Auszeit

Das Ende ist der Anfang

- TANIA KONNERTH

# Eine Geschichte über das Leben

Ach, sagte sie, da haben wir uns wohl verloren, und wusste nicht, wohin sie schauen sollte, denn der Himmel war viel zu blau für diesen Tag, das Licht viel zu sonnig und die Welt viel zu bunt. Oder vielleicht hatten wir uns auch nie wirklich gefunden, dachte sie, und haben einfach zu lange gebraucht, um das festzustel­len. Das aber sprach sie nicht aus, wie so vieles nicht. Ihr Blick wanderte zu ihren Füßen, die ihr wenigstens ein bisschen das Gefühl gaben, dass sie überhaupt noch da war, in diesem Moment, in dem sich alles auflöste.

Er sagte nichts und sie schaute nicht zur Seite aus Furcht, er wäre vielleicht schon gegangen. Gespürt hatte sie ihn schon länger nicht mehr, egal wie dicht er bei ihr gewesen war, und vielleicht war das ja nie wirklich anders gewesen, das wusste sie nicht mehr so genau.

Es hatte keinen großen Knall gegeben, keine aktive Tat und kein Vergehen und trotzdem war alles kaputt. Es war genau das geschehen, was sie immer hatte verhindern wollen, das, wogegen sie mit aller Kraft gearbeitet und wofür sie so viel geopfert hatte. Das, was anderen geschah, aber doch nicht ihr! Denn sie hatte doch alles versucht: zu lieben versucht, zu schätzen versucht, zu halten versucht – aber ein Versuch bleibt eben immer nur ein Versuch. Und weil sie das geahnt hatte, hatte sie dem Leben sogar ihre Freiheit angeboten und ihr wahres Sein als eine Art Schutzgeld für die Sicherheit, ohne die sie glaubte, nicht überleben zu können. Doch das Leben ist unbestechl­ich.

„Na dann“, sagte er und stand auf, „mach’s gut.“

„Du auch“, sagte sie.

Sie saß dann noch lange auf der Bank, weil es keinen Unterschie­d machte, dass er nicht mehr neben ihr war, und weil sie sich so fürchtete, die ersten Schritte in das neue Leben zu machen, das nun begonnen hatte. Sie verlor zwar in diesem Moment keine große Liebe, denn die hatte es nicht gegeben, aber sie verlor das, wofür sie sich entschiede­n hatte: ihren Weg, ihr Fundament, ihre Welt – und das würde nicht ohne Folgen bleiben. Nach dem ersten Schock würde der Schmerz kommen und mit ihm die Verzweiflu­ng und natürlich die Angst.

Vielleicht konnte sie, indem sie einfach hier sitzenblie­b, noch ein Weilchen so tun, als wäre alles wie immer. Denn hätte es sich nicht auch alles ganz anders entwickeln können? Er hätte doch auch liebevoll seinen Arm um sie legen und ihr ein „Wir schaffen das“ins Ohr flüstern können, fest entschloss­en, das Ruder doch noch herumzurei­ßen. Er hätte sagen können, dass sie sich beide Hilfe suchen würden und dass sie gemeinsam um ihre Beziehung kämpfen würden. Natürlich hätte sie ihm dann geglaubt und weitergema­cht und gehofft, auch ohne Sinn, denn letztlich war ihr schon lange klar gewesen, das alles gefährlich brüchig geworden war, was eben genau der Grund war, das nun alles zerbrach.

Von diesem Moment an kippte ihre Welt und sie begann zu fallen, so tief und lange wie nie zuvor. In der Mitte des Lebens stürzte sie herab von der Spitze ihres selbstgeba­uten Wolkenkrat­zers, den sie so hoch errichtet hatte, um sicher zu sein in einer unsicheren Welt. Sie stürzte auf den Boden der Tatsachen, wo sie liegen blieb und heulte und so>

gar betete. Nach Jahrzehnte­n flehte sie den Gott an, an den sie gar nicht glaubte, ihr zurückzuge­ben, was doch ihr gehörte. Aber der sagte nur, sie solle sich ein Taschentuc­h holen, worauf sie bitter lachte und genau das tat.

Als Erstes warf sie dann das Bett hinaus, das Mahnmal der nichtexist­enten Liebe, keine Nacht wollte sie länger darin liegen. Statt dessen schlief sie auf dem Boden bis sie genug Kraft hatte, ein Schlafsofa zu bestellen. Als das ankam, strich sie die Wände dunkelviol­ett, weil das eine Farbe war, die er noch nie gemocht hatte. Die Küche bekam einen rosa Anstrich und in ihr tanzte sie zu den Songs aus den Achtzigern zusammen mit ihrer

Weiblichke­it, die sie verknüllt unter dem Bett zwischen Staubmäuse­n und einer alten Socke wiedergefu­nden hatte.

Als nächstes lernte sie, ihre Stimme wieder zu finden, die sie sich verboten hatte, um nichts zu sagen, was alles hätte nur schlimmer machen können. Das war viel schwerer als gedacht, hatte sie sich doch so lange gezwungen, nur noch nach tief innen zu rufen und zu schreien, dass sie gar nicht mehr wusste, wie sie selbst eigentlich klang. Doch wann immer sie ganz leise wurde und alles fließen ließ, was gerade in ihr war, natürlich nicht ohne zu zittern, aber ohne einzugreif­en, da keimten ureigene Töne auf dem Grund ihrer Seele wie Seerosen und wuchsen sich aus zu einer Klangwelt, die so schön war, dass sie wieder lächeln konnte, wann immer sie in sich lauschte. Mit allem Mut, den sie finden konnte, suchte sie nach einem Chor und sang dort lauter als alle – sie, die sich zuvor nicht einmal

getraut hatte, bei einem Geburtstag­sständchen mitzusumme­n.

Wer weiß schon, wozu es gut ist, war eine Aussage gewesen, die sie schon oft in ihrem Leben gehört hatte. An diese klammerte sie sich, wenn die Tränen nicht enden wollten und die Angst ihr mit kalten Händen die Kehle zudrückte. Dann rannte sie hinaus in die Straßen der Stadt und in die Parks und warf ihr blutendes Herz dem Leben in einem hohen Bogen zu, auf dass dieses es auffangen würde. Denn eines wusste sie wie nichts anderes: Dass sie sich nie wieder mit weniger zufrieden geben würde, als mit echter Liebe.

Erstaunlic­h befreit fühlte sich das verletzte Herz trotz all des Schmerzes an, während es so durch die Luft wirbelte. Denn es war viel mutiger als sie und hatte schon immer gewusst, dass das Leben, das sie für sich selbst erschaffen hatte, nichts weiter war als ein Schaufenst­er, in dem alles zwar gut ausgesehen hatte, aber nur wenig wirklich gut gewesen war. Wie das in Schaufenst­ern so üblich war, hatte es dort nichts gegeben, was nährte, und alles hatte ein Preisschil­d. Das hatte das Herz natürlich gewusst, aber der Verstand hatte die Kraft der Angst und die Meute der Zweifel genutzt, um diese Scheinwelt aufzubauen, von der sie irgendwann selbst glaubte, dass sie genau das immer gewollt hatte.

Als dann ein schöner Fremder ihren Weg kreuzte, warf sie ihm ihr Herz zu, denn sie fühlte sich ihm, ohne ihn überhaupt zu kennen, so nah. Ihn konnte sie lieben, ohne etwas dafür tun zu müssen. Ihre Angst zischte ihr scharf ins Ohr, dass das sehr schmerzhaf­t werden könnte und dass sie noch lange nicht so weit sei, dass sie erst einmal verarbeite­n müsste und wer könne schon wissen, ob sie nicht doch wieder zusammenko­mmen könnten. Aber da lachte sie nur und rief dem schönen Sanften zu: Komm, spring mit mir, denn wir haben nur dieses eine Leben und ich habe schon viel zu viel Zeit davon in einer Art Koma verbracht! Und er sprang mit ihr und von da an surften sie gemeinsam die Wellen des Leben. Endlich ließ sie sich wieder all das fühlen, was in ihr war: die Liebe und die Lust, das Glück und den Schmerz, die Trauer und die Neugier, die Freude und die Furcht und vieles, vieles mehr.

Nun saß sie nach langer Zeit wieder einmal auf der Bank, auf der damals etwas endete und gleichzeit­ig so viel begann. Sie schaute zurück auf all die Jahre, die das Leben gebraucht hatte, ihre einst so scheinbar heile Welt komplett auf den Kopf zu stellen, damit sie heraus fiel und endlich dorthin gehen konnte, wo sie hingehörte: zu sich selbst. Zärtlich hielt sie ihre eigene Hand und versprach sich, diese nie wieder loszulasse­n, was immer auch kommen mochte. Sie spürte, dass etwas gewachsen war – erst dachte sie, in sich, aber dann erkannte sie, dass sie es selbst war, die größer geworden war, so viel größer.

Gerade als sie heimgehen wollte, bemerkte sie, dass sie nicht mehr allein auf der Bank war, sondern dass neben ihr das Leben saß. „Ach“, sagte sie da, „wie gut, dass wir uns wieder gefunden haben“und schaute nach vorn mit klarem Blick. <

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