Verlorene Lebenszeit?
Von Sackgassen und Irrwegen
Die meisten von uns wünschen sich einen geraden Lebensweg, eine klare Zielorientierung und „geordnete Verhältnisse“. Doch ausgerechnet Menschen, die eine äußerlich perfekt anmutende Biografie haben, berichten – nach dem Geheimnis ihres Erfolges und Lebensglücks befragt – häufig von Krisen und Umwegen.
Fragt man junge Frauen nach ihren Plänen und Wünschen für die Zukunft, so sind die Prioritäten erst einmal ziemlich klar:
• beruflicher Erfolg
• familiäres Glück
• ein liebevoller und zuverlässiger Partner, mit dem man Kinder großziehen kann
• ein herzlicher Freundeskreis
• materielle Ziele wie eine eigene Wohnung, ein Haus mit Garten oder schöne Reisen
Wer all das erreichen will, der muss sich frühzeitig auf den Weg machen. Dazu gehört zunächst die richtige Berufswahl. Ausbildung oder Studium? Und wenn Studium: Soll ich mich an den späteren Berufschancen orientieren, an den Verdienstmöglichkeiten, oder doch lieber an den ureigenen Interessen, an dem, was mir ganz persönlich Spaß macht? Nur selten lassen sich all diese Ziele in idealer Weise unter einen Hut bringen. Oft sind es auch die Wünsche der Eltern, die jemanden auf einen bestimmten beruflichen Weg führen, vor allem, wenn es um die Übernahme eines Familienunternehmens geht. Nicht einfach also, hier von Anfang an die richtige Entscheidung zu treffen. Schon hier geht es los: Man wird unsicher, macht Kompromisse, setzt Prioritäten neu, offensichtliche Umwege deuten sich an. Das wirkliche Leben meldet sich zu Wort ... Und bei der Partnerwahl wird es noch schwieriger: Dating-Plattformen und die allgegenwärtige Möglichkeit zu unverbindlichem Sex gaukeln uns vor, dass es den idealen
Lebensgefährten gibt – du wirst ihn finden, wenn du nur ausdauernd suchst! Kein Wunder, dass sich so manche Frau angesichts der scheinbaren Fülle an Möglichkeiten gar nicht erst auf den Weg zu einer tragfähigen Beziehung macht, sondern bei den ersten Schwierigkeiten das Weite sucht. (Das gilt natürlich auch für die Männer.) Gerade die vermeintliche Vielfalt führt zur Angst, etwas Wichtiges zu versäumen und kostbare Lebenszeit zu verlieren, ja, zu vergeuden.
Euphorie des Anfangs
Wir Babyboomer haben schon einiges auf dem Buckel: vermeintlich ideale Partner ebenso wie vermeintlich – oder tatsächlich – unmögliche. Gesellschaftlich höchst anerkannte Ausbildungswege und Berufe mit hohen Gehältern ebenso
wie verrückte Geschäftsideen, komplette Umbrüche und gewagte Neuanfänge. Wir wissen, dass Zeiten der Veränderung nie einfach sind, aber auch, dass uns genau diese Zeiten persönlich weiterbringen. Und woran erinnern wir uns wohl eher? An die fünf Jahre als Sachbearbeiterin in einer Behörde, in denen ein Tag wie der andere ablief, getaktet von zweitem Frühstück, Mittagspause und Feierabend – oder an die eine Nacht, in der wir rotweinselig mit unserer Freundin die Idee zu einer gemeinsamen Vortragsreihe über Künstlerinnen des 19. Jahrhunderts planten? Bis zum ersten Vortrag, den wir nicht wie vorgesehen in der Münchener Kunsthalle, sondern in der VHS Gröbenzell gehalten haben, mag es noch ein weiter Weg voller Hürden und Umwege gewesen sein. Aber nichts war so erfüllend wie der Moment, als wir tatsächlich vor einer Gruppe standen, die uns interessiert zuhörte.
Verlorene Lebenszeit?
Rückblickend sieht es dann natürlich so aus, als wären die Jahre im Amt demgegenüber leer und trostlos gewesen, als wäre die Zeit vor dem „wahren“Durchstarten verschwendet.
Doch die Älteren unter uns wissen, dass Lebenszeit nur selten „vergeudet“ist. Zum einen waren auch sie voller kleiner Begebenheiten, an die wir uns vielleicht nicht mehr erinnern und die nur aus einer geradezu göttlich anmutenden „Gesamtschau“heraus als sinnvoll erkannt werden könnten (ungefähr so wie in dem großartigen Frank-CapraFilm „It’s a wonderful life“, den allerdings selbst Babyboomer kaum
Zum anderen brauchte es aber die Langeweile, den Frust, die Genervtheit und die Erschöpfung, um einen neuen Weg einzuschlagen. Wer kennt nicht den Satz: „Der Leidensdruck ist noch nicht groß genug“, wenn es um die Frage geht, ob man die Firma wechseln und sich auf
„Die höchste Vernunft ist sehr einfach, aber die Menschen lieben nicht den geraden Weg, sondern Umwege.“Laotse
noch kennen dürften, leider!!). Begegnungen mit Menschen, Gespräche, Momente der Zuwendung, auch und gerade im Austausch über all das, was uns fehlte. den steinigen Weg der Stellensuche begeben soll. So gesehen ist man fast zu jeder Zeit an nahezu jedem richtigen Ort. Das gilt natürlich nicht für Extremsituationen wie Gewalt
„Loslassen: Etwas niederlegen können, ohne es als Niederlage betrachten zu müssen.“Henriette Hanke
in der Partnerschaft oder Mobbing am Arbeitsplatz. Hier sind immer sofortiges Handeln und schnelle Entscheidungen gefragt – doch von solchen Extremen sprechen wir an dieser Stelle nicht. Vielmehr geht es um den Alltagstrott, der sich in eine Beziehung eingeschlichen hat; um das Gefühl, im Beruf nicht sein Potenzial auszuschöpfen; um die vage Unzufriedenheit mit dem „perfekten“Leben in der Reihenhaussiedlung am Stadtrand.
Alles ändert sich
Vermeintliche Irr- und Umwege gehören zu jedem Leben. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Nehmen wir ein Beispiel: Eine junge Frau möchte gern Sozialpädagogik studieren, wird von ihrem Umfeld jedoch in ein klassisches geisteswis- senschaftliches Fach gedrängt, das dem Image ihrer großbürgerlichen Herkunft entspricht. Sie wählt als Hauptfach Kunstgeschichte, als Nebenfächer Französisch und Spanisch. Das Studium fällt ihr leicht, sie absolviert die erforderlichen Sprachprüfungen mit Bravour.
Doch irgendetwas fehlt – ihre Leidenschaft ist der Wunsch, gegen soziale Ungerechtigkeit zu kämpfen. Sie brennt dafür, Menschen, die weniger gute Chancen als sie hatten, in ihrem Fortkommen zu unterstützen. In ihrer freien Zeit engagiert sie sich in der Flüchtlingshilfe. Ihre Französischkenntnisse bringen sie mit Menschen aus Nordafrika in
Kontakt, sie gibt Integrationskurse und besucht mit ihren Schülern Museen und Ausstellungen. So kommt sie ihrem eigentlichen Ziel näher. Irgendwann im Laufe der Zeit steht sie vor der Entscheidung, ihr bisheriges Studium zu schmeißen und auf Sozialwissenschaften umzusteigen – oder den Abschluss
in Kunstgeschichte zu machen und darauf aufbauend, später ihren tieferen Interessen und Zielen zu folgen. Der zweite Weg mag vernünftiger erscheinen. Doch sie entscheidet sich für den Wechsel. Ihre Familie ist entsetzt: Sie ist schließlich schon im sechsten Semester. Ihre Eltern entziehen ihr die finanzielle Unterstützung.
Crisis? What Crisis?
Man könnte meinen, die junge Frau würde nun in eine tiefe Krise stürzen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die eigentliche Krise hat sie bereits hinter sich; sie lag vor ihrer Entscheidung. Einmal am Institut für Sozialwissenschaften eingeschrieben, stürzt sie sich voller Energie in das neue Studium. Mit der Unterstützung von Freunden und zwei Nebenjobs, einer davon als Deutschlehrerin für französischsprachige Migranten, der andere als Aushilfe in einem Bioladen, finanziert sie sich das Studium. Ihr Appartement muss sie dennoch aufgeben und zieht stattdessen in eine WG. Das Zusammenleben mit anderen gefällt ihr viel besser als ihre frühere Wohnsituation. Obwohl das Studium der Sozialwissenschaften ihr nicht ganz so leicht fällt wie die kunstgeschichtlichen Seminare, ist sie mit viel mehr Freude bei der Sache und macht wenige Jahre später einen sehr guten Abschluss. Das zweite Studium ist für sie und ihre Lebenserfahrung so viel mehr wert als das erste. Sie hat sich und anderen bewiesen, dass sie für ihre Ziele einsteht, dass sie bereit ist, hart zu arbeiten, um ihren Wunsch zu verwirklichen. Erst die überwundenen Schwierigkeiten machen es für sie so kostbar und beweisen ihr, dass es sich bei ihrem Berufswunsch nicht um ein pubertäres Hirngespinst handelt, sondern um ein echtes Ziel. Und dass sie sich auf diese Weise den Respekt ihrer Familie erworben hat, versteht sich von selbst. Sie kann wirklich stolz auf sich sein, nicht den Weg des geringsten Widerstandes gewählt zu haben.
Dieses Beispiel, die Wahl des richtigen Studienfachs, ist natürlich nur eine von vielen typischen UmkehrSituationen im Leben. Jeder von uns hat in seiner Biografie eine ganze Reihe solcher „Wendungen“erlebt und mehr oder weniger gemeistert.
Loslassen können
Für eine Umkehr ist es nötig, sich zuerst aus einer alten, festgefahrenen
Lebenssituation zu befreien. Loslassen ist der erste Schritt auf dem Weg zum Neuanfang.
Wer nicht auf Hardcore-Clubbing und durchfeierte Nächte verzichten will, kann sich natürlich nicht für ein Kind entscheiden. Wer vom Großstadtleben träumt, sich aber nicht von den alten Schulfreunden im Heimatort trennen kann, wird nie aus diesem Ort wegkommen. Gar nicht zu reden von den zahlreichen unglücklichen Dreiecksbeziehungen, in denen man eine ungeklärte Situation viel zu lange aufrechterhält – weil entweder eine/r oder gar beide es nicht schaffen, sich von ihren bisherigen Partnern zu trennen, andererseits aber auch ihre Leidenschaft nicht unterdrücken wollen.
Solche Situationen binden sehr viel Energie. Ein Schritt vor, zwei zurück: Wer hätte sich nicht schon einmal in einer schwierigen Lage so zögerlich verhalten?
Gefühle machen uns aus
Denn auch das kann das Ergebnis eines Neuanfangs sein: Wir stellen fest, dass er sich als Irrweg erweist. Dass wir das Alte besser nicht losgelassen hätten. Das ersehnte Ziel war möglicherweise nur ein Trugbild. Wenn wir dann noch umkehren können, so werden wir dieses Alte mehr als je zuvor schätzen, und dann war ein Irrweg eigentlich gar kein Irr-, sondern eher ein Klärungsweg.
Natürlich ist das nicht immer möglich. Die reumütige Rückkehr zum Ex-Partner nach einem Seitensprung gelingt nur selten. Zu tief ist die Verletzung, zu groß der Vertrauensbruch. Und welcher Arbeitgeber nimmt schon mit Kusshand
eine Mitarbeiterin zurück, die mit großer Geste ihre Kündigung ausgesprochen hat, um anschließend mit ihrer Geschäftsgründung kläglich zu scheitern? Extreme Beispiele, zugegeben, aber sie lassen unsere These, dass Irrwege immer positiv sind, zumindest ein wenig ins Wanken geraten.
Fakt bleibt aber, dass Irrtümer und Fehlentscheidungen zu jedem Leben und zu jeder charakterlichen Entwicklung dazugehören, selbst wenn die nachträgliche Erkenntnis ihrer Sinnhaftigkeit ausbleibt.
Sinnvoll aus einer übergeordneten Perspektive bleiben sie. Allein schon, weil sie uns starke Gefühle erleben lassen, weil sie uns Höhen und Tiefen zeigen, uns aus dem ruhigen „Dahinplätschern“des Alltags herausreißen. Gefühle, die uns reicher machen.
So könnte man auch sagen: Erst die Umwege und Fehlentscheidungen unserer Biografie machen uns im eigentlichen Sinne menschlich. Und vielleicht ist das das wichtigste Ziel eines jeden Lebens. <