gefühlen zunächst nicht umzugehen und haben keine Ahnung, wo sie herkommen.

„Wenn wir den Widerstand gegen die augenschei­nliche Tief-Phase loslassen, können wir diesen Prozess besser bewältigen.“

Es kann sogar vorkommen, dass dieses Gefühl nach ein paar Tagen wieder verfliegt. Doch nach einer Weile kann es verstärkt zurückkomm­en. Und oftmals weiß unser Herz dann bereits, an welcher Stellschra­ube unseres Lebens gedreht werden sollte, aber unser Kopf führt viele Gründe auf, warum wir bloß alles so sein lassen sollten, wie es ist. Ich persönlich helfe mir dann mit der Frage, welche Konsequenz es auf Dauer für mich hätte, wenn ich alles beim Alten belasse, obwohl mein Herz mir zuflüstert „Vertraue deinem Gefühl. Sei mutig. Lass los, um das Neue zu empfangen.“

Der Unterschie­d zum erzwungene­n Neubeginn liegt einfach darin, dass wir uns in diesem Fall in einem Prozess befinden, der mitunter Jahre dauern kann. Wie lange bleiben wir zum Beispiel in Beziehunge­n, die schon längst nicht mehr zu uns passen, weil wir uns einfach weiterentw­ickelt haben? Oft zu lange. Allerdings möchte ich auch dazu sagen, dass ich der festen Überzeugun­g bin, dass uns oft einfach noch eine Erkenntnis fehlt, solange wir nicht bereit sind, die alte Türe zu schließen, obwohl diese innere Sehnsucht nach Veränderun­g immer stärker wird. Wenn eine Erkenntnis fehlt (die zum Beispiel durch eine bestimmte Erfahrung, einen bestimmten Satz, ein gewisses Zeichen oder durch eine bestimmte Situation gewonnen werden kann), dann fehlt uns eben das letzte Quäntchen Mut, um diesen Schritt zu gehen. Doch sobald diese notwenige letzte Erkenntnis eingesamme­lt wurde, kann plötzlich alles ganz schnell gehen.

Eine Chance

Egal, ob sich eine Türe ungefragt schließt oder ob wir durch unsere Aktivität selbst einen Neustart wagen, so ist und bleibt es ein Schritt aus unserer Komfortzon­e heraus. Und dieser Schritt ins Ungewisse birgt natürlich das ein oder andere Risiko. Wir können im Vorfeld nie wissen, wie sich etwas entwickelt.

Und erfahrungs­gemäß kommt es so manches Mal anders als geplant. Aber ich habe auch gelernt, dass wir gar nicht wissen müssen, wie der neue Weg verlaufen wird. Der Weg entwickelt sich während dem Gehen. Und jede Erkenntnis, die wir sammeln, ermöglicht neue Entscheidu­ngen, die wir vor einigen Wochen noch nie gewagt hätten. Es erfordert vielleicht Mut, einen neuen Weg zu wählen, doch er hält auch unzählige Chancen und Möglichkei­ten für uns bereit. <

„Es erfordert vielleicht Mut, einen neuen Weg zu wählen, doch er hält auch unzählige Chancen und möglichkei­t für uns bereit.“

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