Digitale Kultur: Kulturelle Unterschiede
Haben wir mehr musikalische Übereinstimmungen mit anderen Kulturen oder mehr Unterschiede? Die Suche nach Antworten treibt Musiker und Wissenschaftler seit Jahrzehnten an und um. Aktuelle Ergebnisse scheinen sich zu widersprechen – oder beruht alles etwa nur auf einem großen Missverständnis?
Haben wir mehr musikalische Übereinstimmungen mit anderen Kulturen oder mehr Unterschiede? Die Suche nach Antworten treibt Musiker und Wissenschaftler seit Jahrzehnten an und um. Aktuelle Ergebnisse scheinen sich zu widersprechen – oder beruht alles etwa nur auf einem großen Missverständnis?
Cross-Over ist eines der am meisten verhassten Genres. Dabei war es mindestens drei Jahrzehnte lang ein Hoffnungsträger. Wenn sich verschiedene Kulturen im gemeinsamen Musikmachen friedlich austauschen, ist das nicht ein Hinweis auf die Kraft von Musik, Differenzen zu überbrücken und Widersprüche aufzulösen? Als Bands wie das Mahavishnu Orchestra in den frühen 70ern mit bis zu zwanzig Minuten langen Traumgebilden aus indischer Harmonik und explorativem Rock die Charts erklommen und Ravi Shankar zu Jams der führenden Jazz-Musiker eingeladen wurde, waren die Sessions von gespannter Erwartung erfüllt. Bereits 1967 hatte der Guru-Guru-Schlagzeuger Mani Neumeier auf „Jazz Meets India“eine Gruppe klassischer indischer Musiker auf ein Free-Jazz-Ensemble prallen lassen. Und als in den 90ern Sampling die Türen für die Einbindung globaler Klänge weit öffnete, brachen endgültig alle Schleusen: Innerhalb weniger Jahre entstanden kommerzielle und kreative Meilensteine von Enigma und Deep Forest bis hin zu Material‘s „Hallucination Engine“. Die Desillusionierung ließ nicht lange auf sich warten: Handelte es sich bei diesen Projekten wirklich um eine freundlich ausgestreckte Hand – oder eher um den langen Arm der geldgierigen Industrie? Der Kulturkritiker Hakim Bey meinte dazu: „Die Überreste der kolonial-imperialistischen Mentalität führen dazu, dass wir die Kultur anderer Völker als das Rohmaterial für unseren eklektischen postmodernen „Mix“betrachten. In Wahrheit aber machen wir uns der kulturellen Aneignung schuldig. Oder, um es weniger extravagant auszudrücken: Wir stehlen von Freunden.“[1] Bey war einer der ersten, die sich dem Thema der Aneignung annahmen – die Diskussion, die sich an seinen Worten aufgehangen hat, wütet bis heute.
Eine Frage, die dabei oftmals unter den Tisch fällt: Wie groß sind die Unterschiede zwischen musikalischen Kulturen überhaupt? Ist Musik tatsächlich eine musikalische Weltsprache? Und spiegeln sich in den unzähligen lokalen Ausprägungen nicht nur immer wieder die selben Grundprinzipien, in jeweils neu interpretierter Form? Man bezeichnet diese Themen als die Suche nach Universalien in der Kunst, also den Elementen, die wir, aufgrund anthropologischer Parallelen, alle teilen. In gewisser Weise waren die frühen Cross-OverPlatten erste Versuche, den angeschnittenen Fragen auf den Grund zu gehen.
Während die Debatte heute extrem polarisiert und teilweise arg verkrampft geführt wird, gingen die Musiker die Angelegenheit seinerzeit mit deutlich weniger Hemmungen an. Mani Neumeiers viel diskutiertes „Jazz meets India“zum Beispiel hat rein gar nichts mit späteren, glattgebügelten Fusionprojekten zu tun. Hier prallen wirklich noch zwei (oder sogar noch mehr) Welten aufeinander, wodurch Brüche und überraschende Übereinstimmungen um so deutlicher hervortreten. Das Hauptproblem dieser Pionierphase besteht darin, dass die Künstler nicht intellektuelle Antworten suchten, sondern vielmehr den lebendigen Austausch mit anderen Kulturen. Es ist viel Weisheit in „Jazz meets India“enthalten – vor allem auch dazu, was funktioniert und was nicht – aber keine allgemeingültige Theorie dazu, was sie konkret bedeuten. So verloren Musiker weitestgehend die Deutungshoheit über die Debatte. Passend zum Zeitgeist beschäftigen sich heute üblicherweise Akademiker mit Fragen kultureller Kongruenz. Im besten Fall führt das zu Ergebnissen mit einer höheren Präzision. Im schlechtesten Fall zu einem kalten Herunterbrechen der ehemals so glühenden Leidenschaften auf Statistiken, Kongruenzen, Zahlen.
Letzten Endes spielt es keine Rolle, wie viel wir mit anderen Kulturen teilen. Was zählt, ist ob wir Musik nutzen um uns näher zusammen zu bringen – oder uns immer weiter voneinander
zu entfernen.
Geringe Aussagekraft
Seit Jahren führt das zu einer Flut an Studien, denen vor allem gemeinsam ist, dass sie sich bevorzugt widersprechen und von geringer Aussagekraft sind. Man nehme zum Beispiel eine aktuelle und mit 750 Teilnehmern aus 60 Ländern groß angelegte Reihe von Experimenten. Den Probanden wurden dabei kurze Ausschnitte von Stücken aus neunzig verschiedenen Gesellschaften aus der ganzen Welt vorgespielt. Die Bandbreite reichte von industriell geprägten Gemeinschaften über landwirtschaftlich geprägte Regionen bis hin zu Jäger-Sammler-Verbänden. Die Aufgabe der Teilnehmer bestand darin, den Clips eine von sechs Funktionen zuzuweisen: Diente die vorgespielte Musik dazu, zum Tanzen zu animieren, ein Kleinkind zu beruhigen, eine Krankheit zu heilen, Liebe auszudrücken, Trauer über Todesfälle zu bewältigen oder eine Geschichte zu erzählen? Die Meisten waren überraschenderweise im Stande, die Bedeutung eines Songs erfolgreich den genannten Bereiche zuzuordnen.
Der Human-Evolutionsbiologe Samuel Mehr äußerte dazu: „Es hat sich heraus gestellt, dass wenn du Leuten diese recht einfachen Fragen zu den Liedern stellst, sie einen sehr hohen Grad der Übereinstimmung aufweisen. Sogar, wenn es sich um ziemlich subjektive musikalische Eigenschaften handelt, wie beispielsweise den Grad der melodischen Komplexität, weichen ihre Einschätzungen nicht all zu sehr voneinander ab.“In einem Artikel der Harvard Gazette fällt die Schlussfolgerung recht eindeutig aus: „Die Ergebnisse belegen, dass Songs der gleichen Funktionalität ähnliche Eigenschaften besitzen. Wiegenlieder, zum Beispiel, sind tendenziell langsamer und melodisch einfacher gestrickt als Tanzstücke. Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass gewisse musikalische Qualitäten kulturelle Grenzen überwinden können.“[2]
Wäre es vielleicht tatsächlich – wenn die Studie nicht methodisch problematisch wäre. Zum einen führt die Einteilung aller Lieder in eine von sechs Kategorien zwangsläufig zu einer weitaus höheren Trefferquote als eine offenere Fragestellung – man darf sogar davon ausgehen, dass ohne dieses hilfreiche Rahmenwerk recht viele Studienteilnehmer, ja sogar viele erfahrene Hörer, mit der Einschätzung vollkommen überfordert gewesen wären. Noch schwerer wiegt, dass die Studie online durchgeführt wurde. Das heißt, die teilnehmenden Probanden waren allesamt Internet-affin und somit bereits von Anfang an einer breiten Auswahl externer Stimuli ausgesetzt. Was die Durchführenden somit als „musikalische Universalien“einschätzten, könnte letztendlich lediglich eine besser entwickelte Intuition sein, die sich durch wiederholte Begegnungen mit den der musikalischen Ausdrucksformen fremder Kulturen herausgebildet hat. Wer einmal das Grundprinzip eines Four-to-the-Floor-Bassdrum
Beats verstanden hat, dem wird es auch nicht mehr schwerfallen, diese Funktionalität in unterschiedlichen Kontexten einzuordnen.
Entgegengesetzte Schlussfolgerungen
So kann es kaum verwundern, dass andere Publikationen zu den genau entgegengesetzten Schlussfolgerungen kommen: Eine Studie hat darauf hingewiesen, dass Klangtherapie nur dann zu einer spürbaren Schmerzlinderung führt, wenn sie spezifisch auf die Kultur des Patienten zugeschnitten ist. [3] Auch ist bekannt, dass bereits 4-8 Monate alte Kinder eine Präferenz für die typischen Rhythmen der Kultur aufweisen, in der sie aufwachsen. [4] In einem besonders bemerkenswerten Fall kamen die Forscher sogar zu dem Ergebnis, dass die eigentlich als gesetzt geltende Oktaväquivalenz als kulturell geprägt angesehen werden kann. Dabei handelt es sich gerade bei diesem Prinzip um eines der wenigen, dass die meisten Experten überall auf der Welt in irgendeiner Form in Aktion zu sehen glauben. So betonen Sandra E. Trehub, Judith Becker und Iain Morley in einer Arbeit, dass die Oktaväquivalenz – das Gefühl, dass um eine oder mehrere Oktaven nach oben oder unten transponierter Töne als identisch sind - sogar dort empfunden wird, wo man sie am wenigsten vermuten würde: In der balinesischen Gamelanmusik, zum Beispiel, die den bewussten Verstoß gegen oktavischen Gleichklang zum spielerischen Prinzip erhebt.
Der Frankfurter Forscher Nori Jacoby ist dazu in das bolivianische Tiefland gereist, um die musikalische Perspektive der örtlichen Tsimané einzuholen. [5] Bei den Tsimané handelt es sich um einen kleinen Jäger- und Sammlerstamm, der bis heute größtenteils abseits von Industrie und Marktwirtschaft lebt. Ihre Isolation macht die Tsimané für viele wissenschaftliche Fragestellungen zu idealen Kandidaten. Beispielsweise erlaubt ihre ungewöhnlich kalorienreiche Diät wertvolle Schlüsse darüber zu, was eine gesunde Ernährung wirklich ausmacht. Für Jacoby war vor allem von Interesse, dass die Tsimané nicht mit westlicher Musik in Berührung gekommen waren. In dem Experiment spielten die Wissenschaftler ihnen Lieder vor und baten sie, sie in ihrer eigenen Stimmlage nachzusingen. Während viele westliche Hörer das Thema genau um eine Oktave transponierten, wählten die Tsimané andere Intervalle. Auch wirkten im Westen als Dissonanz empfundene Mehrklänge für ihre Ohren harmonisch. Selbstverständlich zweifeln Jacoby und seine Kollegen nicht die physikalischen Grundlagen der Oktave an sich an. Vielmehr suggerieren sie, dass ihre Bedeutung dennoch kulturell bedingt sein könnte. „Wir müssen uns fragen, was Leute eigentlich hören. Unsere Erfahrungen mit der Musik, der wir ausgesetzt sind, verändern unseren Geist auf eine Weise, dass wir die selben Dinge anders wahrnehmen.“
Offene Durchmischung
Die Durchmischung verschiedener Kulturen in riesigen Metropolen spielt somit eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung einer freien Perspektive. Künstler wie Bill Laswell oder die Masters at Work wuchsen in kulturellen Schmelztiegeln auf, die Straße war ihre Mix-CD. Alles verschmolz miteinander, Grenzen waren von Anfang an undeutlich. Kein Wunder, dass die Musik, die aus einer solchen Sozialisation entstand, sich nicht mehr an alte Trennlinien halten mochte. Zentral stand nunmehr die Überzeugung, dass nicht musikalische, sondern vielmehr menschliche Universalien den Schlüssel zum kreativen Ausdruck und Verständnis bilden. Wir mögen sehr unterschiedlicher Musik ausgesetzt worden sein, doch die so prägenden Phasen unseres Lebens enthalten weltweit vor allem Übereinstimmungen. Bestimmte Bewegungen (aus denen sich musikalische Taktarten und Grooves ableiten), zum Ausdruck gebrachte Gefühle wie Schmerz und Freude (die sich in melodischen Mustern und Klangfarben äußern) und die so prägende vorsprachliche Kommunikation, mit der wir fast alle aufwachsen, spiegeln sich sogar in den abstraktesten Formen experimenteller Klangkunst wieder.
Künstler, die in multikulturellen Gemeinden aufwachsen, haben üblicherweise weniger Scheuklappen und Berührungsängste, sind in der Lage, die gemeinsame Grundlage von Differenzen und Übereinstimmungen zu erkennen. Ihre Kunst ist von einer großen, unersättlichen Neugier geprägt, dem Wunsch, die scheinbaren Widersprüche im eigenen Schaffen aufzuheben. Letzten Endes war dies auch der Wunsch von Hakim Bey, der keineswegs den Dialog der Kulturen ablehnte. Unter Aneignung verstand er lediglich ein lieblos in einen Track hineingeklatschtes Sitarsample oder die unter einen Discobeat gelegten „polyrhythmischen“Urwaldtrommeln. Der Austausch unter Freunden aber musste aktiv vorangetrieben werden: „Kollaboration statt Aneignung. Übersetzung statt Interpretation. Leben statt Lebensstil.“, wie er es auf den Punkt brachte. Letzten Endes spielt es auch überhaupt keine Rolle, wie viele Universalien wir mit anderen Kulturen teilen. Was zählt, ist ob wir Musik nutzen um uns näher zusammen zu bringen - oder uns immer weiter voneinander zu entfernen.