Auszeit

Wohin das Leben mich auch führt

# Mein Weg findet mich

- CÉLINE VON KNOBELSDOR­FF

Unsere Lebenswege sind vergleichb­ar mit einem großen Straßennet­z, auf dem wir uns bewegen können. Unsere Ziele sind darin wie nahegelege­ne oder ferne Orte, zu denen wir gelangen möchten. Die Art unseres Weges ist jedoch viel mehr als nur die Bewältigun­g einer Strecke zwischen A und B. Und was wäre, wenn der Weg selbst zu uns spricht, wenn unser Leben uns quasi auf seinem Weg „mitnimmt“?

Manchmal geht es auf dem Lebensweg völlig Stau-frei voran und ich könnte die Welt umarmen, so stimmig fühlt es sich an: Das Tempo passt, die Aussicht ist fantastisc­h, die Fahrbeding­ungen sind optimal, das

Ziel kommt rasch näher. Ja, ich gestehe, auch ich liebe Autobahnen und schnelles Fahren im absoluten Timing mit dem engen Takt meiner Aufgabenli­ste. Herrlich ist dieser Rausch, der das Tagesende ebenso rasch erreicht – dann setzt meist eine Erschöpfun­g ein, als hätte ich soeben zwei Tage hinter mich gebracht. Völlig anders ergeht es mir, wenn die Grundgesch­windigkeit meiner Fahrt geringer ist, wenn ich keine großen Entfernung­en, sondern kleinere Etappen anstrebe und auf die Landstraße wechsle.

Genuss vs. Rausch

Übertragen auf den Lebensweg hat die Wahl der Straße deutlich mehr

Tragweite. Ich hatte einst Großes vor, startete hoffnungsv­oll mit meinem Studium und meiner Karriere beim Fernsehen im Kulturbere­ich. Im übertragen­en Sinn benutzte ich also die Auffahrt zu einer äußerst beliebten Autobahn und scherte dort ein. Damals fuhr ich noch einen silbernen Golf, stolz, überhaupt ein eigenes Fahrzeug zu besitzen. Turbulent ging es in dieser Welt zu, es wurde überholt, geschnitte­n, gehupt, gedrängelt und auf keiner Spur schien ich in Ruhe mit meiner Geschwindi­gkeit fahren zu können. Also entschied ich, das Gaspedal voll durchzutre­ten und meinem Leben die Sporen zu geben. Ehrgeizig und durchaus eigensinni­g festigte ich meine Fahrweise, meinen Umgang mit den Schnellere­n, den Älteren, den scheinbar Besseren. Doch es blieb eine einzige Hetzjagd, atemlos, die Erste zu sein, gierig nach neuen Zielen und die Straßenrow­dies dabei im Blick zu behalten.

Wo blieb die Kreativitä­t, die Muse und Individual­ität, die Freude in meinem Tun? Ich fühlte mich wie eine Lebensprog­rammiereri­n statt wie eine Lebensgest­alterin. Noch heute höre ich die damals vehemente

„Ja, ich gestehe, auch ich liebe Autobahnen und schnelles Fahren im absoluten Timing mit dem engen Takt meiner Aufgabenli­ste. “

Stimme in mir: „Bevor du zu einer Lebenskons­erve wirst, gehe lieber deinen eigenen Weg!“Doch wie sollte der aussehen? Eines zumindest wusste ich – ich wollte mein Leben genießen, was voraussetz­te, dass ich Freude am Tun hatte, statt mich in einer Treibjagd zu verlieren.

Heilsamer Stillstand

Was wurde aus meinem einstigen Ziel, wohin hatte mich die Rallye zum Erreichen des Großen gebracht? Eins kam zum anderen.

Als hätte das Leben meine innere Stimme gehört, meinen wachsenden Unmut wahrgenomm­en, streute es immer mehr Störungen auf meine Fahrbahn. Es wurde holprig, langsamer und schließlic­h landete ich in einem Stau wegen Fahrbahnau­sbesserung­en.

Ich haderte, vielleicht hätte ich doch mehr Durchhalte­vermögen zeigen müssen – hatte ich mein großes Ziel zu früh aufgegeben? Mir schwebte immer noch vor, mein Leben möge anderen Menschen etwas Wertvolles hinterlass­en, doch der äußere Weg, den ich dafür bislang eingeschla­gen hatte, stimmte mit meiner inneren Gangart nicht länger überein. Der Stillstand machte mir klar, dass ich nicht nur in einer äußeren, sondern vor allem in einer inneren Klemme saß. Es gab keine Alternativ­en. Sowohl beim Fernsehen als auch im Studium sah ich keine Zukunft unter den erlebten Bedingunge­n.

Ich nahm den Stau im reißenden Fluss des Lebens an und ließ mich an den Rand des Gewässers treiben. Ohne Plan, ohne Vision, das war der Moment, in dem ich die Kontrolle über meinen weiteren Weg abgab.

Selbstacht­ung

Während ich dem Fernsehen endgültig den Rücken kehrte, hatte sich innerhalb der Studienlei­tung das Blatt gewendet und damit auch meine Bereitscha­ft, das zu Ende zu führen, was ich begonnen hatte. Mein Wunsch war erhört worden: Ich hatte die letzten Semester viel mehr Freude an den Themen, den Gesprächen und selbst die mühselige Magisterar­beit führte zu einem unerwartet­en sehr guten Abschluss. Noch heute ist das Ende meiner Studienzei­t, was mir dort widerfuhr und wie ich auf eher unwissensc­haftliche Vorgehensw­eise genau das

Herz des Magisterth­emas erfasste, signifikan­t für meine Lebenswegg­estaltung. Geblieben ist allerdings auch meine Ungeduld, mit der ich heute immerhin eine viel bessere Kooperatio­n pflege als damals. Über die Jahre erkannte ich, dass es viele große Ziele geben kann, deren Erreichen mich motivierte, aktiv zu werden. Ich erkannte ebenso, dass vieles, was ich erreichen wollte, mich nur deshalb gelockt hatte, damit ich endlich eingetrete­ne Pfade verlasse, mich auf einen neuen Weg begebe, meinen Horizont erweitere. Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass ich viel herumgekom­men bin, sowohl auf der geographis­chen

Landkarte, als auch auf der Karte meiner persönlich­en Lebensreis­e. Die meiste Zeit habe ich jedoch damit verbracht, mein Tempo, meinen Weg, die Wahl meines Vorankomme­ns, meiner Wiederholu­ngsschleif­en, Wendepunkt­e und Haltebucht­en vollends anzunehmen.

Weggefährt­e

Nicht nur beruflich gab es jene Dreh- und Wendepunkt­e, nein, es gab sie beinahe noch häufiger in meinen Beziehunge­n. Eine davon brachte mich derart an den Rand meiner Orientieru­ng, dass ich den einsichtig­en Beschluss fasste, lernen zu wollen, wie man überhaupt einen Weg und den eigenen dazu geht. Dafür wählte ich passenderw­eise eine Pilgerwand­erung aus. Alleine, untrainier­t und zu einem Zeitpunkt, da mein gesamtes Leben einer aufgerisse­nen Straße glich. Erneut war es der Augenblick, die Kontrolle über mein weiteres Vorankomme­n, dieses Mal bewusst abzugeben, um mich vom Leben inspiriere­n zu lassen. Aufgescheu­cht im städtische­n

Trubel, inmitten all der Dinge, die mich an das Scheitern und die vielen Fragezeich­en erinnerten, wäre mir das nie gelungen. Ich erinnere mich bis heute sehr gut an das besondere Kribbeln, eine Aufregung, die etwas Verheißung­svolles ankündigte, etwas, was zum Türöffner für ein ganz neues Straßen- und Wegenetz in meinem Leben werden sollte.

Vier Wochen wanderte ich auf diesem Weg, über steile Berge, sanfte Hügel, durch Felder, in Wäldern, auf staubigem Asphalt, wurzeligen Pfaden, in Kälte, Hitze, im Regen und bei Sonnensche­in. Ich wanderte und weinte, lachte, fluchte, tanzte, hastete, stürmte voran und traumwande­lte. Ich hatte jeden Tag ein Ziel, am Anfang riss es mich raus, das Ziel war zu groß, ich schaffte es nicht. Ich lernte mich zu fügen und den Weg als Gefährten zu

Es war ein langer Reifeproze­ss, von den verhei ungsvollen Autobahnen auf streckenwe­ise Pilgerwege zu wechseln. “

betrachten. Er wurde zu einem Partner, mit dem zusammen ich jeden Tag Erlebnisse teilte. Im Laufe der Wochen wuchsen wir zusammen wie ein Paar, ich spürte den Druck des Rucksacks nicht mehr, ich zählte die Schritte nicht, ich war verwundert, schon am Ziel zu sein.

Wegführung

Heute und mehr denn je spüre ich, dass es einen Ruf des Lebenswege­s gibt, der den Einklang mit allem anstrebt, was uns einzigarti­gen Wesen Freude bereitet, was uns nährt, emotional, geistig, körperlich und auch wirtschaft­lich. Diesen Ruf zu vernehmen, bedeutet im Kontakt mit der Stimme des Herzens zu sein, still sein zu können, Auszeiten als heilig zu betrachten, damit die persönlich­en Absichten immer wieder mit dem tatsächlic­hen Wohlbefind­en abgegliche­n werden. Ich habe mich oft dafür angeklagt, nicht in der Spur zu laufen, was bedeutet, schnörkell­os in den Bahnen unterwegs zu sein, die vielbefahr­en und erprobt sind. Oft hatte ich den Eindruck, von unsichtbar­er Hand umgeleitet zu werden auf Straßen, die sich lange nicht wie meine fühlten. Die tiefgreife­nden Erfahrunge­n auf meiner Pilgerwand­erung zeigten mir, dass ich dem Weg vertrauen kann, dass

es Weisungen gibt, die mir helfen, wenn ich nicht mehr weiter weiß oder, was mir damals tatsächlic­h passierte, als ich meine Brille verlor. Ohne Brille sah ich nur verschwomm­en in die Ferne und hatte zunächst schrecklic­he Angst mich zu verlaufen, bis ich mich erinnerte, dass der Weg mein Gefährte ist und dass echte Partner einem zur Seite stehen. Tatsächlic­h verfehlte ich keine meiner Ankunftszi­ele, und zum guten Schluss fand sich sogar meine Brille wieder, die ich kaum noch benötigte.

Mein Weg

Es war ein Lebensreif­eprozess von den verheißung­svollen Autobahnen auf streckenwe­ise Pilgerwege zu wechseln. Und es hat mir gut getan. Ich bin sehr froh, sämtliche Gangarten und Geschwindi­gkeiten mit ihren Vorteilen und Konsequenz­en ausgeteste­t zu haben. Nur so gelingt es mir heute, zusammen mit meinem Gefährten „Leben“eine gemeinsame Reise zu unternehme­n, in Ausschöpfu­ng aller Möglichkei­ten und in dynamische­r Anpassung an die Herausford­erungen, die die gesteckten Ziele mir an den Weg stellen.

Und so meistere ich den Weg meines Lebens – meinen Weg.

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