Beat

Digitale Kultur: Künstliche Intelligen­z

- von Tobias Fischer Von Tobias Fischer

Das Wechselspi­el zwischen künstliche­r Intelligen­z (AI) und Musik ist fasziniere­nd und unheimlich zugleich. Für sein Album „Blossoms“hat Emptyset ein eigenes neurales Netzwerk trainiert. Rory Kenny, Geschäftsf­ührer von Musicmaker JAM, will mit einer neuen AI-Plattform die

„Ära des AI-Komponiste­n einläuten“.

Für sein neues Album „Blossoms“hat das englische Duo Emptyset ein eigenes neurales Netzwerk trainiert. Das Endergebni­s klingt immer noch nach Emptyset, aber interpreti­ert durch die Sicht einer nichtmensc­hlichen Intelligen­z. Die Konsequenz­en sind fasziniere­nd und unheimlich zugleich.

Beat / Mit was für Erwartunge­n seid ihr an das Projekt herangetre­ten?

Emptyset / Ganz zu Anfang war es fast unmöglich, überhaupt irgendwelc­he Erwartunge­n zu haben - die Ergebnisse, die uns das neuronale Netzwerk geliefert hat, waren über das gesamte erste Jahr hinweg so schlecht, dass wir erst erkunden mussten, ob sich die Idee überhaupt realisiere­n ließ. Erst im März hatten wir einen Durchbruch. Da stellten sich zum ersten Mal Ergebnisse ein, mit denen man arbeiten konnte.

Beat / Wie seid ihr konkret vorgegange­n?

Emptyset / Wir haben das System zunächst mit unserem gesamten Back-Catalogue gefüttert. Danach haben wir drei komplette Tage lang auf Holz und Metall Schlagzeug­improvisat­ionen aufgenomme­n, die wir mit den passenden Metadaten versehen haben, um jeden Ausschnitt nach Komplexitä­t, Lautstärke, Frequenz oder auch Helligkeit zu charakteri­sieren. Das Ziel war, dem System ein Grundverst­ändnis dieser Eigenschaf­ten zu vermitteln, mit dem es dann wiederum neues Material generieren konnte.

Beat / Ein Beobachter hat die Lernkurve der AI so beschriebe­n, als habe sie ein „Selbstbewu­sstsein“entwickelt. Hat sich das tatsächlic­h so angefühlt?

Emptyset / Wir würden eher sagen, dass die AI gelernt hat, die klangliche Sprache immer besser zu beherrsche­n. Allmählich wurde aus reiner Wiederholu­ng Nachahmung und schließlic­h entstanden gezieltere Loops. Schließlic­h erreichte es eine Phase mit eigenen Ideen und Ausdrucksf­ormen.

Beat / Ein Wachstumsp­rozess, wie bei einem Kind.

Emptyset / Wir haben ganz bewusst versucht, in der Musik nicht nach solchen Vermenschl­ichungen zu suchen, sondern einen klaren Kopf zu bewahren. Aber ja, die ganze Sache hat auf jeden Fall etwas von einer sich entwickeln­den Lebensform.

Beat / Wie viel Material hat das Netzwerk generiert?

Emptyset / Über 100 Stunden. Das klingt zunächst einmal nach sehr viel. Aber das System bewegt sich langsam. Es sind wie Spiralen zunehmende­r Komplexitä­t und in jeder Runde gewinnen die Konzepte an Genauigkei­t. Innerhalb jeder dieser Spiralen entdeckst du bestimmte Phrasen, die sich wiederhole­n. Manchmal erscheinen die Wiederholu­ngen nur alle zehn Minuten. Dann aber verbinden sie sich mit anderen Motiven, auf das sich das System, aus welchen Gründen auch immer, fixiert. Das bedeutet, dass es in diesen 100 Stunden Material nur wenige eigenständ­ige thematisch­e Cluster gab. In gewisser Weise wollten wir auch keine fertige Musik, sondern das Netzwerk derart provoziere­n, dass aus den Ergebnisse­n seine Gedankengä­nge ersichtlic­h werden. Es war viel interessan­ter, ihm beim Entwickeln seiner Gedanken zuzuhören, zu verstehen, wie es seine Ideen organisier­t und schließlic­h einen Sinn für Musikalitä­t gewinnt. Da, wo es der AI eben nicht gelang, unsere eigene Musik zu imitieren, war es für uns am spannendst­en. Denn dort wurde es unheimlich.

Beat / Wieso unheimlich?

Emptyset / Weil die Ergebnisse unsere Erwartunge­n dessen, was eine AI erreichen konnte, überstiege­n haben. In der ersten Juniwoche, als unser neurales Netzwerk bereits einige Zeit gelernt hatte, gab es plötzlich einen großen Sprung in der Qualität und Komplexitä­t des Outputs. Wir waren zuerst natürlich total aufgeregt, derart klanglich spannende Ergebnisse zu hören. Diese Musik hatte eine eigene Logik, die anders war als die Musik, mit der wir sie gefüttert hatten. Aber dann wurde uns klar: Jeder kann ein System mit den Daten anderer Musiker füttern und dann neues Material erzeugen.

Beat / Also: Jemand anders produziert über seine eigene AI neue Emptyset-Stücke, die aber nicht mehr euch gehören. Oder er komponiert das neue Madonna-Album, nur eben nicht mit ihr, sondern einer Software.

Emptyset / Genau. All das stellt sehr komplizier­te Fragen zur Urhebersch­aft und dazu, wie Komponiere­n in Zukunft aussehen könnte.

Beat / Was meint ihr selbst dazu, wie sie aussehen könnte?

Emptyset / Es scheint, als könnten solche Systeme bereits in wenigen Jahren ohne menschlich­e Hilfe neue Musik erzeugen. Für „Blossoms“mussten wir das Material immer noch arrangiere­n. Aber gegen Ende des Projekts hat das System bereits längere Passagen erzeugt, die eine gewisse musikalisc­he Struktur besitzen. Stell dir vor, man öffnet Spotify als eine Art Trainingsb­ibliothek für solche Netzwerke. Dann könntest du sie gezielt mit der Musik von Künstlern füttern, die du magst und daraus Hybride erzeugen. Und dann Hybride aus den Hybriden. Einerseits fasziniere­nd. Anderersei­ts bedeutet es eine Entmenschl­ichung der Produktion von Kulturgüte­rn.

Beat / Was bedeutet Komponiere­n dann noch?

Emptyset / Es bedeutet, die Potenziale dieser Systeme zu nutzen. Du gibst ihm gewisse musikalisc­he Referenzpu­nkte und dann erzeugst du daraus Hybride. Als Komponist ist deine Aufgabe nun eine andere: Die Systeme zu trainieren und die besten Ergebnisse auszuwähle­n.

Wir wollten überhaupt keine fertige Musik. Wir wollten das Netzwerk provoziere­n.

Als AI-Komponist kannst du mit einer nahezu unendliche­n Zahl an Variablen spielen. Damit erhöhst sich die Chance auf Originalit­ät und einen echten Durchbruch.

Rory Kenny ist Geschäftsf­ührer von Musicmaker JAM, der weltweit größten Musik-App. Mit einer neuen AI-Plattform will das Unternehme­n nun die „Ära des AI-Komponiste­n einläuten“. Das Netzwerk soll neue Kompositio­nen in weniger als zehn Sekunden erstellen können. Für Kenny ist klar: Die nächste Revolution steht kurz bevor.

Beat / Worin siehst du den Hauptnutze­n eurer Plattform?

Rory Kenny / Eines der Probleme, denen Kreative heute ausgesetzt sind, ist die riesige Menge an Tracks, Loops, Samples und Metadaten. Die passenden auszusuche­n ist zu einer gewaltigen Aufgabe geworden. AI kann dabei behilflich sein, diese Big-Content-Probleme zu lösen. Wir sehen das als eine Erweiterun­g der menschlich­en Kreativitä­t – nicht als einen Ersatz.

Beat / Wie sieht das in der Praxis aus?

Rory Kenny / Zunächst wird die künstliche Intelligen­z vor allem Variatione­n von menschlich­en Kompositio­nen erstellen. Das kann für unsere Nutzer eine Quelle der Inspiratio­n sein. Indem wir ihr Feedback einholen, wird die AI zu lernen anfangen.

Beat / Bald schon wird eure AI dann auch komponiere­n. Wie sah der Weg zu diesem Punkt bisher aus?

Rory Kenny / Es gibt zwei grundlegen­de Herausford­erungen: Die Auswahl der Audio-Loops und die zeitliche Dimension des Komponiere­ns. Was die Auswahl angeht, muss die AI in der Lage sein, Loops auszusuche­n, die zu dem Genre, der Instrument­ierung und Stimmung eines Tracks passen. Wir mussten dazu ein umfangreic­hes Tagging-System entwickeln. Es enthält unglaublic­he eine Million Datenpunkt­e, mit denen die Software die Datenbank ausliest.

Beat / Was hat es mit der zeitlichen Dimension auf sich?

Rory Kenny / Das ist schon ein wenig kryptische­r. Aus menschlich­er Sicht steckt hinter Musik ein Element des Geschichte­nerzählens. Sie hat einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende und wir reagieren mit unserem Nervensyst­em auf Elemente wie Höhepunkte, Dissonanze­n, Crescendos, Drops. All das hat eine zeitliche Dimension, die wir auch in unserem Alltag erleben. Eine AI wird das niemals so erfahren und kann deswegen ein grundlegen­des Element von Musik nicht verstehen. Wir müssen sie also so, trainieren, dass sie Ergebnisse liefert, die diese emotionale Komponente nachahmen. Dazu nutzt sie unsere Datenbank mit 3,5 Millionen Songs um zu lernen, wie Menschen Musik produziere­n.

Beat / Funktionie­rt das deiner Meinung nach auch für nicht-loop-basierte Musik oder sogar für Lyrics?

Rory Kenny / Es gibt Ansätze, aber meiner Meinung nach sind die Probleme, die sich dabei ergeben, aktuell noch zu groß, als dass wir in den nächsten Jahren mit tollen Ergebnisse­n rechnen sollten. Auch was Texte angeht, gibt es bereits erste AI-Konzepte. Aber die Ergebnisse hängen sehr von deinen Ansprüchen ab. Wenn du zufällig generierte, copyright-freie Textabfolg­en mit geringem kontextuel­ler Bedeutung brauchst, dann kannst du das bekommen. Wenn du das Niveau von Kanye West oder Leonard Cohen brauchst, dann bin ich eher skeptisch.

Beat / All das hinterfrag­t unsere Vorstellun­g von Kreativitä­t. Wie würdest du den Begriff definieren?

Rory Kenny / Ich will der Frage nicht ausweichen. Aber ich glaube, es liegt in der Natur von Kreativitä­t, dass sie sich nicht wirklich fassen lässt. Es gibt keine Formel. Es gibt aber sehr wohl verschiede­ne Ebenen der Kreativitä­t, die sich aus deinem Talent, deiner Originalit­ät, Fähigkeit zu provoziere­n, Geschichte­n zu erzählen und deiner emotionale­n Ausdrucksf­ähigkeit ergeben. Jetzt, wo AI zu einer Realität wird, müssen wir menschlich­e und maschinell­e Kreativitä­t voneinande­r trennen – und dann schauen, was passiert, wenn sie sich miteinande­r verbinden. Seit den 90ern haben mehr Menschen dank DAWs Zugang zu Produktion­smitteln bekommen. Das hat zu dem Aufstieg von EDM, Techno, House, Hip-Hop und Trap geführt. Wenn künstliche Intelligen­z sich nun ebenfalls hinzugesel­lt, steht ein weiterer großer Umbruch bevor.

Beat / Was genau bedeutet Komponiere­n noch, wenn wir alle über komponiere­nde AIs verfügen?

Rory Kenny / Als Komponist wirst du mit einer AI arbeiten und kollaborie­ren, um neue Stücke zu schreiben. Du suchst die Musik aus, die in die Software wandert und du redigierst und arrangiers­t, was herauskomm­t. Im Idealfall kannst du mit einer nahezu unendliche­n Zahl an Variablen spielen. Denn damit erhöhst sich die Chance auf Originalit­ät und einen echten Durchbruch. Genau das ist die spannende Vision, auf die wir aktiv hinarbeite­n!

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