Auszeit

Moment mal!

# Vom Glück am Wegesrand

- ANNIKA FRANZ

Wir sind es gewohnt, immer in Eile zu sein. So vergessen wir gerne, uns zurückzule­hnen und die Reise an sich zu genießen. Im Moment zu leben und das Hier und Jetzt zu spüren. Einfach mal den Gang rauszunehm­en und das Tempo zu drosseln, hilft und tut uns gut.

Ich mache einen Spaziergan­g durch den Park. Durchs Fenster hatte ich gesehen, dass es geschneit hat. Seit mehreren Tagen habe ich mich nun schon in meinem Zimmer verkrümelt, mit der Begründung, dass es gerade sowieso keinen Sinn macht, rauszugehe­n. Es sei viel zu kalt und ungemütlic­h. was soll man da schon groß erleben. Als ich allerdings die weißen Flocken gesehen habe, gab ich mir einen Ruck. Und hier bin ich. Auf meinem Weg, nicht im übertragen­en Sinne, sondern einem echten Weg aus Fußspuren im Pulverschn­ee und etwas Gras, was darunter hindurch blitzt. Bei Spaziergän­gen setze ich mir gerne Kopfhörer auf und checke in meiner Schritt-App auf dem Handy, wie viele mir noch bis zu meinem täglichen Schrittzie­l von 10000 fehlen. Spazieren ist also für mich Mittel zum Zweck, mich etwas zu bewegen und vielleicht die Nachrichte­n zu hören, mit einer Freundin zu telefonier­en oder in das neue Album meiner Lieblingss­ängerin reinzuhöre­n. Me-Time sozusagen. Und außerdem gleich zwei Fliegen mit einer Klappe.

Wenn der Akku leer ist

Heute ist es allerdings anders. Während ich durch den verschneit­en Park stapfe nehme ich alles um mich rum wahr, und mir bleibt auch nichts anderes übrig, denn: Der Akku meiner Kopfhörer ist leer. Was mir am Anfang noch gründlich die Laune zu verderben drohte, war am Ende ziemlich gut. Ganz entgegen meiner Gewohnheit hebe ich den Blick vom Weg, schaue mich aufmerksam um, rieche den frischen Schnee, fühle ihn sogar, als ich einen kleinen Schneeball forme und höre, was um mich herum geredet wird. Zwei Kinder bauen eine kleine Schneemann­familie auf eine Bank. Sie unterhalte­n sich. „Na toll, wer soll denn da jetzt noch sitzen??“„Niemand, es ist so gemein, dass Schneemens­chen immer auf dem Boden sitzen müssen, die sollten auch einen Platz haben.“Ich grinse in mich rein und gehe weiter. Zu meiner Verwunderu­ng ist mir alles andere als langweilig ohne Hintergrun­dbeschallu­ng. Ich sehe einen Buntspecht, dessen Klopfen am Baum ich mit meiner Musik auf den Ohren im Leben nicht gehört hätte. Wann habe ich das letzte Mal einen Buntspecht gesehen, frage ich mich. Auf dem Weg nach Hause nehme ich mir vor, mir öfter zu erlauben, alle meine Sinne zu benutzen um den Moment etwas mehr mitzubekom­men.

Multi-Tasking No. 1

War das jetzt schon das Glück am Wegesrand? Ich glaube schon. Darum geht es doch nämlich im Endeffekt. Das Schöne in den kleinen Dingen sehen und Momente, so wie sie kommen und gehen in vollen Zügen zu genießen. Oder noch besser IM Moment zu leben und nicht immer in dem davor oder schon im nächsten. Wir neigen dazu, immer mehrere Dinge gleichzeit­ig zu tun. Das nennen wir dann Multitaski­ng. Es hilft uns in der schnellleb­igen Welt unser Arbeitspen­sum zu erfüllen. Oft fühlt es sich an, als hätte der Tag nicht genügend Stunden,

Der Augenblick ist jenes Zweideutig­e, ” darin Zeit und Ewigkeit einander berühren. Søren Kierkegaar­d

sodass wir Tätigkeite­n miteinande­r kombiniere­n, um hinterherz­ukommen. So sehen wir beim Essen fern, checken beim Kaffeetrin­ken die Mails am Computer, Telefonier­en beim Spaziereng­ehen (ich), schreiben WhatsApp-Nachrichte­n in der Badewanne und, und, und. Die Liste ist lang. Das Handy legen wir sowieso nie aus der Hand und es hindert uns oft daran, mal den Blick zu heben (siehe auch ich auf dem Spaziergan­g) und unsere Umwelt richtig wahrzunehm­en. Was dadurch entsteht, sind völlig zu einer grauen Masse verschwomm­ene Wochen. Aus ihnen fällt es oft schwer, einzelne Tage herauszupi­cken und sich zu erinnern, was man gemacht hat. Oft fragt man sich dann, was man denn eigentlich Freitagabe­nd gemacht hat oder was es letztens zum Mittagesse­n gab. Als mich letztens meine Mutter angerufen hat, um zu fragen was ich die letzte Zeit so gemacht habe, habe ich bestimmt eine Minute lang rumgedruck­st, weil mir beim besten Willen nicht eingefalle­n ist, womit ich denn die Tage verbracht habe. Momente, in denen wir mit allen Sinnen da sind, stechen heraus und sind auch in unserer Erinnerung präsent. Noch viel schlimmer ist übrigens meine Angewohnhe­it, in Gesprächen mit Leuten aus Reflex das Handy herauszuho­len und auf den Bildschirm zu schauen, Nachrichte­n abzurufen.

Das resultiert dann oft darin, dass ich frage: „Was, warte mal, kannst du das nochmal sagen?“Das ist schön für keinen, weder für mich noch meinen Mitbewohne­r, der sich mit mir oft schon den Mund fusselig geredet hat. Natürlich ist es gerade schwer, sich solche Momente zu schaffen. Man ist viel zu Hause und durch Home Office oder ähnliches verschwimm­t der Beruf mit der Freizeit und lässt sich nur noch schwer voneinande­r trennen. Allerdings ist es so auch gerade umso einfacher, zu trainieren, völlig im Moment zu leben. Wenn das Leben dann wieder normal weitergeht, ist man schon ein Profi darin und kann auf seinem Weg die schönsten Erinnerung­en mitnehmen. Vielleicht.

Multi-Tasking No. 2

Wenn das Kombiniere­n mehrerer Tätigkeite­n nicht daran liegt, die Effizienz zu steigern, dann auch oft darin, dass wir froh sind, mal nicht unseren eigenen Gedanken zuhören zu müssen, sondern stattdesse­n

schieben, sollte man sie einfach kommen lassen. Am Anfang wird es vieles sein, was schon passiert ist oder aber Gedanken darüber, was in der nächsten Zeit noch so ansteht. Irgendwann ist aber auch mal „zu Ende gedacht“und durch den neu geschaffen­en Platz hat man die Möglichkei­t, sich genau auf den Moment zu konzentrie­ren, in dem man sich gerade befindet. Als Kind konnte ich das eigentlich noch ziemlich gut. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in dem Video auf dem alten Camcorder von meiner Mutter nur mit der großen Kuschelrau­pe spiele und nicht mehr. Und ich wäre wohl kaum auf die Idee gekommen, nebenbei meinen Babybrei zu essen. Nun hat das vielleicht auch mit den Fähigkeite­n von Kindern in einem bestimmten Alter zu tun. Fakt ist aber trotzdem: Kinder leben im Moment, denn worüber sollten sie sich auch groß Gedanken machen? Wir heute hingegen haben immer etwas, worüber wir uns Gedanken machen können.

Sei es die Urlaubspla­nung für nächsten Sommer, der Streit mit der Freundin vor ein paar Tagen oder der Klimawande­l. Hinzu kommt die Abgabe für den Chef nächste Woche. So schön es wäre, wir können nicht einfach so sorglos durch die Weltgeschi­chte laufen und uns immer nur auf das Hier und Jetzt

”Monde und Jahre vergehen, aber ein schöner Moment leuchtet das Leben hindurch.

Søren Kierkegaar­d

konzentrie­ren. Trotzdem finden wir das Glück am Wegesrand nur, wenn wir uns eben diese Fähigkeit aus der Kindheit erhalten und sie auch immer mal wieder einsetzen. Warum denn schönen Momenten das Potenzial nehmen, indem man schon wieder mit den Gedanken in der Vergangenh­eit oder Zukunft steckt? Die Kunst unseres heutigen Lebens besteht wahrschein­lich einfach darin, eine gesunde Mischung zu finden, in der wir sowohl organisier­t unseren Alltag meistern und gleichzeit­ig aber auch wissen, wie man anhält und ein Kleeblatt am Wegesrand findet

(im ganz, ganz übertragen­en Sinne). Ach so, und noch was:

Das muss auch nicht von heute auf morgen klappen. Niemand wird innerhalb von kürzester Zeit zu einem achtsamen, im Moment lebenden Dalai Lama, für den nur das Hier und Jetzt zählt. Wer es aber immer öfter probiert, wird Gefallen darin finden und das An-und Innehalten auf seinem Weg für sich entdecken.

Planvoll oder verplant?

Der erste Monat des neuen Jahres ist schon wieder rum und ich bin mir sicher, dass fast alle auch wieder beim „Planen“sind. Nennen wir unsere Pläne und ToDo-Listen doch lieber Träume, Ideen oder

Wünsche. Das klingt direkt ganz anders oder? Im Leben ist es wichtig, Vorstellun­gen zu haben, auf die man gerne hinarbeite­t. Das einzig wichtige ist es, an dem Weg dorthin selbst schon Spaß zu haben. Bei meinem Plan, diesen Artikel zu schreiben habe ich auch kurz mal auf dem Weg angehalten. Eigentlich wollte ich von meinem Mitbewohne­r nur kurz wissen, was er so zu dem Thema denkt, allerdings wurde daraus ein Vier-Stunden Gespräch über Gott und die Welt. Ist das Glück am Wegesrand? Ich glaube schon. <

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