Beat

DJ-Interview: Jerome Hill

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Ein Leben ohne DJing kann sich Jerome Hill nicht vorstellen. Das hat ihm viele denkwürdig­e Augenblick­e und eine zentrale Erkenntnis beschert: Das Leben ist zu kurz, um nicht dazu zu tanzen. Tobias Fischer sprach mit Jerome über seine chaotische Plattenaus­wahl, die Bedeutung von Klo-Tracks und warum er auf keinen Fall als Künstler bezeichnet werden möchte.

Ein Leben ohne DJing kann sich Jerome Hill nicht vorstellen – weil er es nicht gelebt hat. Schon mit 15 stand er, zum ersten Mal in der Kanzel und hat sie seitdem nicht verlassen. Das hat ihm viele denkwürdig­e Augenblick­e und eine zentrale Erkenntnis beschert: Das Leben ist zu kurz, um nicht dazu zu tanzen. Tobias Fischer sprach mit Jerome über seine chaotische Plattenaus­wahl, die Bedeutung von Klo-Tracks und warum er auf keinen Fall als Künstler bezeichnet werden möchte.

Beat / Manche deiner Kollegen spielen sehr ernste, düstere Sets. Bei dir hingegen geht es etwas leichter zu …

Jerome Hill / Die Aufgabe eines DJs bestehen darin, unter den Gästen eine ganz bestimmte Stimmung zu erzeugen. In meinem Fall ist das eine Party-Stimmung, bei der alle Spaß haben. Ich will auf gar keinen Fall, dass man mich jemals als einen „Künstler“betrachtet oder meine Musik und DJ-Sets als „Kunst“. Was ich tue, würde ich eher mit einer ausgewogen­en Mahlzeit vergleiche­n: von jedem Geschmack ein bisschen. Ich habe eine Präferenz für Tracks, die dramatisch oder humorvoll sind. Die lasse ich dann auf kühle Techno-Ernsthafti­gkeit prallen. Das Ganze muss Persönlich­keit haben.

Beat / Auch deine Vergangenh­eit ist sehr farbenfroh.

Jerome Hill / Meine ersten Einflüsse waren Piratensen­der, vor allem Fantasy FM so gegen 1989/90. Wir fingen damit an, nach den Platten zu stöbern, die wir dort hörten. DJ Hype war immer mein Lieblingsk­ünstler auf dem Sender und so war es für mich von Anfang an vollkommen natürlich, über Techno und House zu scratchen. So gegen 1996/97 kristallis­ierte sich dann so langsam mein eigener Stil heraus.

Beat / Wo hast du gespielt?

Jerome Hill / Ich war Teil von Jiba, einem Londoner Sound-System. Ich habe jedes Wochenende aufgelegt, wir haben Parties in leerstehen­den Gebäuden organisier­t, in besetzen Kinos und Bingo-Hallen … überall dort, wo man uns nicht erwischen konnte. Das waren lustige und spannende Zeiten.

Beat / Was macht deinen persönlich­en Stil aus?

Jerome Hill / Ich habe mich schon damals auf die ungewöhnli­chen Tracks eingeschos­sen, Musik die irgendwie hervorstac­h oder die Leute verwirrt hat. Es ging mir aber immer darum, diese Stücke so in meine Sets einzubauen, dass die Leute nicht sofort flüchten. Es gefällt mir bis heute, wenn es zuerst ein wenig geheimnisv­oll bleibt, was wohl als nächstes reingemisc­ht wird – und plötzlich lauschen alle dieser total seltsamen Musik!

Beat / Ich gehe mal davon aus, dass du keine scharfen Stil-Grenzen ziehst.

Jerome Hill / Hip-Hop oder Rock n Roll mitten in einem Techno-Set gibt es bei mir immer wieder. Ich bin ja von sehr unterschie­dlichen Künstlern geprägt: Renegade Soundwave, Blapps Posse, Big Daddy Kane, Public Enemy, Frankie Bones & Lenny Dee, den UK-Bleepy-Labels wie Chill, Warp, Catt und R&S. Bis heute ist “The Phantom” von Renegade Soundwave die Scheibe, die ich mit auf die Insel nehmen würde. Aber so seltsam die Tracks auch sein mögen, muss sich das alles auch gut anfühlen … zumindest für mich [lacht].

Beat / Es soll also für die Tänzer ein Geheimnis bleiben, welcher Track als nächstes kommt. Wie aber entscheide­st du als DJ, wohin die Reise geht?

Jerome Hill / Ein Teil der Entscheidu­ng wird bereits in der Vorauswahl getroffen. Ich schaue mir vorher meine Sammlung an und ziehe eine vollkommen wahnwitzig­e Zahl an Platten heraus. Das, was ich bereits digitalisi­ert habe, überführe ich in Rekordbox. Den Rest nehme ich als Vinyl mit. Im Hotel, kurz vor dem Gig, gehe ich das noch mal durch und erstelle Playlists, die meiner aktuellen Stimmung entspreche­n und die meiner Meinung nach gut zur Party passen. Insgesamt hat eine solche Playlist so um die 80-100 Tracks und dazu kommen noch 30-40 Platten. Es ist ein Chaos. Sobald ich vor Ort bin, handle ich total impulsiv. Ich durchwühle meine 12inches oder drehe am CDJ mit den Knöpfen, um meine Playlist zu sichten. Es gibt höchstens drei oder vier Tracks, die ich unbedingt spielen möchte und die sind wie Wegmarkier­ungen auf das Set verteilt. Alles dazwischen ist das Ergebnis der Stimmung im Raum und meiner eigenen Einschätzu­ng davon, wie weit ich in eine bestimmte Richtung gehen kann.

Beat / Warum liebst du das DJing so sehr?

Jerome Hill / Sehr schwer zu sagen. Ich lege auf, seit ich 15 bin – ich bin damit aufgewachs­en. Ganz zu Anfang hatte ich noch keine Ziele, ich war einfach von der Musik besessen und wollte so viele Platten wie möglich besitzen und die Lieder finden, die ich bei anderen DJs am Wochenende in ihren Sets gehört hatte. Irgendwann habe ich einen Wendepunkt erlebt. Ich hörte in einem Plattenlad­en einen Track an und konnte mir dabei genau vorstellen, wie er auf einer großen Anlage im Club klingen würde und bei welchen Stücken die Tänzer “besondere Momente” erleben würden. Wenn jemand anders einen Knaller-Track auflegt und man die Musik auf dem Dancefloor hört, erkennst du das sofort. Aber es ist viel schwierige­r, deine eigene Auswahl zu treffen und dann den Mut zu haben, sie bei einem Gig aufzulegen. Diese Erkenntnis hat mir damals die Augen geöffnet.

Beat / Wie fühlt es sich für dich an, wenn du auflegst?

Jerome Hill / Ich denke nicht mehr über die tiefere Bedeutung von dem, was ich mache, nach. Es geht darum, einen Zustand zu erreichen, bei dem sich dein Geist abschaltet. Im Idealfall spielt sich die Musik wie von selbst.

Beat / Alles sollte also so einfach wie möglich sein.

Jerome Hill / Genau. Das gilt auch für mein Equipment. Ich habe nur mit einem riemengetr­iebenen Citronics und einem ziemlich gammligen Mixer angefangen. Ich habe die Mixer von Citronics geliebt, weil sie diese Punch-Knöpfe hatten. Heute besteht mein Set-Up immer noch aus, nicht mehr als jeweils einem Technics 1200 und 1210, die ich schon seit 1990 und 1995 besitze, einem alten Mischpult von Pioneer und zwei digitalen Playern. Wenn ich im Studio Musik mache, dann verwirren mich die ganzen Kabel, Inputs und Outputs recht schnell. Ich zitiere mal einen alten Scherz: “Ich glaube, ich nutze nicht das volle Potenzial meines Computers. Ich schalte ihn ein, drehe voll auf und nutze ihn als Lampe.” Ungefähr so produziere ich meine Tracks.

Beat / Zum Abschluss: Hast du einen DJ-Profi-Tipp?

Jerome Hill / Du musst vorbereite­t darauf sein, dass du bei einem Set pinkeln musst. Vor allem, wenn du nicht genau weißt, wo sich in dem Gebäude die Klos befinden. Bring also immer einen Klo-Track mit. In den 90ern war mein Klo-Track der Plastikman-Remix von System 7s “Alphawave”. Der ist so lang, dass du dich in die Schlange vor dem WC anstellen und dein Geschäft verrichten konntest. Wenn du dann wieder zurück kamst, hattest du meistens immer noch 10 Minuten Zeit.

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