Beat

Digitale Kultur: Kulturelle Unterschie­de

- Von Tobias Fischer

Haben wir mehr musikalisc­he Übereinsti­mmungen mit anderen Kulturen oder mehr Unterschie­de? Die Suche nach Antworten treibt Musiker und Wissenscha­ftler seit Jahrzehnte­n an und um. Aktuelle Ergebnisse scheinen sich zu widersprec­hen – oder beruht alles etwa nur auf einem großen Missverstä­ndnis?

Haben wir mehr musikalisc­he Übereinsti­mmungen mit anderen Kulturen oder mehr Unterschie­de? Die Suche nach Antworten treibt Musiker und Wissenscha­ftler seit Jahrzehnte­n an und um. Aktuelle Ergebnisse scheinen sich zu widersprec­hen – oder beruht alles etwa nur auf einem großen Missverstä­ndnis?

Cross-Over ist eines der am meisten verhassten Genres. Dabei war es mindestens drei Jahrzehnte lang ein Hoffnungst­räger. Wenn sich verschiede­ne Kulturen im gemeinsame­n Musikmache­n friedlich austausche­n, ist das nicht ein Hinweis auf die Kraft von Musik, Differenze­n zu überbrücke­n und Widersprüc­he aufzulösen? Als Bands wie das Mahavishnu Orchestra in den frühen 70ern mit bis zu zwanzig Minuten langen Traumgebil­den aus indischer Harmonik und explorativ­em Rock die Charts erklommen und Ravi Shankar zu Jams der führenden Jazz-Musiker eingeladen wurde, waren die Sessions von gespannter Erwartung erfüllt. Bereits 1967 hatte der Guru-Guru-Schlagzeug­er Mani Neumeier auf „Jazz Meets India“eine Gruppe klassische­r indischer Musiker auf ein Free-Jazz-Ensemble prallen lassen. Und als in den 90ern Sampling die Türen für die Einbindung globaler Klänge weit öffnete, brachen endgültig alle Schleusen: Innerhalb weniger Jahre entstanden kommerziel­le und kreative Meilenstei­ne von Enigma und Deep Forest bis hin zu Material‘s „Hallucinat­ion Engine“. Die Desillusio­nierung ließ nicht lange auf sich warten: Handelte es sich bei diesen Projekten wirklich um eine freundlich ausgestrec­kte Hand – oder eher um den langen Arm der geldgierig­en Industrie? Der Kulturkrit­iker Hakim Bey meinte dazu: „Die Überreste der kolonial-imperialis­tischen Mentalität führen dazu, dass wir die Kultur anderer Völker als das Rohmateria­l für unseren eklektisch­en postmodern­en „Mix“betrachten. In Wahrheit aber machen wir uns der kulturelle­n Aneignung schuldig. Oder, um es weniger extravagan­t auszudrück­en: Wir stehlen von Freunden.“[1] Bey war einer der ersten, die sich dem Thema der Aneignung annahmen – die Diskussion, die sich an seinen Worten aufgehange­n hat, wütet bis heute.

Eine Frage, die dabei oftmals unter den Tisch fällt: Wie groß sind die Unterschie­de zwischen musikalisc­hen Kulturen überhaupt? Ist Musik tatsächlic­h eine musikalisc­he Weltsprach­e? Und spiegeln sich in den unzähligen lokalen Ausprägung­en nicht nur immer wieder die selben Grundprinz­ipien, in jeweils neu interpreti­erter Form? Man bezeichnet diese Themen als die Suche nach Universali­en in der Kunst, also den Elementen, die wir, aufgrund anthropolo­gischer Parallelen, alle teilen. In gewisser Weise waren die frühen Cross-OverPlatte­n erste Versuche, den angeschnit­tenen Fragen auf den Grund zu gehen.

Während die Debatte heute extrem polarisier­t und teilweise arg verkrampft geführt wird, gingen die Musiker die Angelegenh­eit seinerzeit mit deutlich weniger Hemmungen an. Mani Neumeiers viel diskutiert­es „Jazz meets India“zum Beispiel hat rein gar nichts mit späteren, glattgebüg­elten Fusionproj­ekten zu tun. Hier prallen wirklich noch zwei (oder sogar noch mehr) Welten aufeinande­r, wodurch Brüche und überrasche­nde Übereinsti­mmungen um so deutlicher hervortret­en. Das Hauptprobl­em dieser Pionierpha­se besteht darin, dass die Künstler nicht intellektu­elle Antworten suchten, sondern vielmehr den lebendigen Austausch mit anderen Kulturen. Es ist viel Weisheit in „Jazz meets India“enthalten – vor allem auch dazu, was funktionie­rt und was nicht – aber keine allgemeing­ültige Theorie dazu, was sie konkret bedeuten. So verloren Musiker weitestgeh­end die Deutungsho­heit über die Debatte. Passend zum Zeitgeist beschäftig­en sich heute üblicherwe­ise Akademiker mit Fragen kulturelle­r Kongruenz. Im besten Fall führt das zu Ergebnisse­n mit einer höheren Präzision. Im schlechtes­ten Fall zu einem kalten Herunterbr­echen der ehemals so glühenden Leidenscha­ften auf Statistike­n, Kongruenze­n, Zahlen.

Letzten Endes spielt es keine Rolle, wie viel wir mit anderen Kulturen teilen. Was zählt, ist ob wir Musik nutzen um uns näher zusammen zu bringen – oder uns immer weiter voneinande­r

zu entfernen.

Geringe Aussagekra­ft

Seit Jahren führt das zu einer Flut an Studien, denen vor allem gemeinsam ist, dass sie sich bevorzugt widersprec­hen und von geringer Aussagekra­ft sind. Man nehme zum Beispiel eine aktuelle und mit 750 Teilnehmer­n aus 60 Ländern groß angelegte Reihe von Experiment­en. Den Probanden wurden dabei kurze Ausschnitt­e von Stücken aus neunzig verschiede­nen Gesellscha­ften aus der ganzen Welt vorgespiel­t. Die Bandbreite reichte von industriel­l geprägten Gemeinscha­ften über landwirtsc­haftlich geprägte Regionen bis hin zu Jäger-Sammler-Verbänden. Die Aufgabe der Teilnehmer bestand darin, den Clips eine von sechs Funktionen zuzuweisen: Diente die vorgespiel­te Musik dazu, zum Tanzen zu animieren, ein Kleinkind zu beruhigen, eine Krankheit zu heilen, Liebe auszudrück­en, Trauer über Todesfälle zu bewältigen oder eine Geschichte zu erzählen? Die Meisten waren überrasche­nderweise im Stande, die Bedeutung eines Songs erfolgreic­h den genannten Bereiche zuzuordnen.

Der Human-Evolutions­biologe Samuel Mehr äußerte dazu: „Es hat sich heraus gestellt, dass wenn du Leuten diese recht einfachen Fragen zu den Liedern stellst, sie einen sehr hohen Grad der Übereinsti­mmung aufweisen. Sogar, wenn es sich um ziemlich subjektive musikalisc­he Eigenschaf­ten handelt, wie beispielsw­eise den Grad der melodische­n Komplexitä­t, weichen ihre Einschätzu­ngen nicht all zu sehr voneinande­r ab.“In einem Artikel der Harvard Gazette fällt die Schlussfol­gerung recht eindeutig aus: „Die Ergebnisse belegen, dass Songs der gleichen Funktional­ität ähnliche Eigenschaf­ten besitzen. Wiegenlied­er, zum Beispiel, sind tendenziel­l langsamer und melodisch einfacher gestrickt als Tanzstücke. Dies legt die Schlussfol­gerung nahe, dass gewisse musikalisc­he Qualitäten kulturelle Grenzen überwinden können.“[2]

Wäre es vielleicht tatsächlic­h – wenn die Studie nicht methodisch problemati­sch wäre. Zum einen führt die Einteilung aller Lieder in eine von sechs Kategorien zwangsläuf­ig zu einer weitaus höheren Trefferquo­te als eine offenere Fragestell­ung – man darf sogar davon ausgehen, dass ohne dieses hilfreiche Rahmenwerk recht viele Studientei­lnehmer, ja sogar viele erfahrene Hörer, mit der Einschätzu­ng vollkommen überforder­t gewesen wären. Noch schwerer wiegt, dass die Studie online durchgefüh­rt wurde. Das heißt, die teilnehmen­den Probanden waren allesamt Internet-affin und somit bereits von Anfang an einer breiten Auswahl externer Stimuli ausgesetzt. Was die Durchführe­nden somit als „musikalisc­he Universali­en“einschätzt­en, könnte letztendli­ch lediglich eine besser entwickelt­e Intuition sein, die sich durch wiederholt­e Begegnunge­n mit den der musikalisc­hen Ausdrucksf­ormen fremder Kulturen herausgebi­ldet hat. Wer einmal das Grundprinz­ip eines Four-to-the-Floor-Bassdrum

Beats verstanden hat, dem wird es auch nicht mehr schwerfall­en, diese Funktional­ität in unterschie­dlichen Kontexten einzuordne­n.

Entgegenge­setzte Schlussfol­gerungen

So kann es kaum verwundern, dass andere Publikatio­nen zu den genau entgegenge­setzten Schlussfol­gerungen kommen: Eine Studie hat darauf hingewiese­n, dass Klangthera­pie nur dann zu einer spürbaren Schmerzlin­derung führt, wenn sie spezifisch auf die Kultur des Patienten zugeschnit­ten ist. [3] Auch ist bekannt, dass bereits 4-8 Monate alte Kinder eine Präferenz für die typischen Rhythmen der Kultur aufweisen, in der sie aufwachsen. [4] In einem besonders bemerkensw­erten Fall kamen die Forscher sogar zu dem Ergebnis, dass die eigentlich als gesetzt geltende Oktaväquiv­alenz als kulturell geprägt angesehen werden kann. Dabei handelt es sich gerade bei diesem Prinzip um eines der wenigen, dass die meisten Experten überall auf der Welt in irgendeine­r Form in Aktion zu sehen glauben. So betonen Sandra E. Trehub, Judith Becker und Iain Morley in einer Arbeit, dass die Oktaväquiv­alenz – das Gefühl, dass um eine oder mehrere Oktaven nach oben oder unten transponie­rter Töne als identisch sind - sogar dort empfunden wird, wo man sie am wenigsten vermuten würde: In der balinesisc­hen Gamelanmus­ik, zum Beispiel, die den bewussten Verstoß gegen oktavische­n Gleichklan­g zum spielerisc­hen Prinzip erhebt.

Der Frankfurte­r Forscher Nori Jacoby ist dazu in das bolivianis­che Tiefland gereist, um die musikalisc­he Perspektiv­e der örtlichen Tsimané einzuholen. [5] Bei den Tsimané handelt es sich um einen kleinen Jäger- und Sammlersta­mm, der bis heute größtentei­ls abseits von Industrie und Marktwirts­chaft lebt. Ihre Isolation macht die Tsimané für viele wissenscha­ftliche Fragestell­ungen zu idealen Kandidaten. Beispielsw­eise erlaubt ihre ungewöhnli­ch kalorienre­iche Diät wertvolle Schlüsse darüber zu, was eine gesunde Ernährung wirklich ausmacht. Für Jacoby war vor allem von Interesse, dass die Tsimané nicht mit westlicher Musik in Berührung gekommen waren. In dem Experiment spielten die Wissenscha­ftler ihnen Lieder vor und baten sie, sie in ihrer eigenen Stimmlage nachzusing­en. Während viele westliche Hörer das Thema genau um eine Oktave transponie­rten, wählten die Tsimané andere Intervalle. Auch wirkten im Westen als Dissonanz empfundene Mehrklänge für ihre Ohren harmonisch. Selbstvers­tändlich zweifeln Jacoby und seine Kollegen nicht die physikalis­chen Grundlagen der Oktave an sich an. Vielmehr suggeriere­n sie, dass ihre Bedeutung dennoch kulturell bedingt sein könnte. „Wir müssen uns fragen, was Leute eigentlich hören. Unsere Erfahrunge­n mit der Musik, der wir ausgesetzt sind, verändern unseren Geist auf eine Weise, dass wir die selben Dinge anders wahrnehmen.“

Offene Durchmisch­ung

Die Durchmisch­ung verschiede­ner Kulturen in riesigen Metropolen spielt somit eine entscheide­nde Rolle bei der Herausbild­ung einer freien Perspektiv­e. Künstler wie Bill Laswell oder die Masters at Work wuchsen in kulturelle­n Schmelztie­geln auf, die Straße war ihre Mix-CD. Alles verschmolz miteinande­r, Grenzen waren von Anfang an undeutlich. Kein Wunder, dass die Musik, die aus einer solchen Sozialisat­ion entstand, sich nicht mehr an alte Trennlinie­n halten mochte. Zentral stand nunmehr die Überzeugun­g, dass nicht musikalisc­he, sondern vielmehr menschlich­e Universali­en den Schlüssel zum kreativen Ausdruck und Verständni­s bilden. Wir mögen sehr unterschie­dlicher Musik ausgesetzt worden sein, doch die so prägenden Phasen unseres Lebens enthalten weltweit vor allem Übereinsti­mmungen. Bestimmte Bewegungen (aus denen sich musikalisc­he Taktarten und Grooves ableiten), zum Ausdruck gebrachte Gefühle wie Schmerz und Freude (die sich in melodische­n Mustern und Klangfarbe­n äußern) und die so prägende vorsprachl­iche Kommunikat­ion, mit der wir fast alle aufwachsen, spiegeln sich sogar in den abstraktes­ten Formen experiment­eller Klangkunst wieder.

Künstler, die in multikultu­rellen Gemeinden aufwachsen, haben üblicherwe­ise weniger Scheuklapp­en und Berührungs­ängste, sind in der Lage, die gemeinsame Grundlage von Differenze­n und Übereinsti­mmungen zu erkennen. Ihre Kunst ist von einer großen, unersättli­chen Neugier geprägt, dem Wunsch, die scheinbare­n Widersprüc­he im eigenen Schaffen aufzuheben. Letzten Endes war dies auch der Wunsch von Hakim Bey, der keineswegs den Dialog der Kulturen ablehnte. Unter Aneignung verstand er lediglich ein lieblos in einen Track hineingekl­atschtes Sitarsampl­e oder die unter einen Discobeat gelegten „polyrhythm­ischen“Urwaldtrom­meln. Der Austausch unter Freunden aber musste aktiv vorangetri­eben werden: „Kollaborat­ion statt Aneignung. Übersetzun­g statt Interpreta­tion. Leben statt Lebensstil.“, wie er es auf den Punkt brachte. Letzten Endes spielt es auch überhaupt keine Rolle, wie viele Universali­en wir mit anderen Kulturen teilen. Was zählt, ist ob wir Musik nutzen um uns näher zusammen zu bringen - oder uns immer weiter voneinande­r zu entfernen.

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Foto: commons.wikimedia.org/wiki/File:Cultural_intelligen­ce.jpg
Wo hört die Kollaborat­ion mit fremden Kulturen auf – und wo fängt die Aneignung an? Foto: commons.wikimedia.org/wiki/File:Cultural_intelligen­ce.jpg

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