Resilienz
Wie Resilienz uns hilft, Krisen zu bewältigen und mit Kraft den Neuanfang zu wagen
# Das eigene Ich stärken
Das Leben ist spannend und voller Möglichkeiten. Manchmal jedoch erleben wir Situationen, die uns erst einmal aus der Bahn werfen. Eine gut ausgeprägte Resilienz hilft uns, in solchen Momenten die Kraft zu finden, trotzdem unseren Weg zu gehen.
Neulich traf ich meine alte Schulfreundin Sandra zufällig auf dem Wochenmarkt. Wir hatten uns eine ganze Weile nicht mehr gesehen – im Trubel des Alltags vergehen schnell mal viele Monate zwischen unseren Treffen. So auch diesmal. Und ich war überrascht: Sandra wirkte entspannt und fröhlich. Ganz anders als bei unserem Treffen im vergangenen Jahr. Damals hatte sie nicht nur eine unschöne Trennung hinter sich, sondern war voller Sorgen, da sie damit rechnete, ihren Job zu verlieren. Sie ist Fotografin und arbeitete zu dieser Zeit in einem PortraitStudio, dem die Insolvenz drohte. In einem kleinen italienischen Café am Markt erzählte sie mir, wie es
ihr seither ergangen ist. Die drohende Arbeitslosigkeit hatte starke Existenzängste in ihr ausgelöst – so massiv, dass sie im Alltag oft sehr gereizt und im Umgang mit ihrem elfjährigen Sohn ungerecht und aufbrausend reagierte. „Dann kam dieser Mittwochmorgen“, erzählte sie, „an dem Jonas beim Frühstück ein Glas Orangensaft umgekippt hat, weil er mal wieder so zappelig war. Da bin ich ausgerastet. Ich habe ihn angeschrien, dass es wahrlich wichtigere Dinge im Leben gibt, die ich in Ordnung bringen muss, als ihm hinterher zu putzen. Höchste Zeit, dass du anfängst, selbst Verantwortung für dein Leben zu übernehmen!“Sie grinste breit, als sie das erzählte. „Kannst du dir das vorstellen – so was sage ich meinem elfjährigen Sohn!“
Abstand gewinnen
Dieser emotionale Ausbruch hat ihr gezeigt, dass es so nicht weiterging. Sie hat sich ein paar Stunden Coaching gegönnt. Daraus hat sie nicht nur hilfreiche Erkenntnisse und Anregungen zum Umgang mit ihren Ängsten mitgenommen, sondern hat sich auch intensiv damit auseinandergesetzt, welche beruflichen Alternativen für sie in Frage kommen. „Mit etwas mehr Abstand betrachtet, fand ich die Situation gar nicht mehr so schlimm. Ich hatte mir in der gemeinsamen Zeit mit Stefan eine kleine Summe zurückgelegt – wir wollten doch irgendwann für ein paar Monate in die USA. Aber eigentlich war das mehr sein Traum als meiner. Als ich an dem Punkt angekommen war, dass ich unsere Trennung endlich akzeptieren konnte, ist mir klar geworden, dass ich dieses Geld dafür nutzen möchte, mir einen Traum zu erfüllen, den ich lange auf die Seite geschoben habe.“
Ich wusste sofort, was sie meinte: Seit ihrer Ausbildung hat sie davon geträumt, als selbstständige Fotografin sehr persönliche und individuelle Aufnahmen von Menschen in ihrem Business-Umfeld zu machen. Aufnahmen, die nicht im Standard-Bewerbungsformat Leute in Anzügen mit aufgesetztem Lächeln zeigen, sondern das einfangen, was die besondere Stärke des einzelnen Menschen ausmacht.
Chancen erkennen
Also ist sie es angegangen: Ihr ehemaliger Arbeitgeber stand kurz vor dem Rentenalter und war froh, der Insolvenz zu entgehen, indem er ihr günstig sein Inventar überließ. Sandra hat diverse Kurse und Informationsangebote zur Existenzgründung genutzt und arbeitet jetzt seit einem halben Jahr als freiberufliche Fotografin. Da sie ein Händchen für besondere Locations und den Umgang mit verschiedenen Persönlichkeiten hat, kommen bereits die ersten Anfragen auf Empfehlung zufriedener Kunden. Und schließlich konnte sie auch ihre Kontakte aus ihrer Angestellten-Zeit nutzen, um ihr Angebot bekannt zu machen. „Klar, es muss sich erst noch zeigen, ob die Idee langfristig
„Die Resilienzfaktoren lassen sich trainieren und stärken – und damit unsere Fähigkeit, mit Krisen umzugehen.“
tragfähig ist. Aber ich bin da ganz zuversichtlich“, sagte sie strahlend zum Abschied.
Chancen zum Wachsen
Zum Glück gibt es immer wieder solche Geschichten. Geschichten von Menschen, die es schaffen, Krisen zu überwinden und gestärkt daraus hervorzugehen. Aber wieso gelingt das manchen Menschen, während andere an ähnlichen Krisen verzweifeln und sich schlimmstenfalls selbst aufgeben? Die Psychologie bietet uns das Resilienz-Konzept als mögliche Antwort an.
Widerstandskraft
So, wie es bereits die Anfänge der Resilienz-Forschung zeigten, gibt es verschiedene Faktoren, die die psychische Widerstandskraft von Menschen stärken kann. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Studien und Modellen, die sich mit dem Phänomen befassen. Eines davon sind die sieben Resilienz-Faktoren nach Reivich & Schatté – und wenn ich mir die Erfahrung meiner Freundin Sandra anschaue, finde ich im wirklichen Leben das wieder, was die Wissenschaftler als Ergebnisse ihrer Forschung präsentierten.
OPTIMISMUS
Sandras realistischer Optimismus war ein wesentlicher Antrieb, der sie zur Umsetzung ihres Traums und damit der positiven Wendung ihrer beruflichen Situation ermutigt hat.
EMOTIONSSTEUERUNG
Trotz ihrer Trauer um die gescheiterte Beziehung und der Sorge um den Job ist es Sandra gelungen, ihren Blick auf die positiven Emotionen zu richten, die sie mit der Vorstellung ihrer zukünftigen Freiberuflichkeit verband.
IMPULSKONTROLLE
Nun – wenn man an Sandras „Ansage“an Jonas denkt, hat sie bei diesem Resilienzfaktor noch ziemliches Entwicklungspotenzial – doch immerhin ist ihr ihre eigene,
unverhältnismäßig impulsive Reaktion selbst aufgefallen. So kann sie es künftig besser machen.
EMPATHIE
Da Sandra neben ihrer eigenen Sicht auch nachvollziehen konnte, was die drohende Insolvenz für ihren ehemaligen Chef bedeutete, konnte sie einen Vorschlag entwickeln, von dem sie beide profitieren.
"AKKURATES DENKEN“Nachdem sie aus der emotionalen Anspannung heraus Jonas gegenüber den Satz „Höchste Zeit, dass du anfängst, selbst Verantwortung für dein Leben zu übernehmen!“ausgesprochen hatte, wurde ihr bewusst, dass dieser Appell eher an sich selbst gerichtet war.
SELBSTWIRKSAMKEIT
In Sandras Fall hängt dieser Punkt eng mit dem Vorhergehenden zusammen. Durch die Bereitschaft, die Verantwortung für ihre berufliche Zukunft zu übernehmen, hat sie die Kontrolle über ihr Leben in diesem Bereich gewonnen – natürlich nicht völlig losgelöst von den äußeren Bedingungen des Marktes.
ZIELORIENTIERUNG
Da scheint Sandra auf einem guten Weg zu sein – das nötige BasisWissen für die Selbstständigkeit hat sie sich angeeignet und ist die ersten Schritte bereits erfolgreich gegangen. Zur Zielorientierung gehört auch, die gesetzten Ziele gelegentlich zu überprüfen und bei Bedarf anzupassen.
Die Resilienzfaktoren sind bei meiner Freundin also offensichtlich recht gut ausgeprägt. Glück gehabt? Ja, wahrscheinlich konnte sie schon aus ihrem Elternhaus viele Fähigkeiten zur konstruktiven Bewältigung von Krisen mitnehmen. Obwohl, wenn ich so zurückdenke … Die eine oder andere dieser Fähigkeiten hat sie offensichtlich in ihrem Erwachsenen-Leben durch die aktive Auseinandersetzung mit sich selbst gestärkt.Und das ist die gute Botschaft, durch die Resilienzforschung belegt: Die Resilienzfaktoren lassen sich trainieren und stärken – und damit unsere Fähigkeit, mit Krisen umzugehen.
Also: Aufstehen, Krönchen richten, weitergehen! <