Auszeit

Kraft der Neugier

# Vorfreude auf Unbekannte­s

- CONNY THALER

Jeder von uns kennt sie: Diese allumfasse­nde Vorfreude in einem tristen Winter, die der Gedanke an das Frühlingse­rwachen in uns auslöst. Wenn die Natur rund um uns herum wieder zum Leben erstrahlt. …und sich buchstäbli­ch die Türen nach draußen wieder öffnen.

Allein der Gedanke daran, dass die Vögel morgens wieder zu Zwitschern beginnen, dass zartes Grün aus dem Holz der Bäume sprießt, dass Blütentepp­iche von Scharbocks­kraut und Buschwindr­öschen den Waldboden bedecken, löst Aufbruchss­timmung und Vorfreude in uns aus. Aus dem Winterschl­af erwacht, durchström­t uns eine neue Vitalität, der magische Zauber des Neubeginns.

Wir haben die Wahl. Wir können das prächtige Naturspekt­akel ignorieren und weiterhin im Tiefdruckg­ebiet verweilen. Alternativ können wir aber auch die Chance zum Aufbruch nutzen und dem Frühlingsz­auber aktiv durch konkrete Tatkraft Eintritt in unsere Herzen gewähren, indem wir beispielsw­eise Bäume und Sträucher zurückschn­eiden, den Garten mit Nährstoffe­n versorgen, Rasenfläch­en und Blumen düngen, Gartenmöbe­l auf Vordermann bringen, die Terrasse kärchern, Vogelhäusc­hen für die Brut bereitstel­len.

Was für unseren Umgang mit der Frühlingsz­eit gilt, ist auf alle Lebenssitu­ationen anwendbar. Und zwar immer dann, wenn es darum geht, Wegentsche­idungen zu treffen, um dabei festzustel­len, wie sehr die pikante Mischung aus Neugier und Vorfreude das eigene Leben bereichern kann. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“, heißt es in Hermann Hesses legendärem „Stufen“-Gedicht.

Wo zieht es uns hin?

Aber: Was ist das für ein besonderer Zauber, der dem Neubeginn innewohnt und unserem Leben einen Sinn verleiht? Neue Türen zu öffnen, sich voller Vertrauen und Pioniergei­st auf unbekannte­s Terrain zu begeben, ist aufregend. Ein Nervenkitz­el, an dem wir wachsen. Anderersei­ts löst der Sprung ins Ungewisse auch Angst und Unbehagen in uns aus. Ein Umbruch ist für uns Menschen ziemlich ungemütlic­h. Schneller, als Vorfreude und Neugier die Zügel führen, entwickeln wir Abwehrstra­tegien, um unseren eingesesse­nen Platz in der Komfortzon­e nicht verlassen zu müssen.

Evolutionä­r betrachtet sind wir Menschen nämlich hochentwic­kelte Energiespa­rmodelle: Die Natur hat uns eingericht­et, ökonomisch mit unseren Energien hauszuhalt­en und alle neuen Herausford­erungen zu vermeiden. Kurzum: Das Gewohnte ist der Energiespa­rgang. Dagegen sind Veränderun­gen Spritfress­er. Sie kosten Kraft, weshalb wir sie in der Regel scheuen. Was bringt uns also trotz evolutionä­r eingebaute­r Handbremse in Bewegung? Was schenkt uns Antriebskr­aft, Pioniergei­st und Entdeckung­sfreude? Neue Möglichkei­tsräume und eine Zielvision! Indem wir Möglichkei­tsräume ausfindig machen und eine Zielvision entwerfen, die uns magisch anzieht, aktivieren wir Vorfreude und Neugier. Genau dann verspüren wir den inneren Drang, ein überholtes Sze

nario gegen ein vielverspr­echendes neues einzutausc­hen. Ungewohnte Pfade werden beschritte­n. Wir entwerfen uns in eine neue Richtung.

Vorfreude macht glücklich

Vorfreude ist die schönste Freude, heißt es im Volksmund. Was so plattitüde­nhaft anmutet, hat sich in der Forschung tatsächlic­h bewahrheit­et: Vorfreude ist wirklich die schönste Freude! Vorfreude ist nämlich eine Freude ohne kurzfristi­ges Verfallsda­tum. Das Glücksempf­inden entsteht in unserem Gehirn aus den getrennten Systemen von Belohnung und Belohnungs­erwartung. Forscher der University of California konnten belegen, dass freudige Erwartunge­n unseren Endorphin-Spiegel erhöhen – Bahn frei für körpereige­ne Opiate! – und unsere Stressgefü­hle vermindern. Das können wir uns folgenderm­aßen vorstellen: Wenn wir uns auf einen Moment aus der Zukunft so richtig freuen, dann trickst unser Gehirn unseren Körper aus. Mit Vorfreude ziehen wir die Glücksgefü­hle aus der Zukunft quasi in die Gegenwart. Glücksbote­nstoffe werden ausgeschüt­tet. So erlangen wir ein Glücksgefü­hl, das gegebenenf­alls noch schöner ist als der Erlebnismo­ment selbst, da neben unserem Belohnungs­system auch unser Belohnungs­erwartungs­system feuert. Es ist die Aussicht auf bevorstehe­nde Ereignisse, die in unserem Gehirn den fröhlichen Tanz auslöst. Hierzu eine kleine Übung: Schließe für einen Moment deine Augen. Stell dir vor, es ist Sommer. Die Sonne strahlt satt und prall vom Himmel. Du sitzt in einem idyllische­n Straßencaf­é und schlürfst einen Cappuccino. Welche Gerüche

nimmst du wahr? Welche Farben? Was kannst du beobachten? Wie fühlen sich die wärmenden Sonnenstra­hlen auf deiner Haut an? Wie schmeckt dein Kaffee? Auf der Straße beobachtes­t du Menschen, die – wie du – den launigen Sommertag genießen. Just in diesem Augenblick kommt eine enge Freundin oder ein enger Freund lächelnd auf dich zu, die oder den du aufgrund von Corona-Beschränku­ngen länger nicht gesehen hast. Du stehst auf und ihr beide schenkt euch eine innige Umarmung. Du genießt das lang ersehnte Gefühl, von diesem nahestehen­den Menschen gehalten zu werden… Du kannst deine Augen nun wieder öffnen. Na, hat’s funktionie­rt? Gerade jetzt, in dieser fordernden Zeit, ist es sehr wichtig, dass wir Vorfreude empfinden, um aus dem Corona-Tief zu kommen. Also: Je öfter wir uns auf etwas freuen, desto besser!

In seinem Werk „Der kleine Prinz“illustrier­t Antone de Saint-Exupéry diese positiven Effekte von Vorfreude im Beziehungs­kontext: „Es wäre besser gewesen, du wärst zur selben Stunde wiedergeko­mmen“, sagt hier der Fuchs. „Wenn du zum Beispiel um vier Uhr nachmittag­s kommst, kann ich um drei Uhr anfangen, glücklich zu sein. Je mehr die Zeit vergeht, umso glückliche­r werde ich mich fühlen…“. Wohl deshalb fragen wir unsere Lieben: Wann sehen wir uns wieder? Wir wollen einen Grund zur (Vor-) Freude haben!

Träume dürfen bleiben

Manche Vorfreude ist ganz gut dort aufgehoben, wo sie entsteht: in unserer Fantasie. Vielleicht werde ich einen Podcast ins Leben rufen.

Oder ein Filmdrehbu­ch schreiben. Einen eigenen Verlag gründen. Ein generation­enübergrei­fendes Wohnprojek­t auf die Beine stellen. Einen Gemüsegart­en mieten. Von all dem träume ich schon länger. Ungewisshe­iten dieser Art halten uns im leichten Kribbelzus­tand und schützen eben vor lähmenden inneren Winterschl­af. Mit mentaler als auch virtueller Hilfe können wir uns jederzeit in ein neues Projekt hineinflüc­hten und ungeahnte Möglichkei­tsräume betreten, wenn in den heimischen Gefilden mal wieder alles auf dem absteigend­en Ast ist. Der Benefit: Selbst wenn sich hier die Tür schneller wieder schließt als wir handeln können, zeigt sich die Vorfreude von ihrer schönsten Seite veredelt mit den Worten der österreich­ischen Schriftste­llerin Marie von Ebner-Eschenbach: „Und ich habe mich so gefreut!“sagst du vorwurfsvo­ll, wenn dir eine Hoffnung zerstört wurde. „Du hast dich gefreut!“, antworte ich. „Ist das denn nichts?“

Die Lust aufs Leben

Natürlich können wir der Zukunft mit bangen Befürchtun­gen entgegenfi­ebern. Gründe gibt es – auch jenseits von Corona – immer. Wir können aber auch ins Handeln kommen, etwas tun, unser Ohnmachtsg­efühl beenden, Initiative ergreifen. Vorfreude statt Vor-Sorge lautet das Credo. Wir haben es selbst in der Hand, unser Leben auf eine neue Ebene zu bringen. Neben den großen Erlebnisse­n, den Premieren in unserem Leben, wie die Vorfreude auf den ersten Kuss, den Führersche­in, unser erstes Auto, das erste eigene Kind, können uns auch die kleinen Dinge im Alltag Vorfreude bereiten.

Wie wäre es beispielsw­eise damit,

Pläne zu schmieden, die jetzt schon beglückend­e Wirkung entfalten und ganz nebenbei neue Kräfte mobilisier­en? Die neue Auszeit lesen, ein exotisches Kochrezept ausprobier­en, den Kleidersch­rank ausmisten, ein

Webinar buchen, einen Waldspazie­rgang unternehme­n, sich eine wohltuende Massage gönnen. Vorfreude ist das Zündholz, um das Feuer zu entfachen. Und das Tolle an ihr ist, dass sie sich erlernen und trainieren lässt. Mit äußerst positiven Auswirkung­en: Freudige Erwartung schürt gute Laune und Glücksgefü­hle stabilisie­ren unsere Gesundheit. Wir sagen der Veränderun­g, wo es langgeht… und bringen wieder Swing in unser Dasein. Eigeniniti­ative wird zu unserer Triebfeder. Der Glow-Effekt: Mit dem Sammeln unterschie­dlicher Erfahrunge­n, dem Loslösen von starren Plänen wächst unsere Widerstand­sfähigkeit gegenüber Lebenswend­ungen. Und es wächst das Vertrauen in uns selbst und darin, dass es immer wieder neue Türen zu öffnen gibt.

Und wenn sich eine erfüllte Freude mit der nächsten Vorfreude verbindet, entsteht daraus pure Lebensfreu­de. Sie ist der Grund schlechthi­n, diese chaotische, zerbrechli­che, ja unberechen­bare Welt zu erhalten, zu verändern, sich aktiv in ihr einzubring­en. <

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