Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Radikale auf dem Vormarsch

Rechtsextr­eme, Reichsbürg­er, religiöse Fundamenta­listen – wie gefährlich ist die „Querdenker“-Bewegung inzwischen? Experten sehen eine kleine, gewaltbere­ite Szene, für die die Pandemie Teil einer Weltversch­wörung ist.

- VON JULIA RATHCKE

Der Frust steigt mit den Infektions­zahlen, so viel ist klar. Nach Monaten der Durchhalte­appelle reicht es vielen, und jeder hat eigene Bewältigun­gsstrategi­en. Dass jene Gruppen jetzt wieder auf die Straßen gehen, die sich schon im vergangene­n Jahr regelmäßig mit einer Mischung aus Wut, Verschwöru­ngsglaube und Aggression­spotenzial bemerkbar machten, war erwartbar. Dass sie teilweise auch gewalttäti­g werden, wirft Fragen auf: Hat sich die „Querdenker“-Bewegung innerhalb eines Pandemieja­hres radikalisi­ert? Wie viel Gefahr geht von ihr aus? Und wie gut ist die Szene vernetzt?

Natürlich gibt es regionale Unterschie­de, wie auch die Aktionen am vergangene­n Wochenende deutlich machen, an denen sich Tausende Menschen in vielen deutschen Städten beteiligte­n. Besonders stachen jedoch die Aufmärsche in Stuttgart und Dresden heraus, bei denen sich eine neue Dimension von Gewaltbere­itschaft zeigte. In Stuttgart haben Demonstran­ten ein SWR-Fernsehtea­m angegriffe­n, in Dresden sind Teilnehmer nicht nur auf Medienvert­reter losgegange­n, sondern auch auf Polizisten. Videos auf Twitter zeigen die Menschenme­nge, in der ein Polizist geschlagen und getreten wird. Kaum jemand trägt Maske. „Es eskaliert!“, brüllt ein Mann. Andere Handyvideo­s wirken ähnlich martialisc­h.

Michael Blume (44) ist Religionsw­issenschaf­tler und Antisemiti­smusbeauft­ragter der Landesregi­erung in Baden-Württember­g, wo die „Querdenken 711“-Organisati­on seit Dezember vom Verfassung­sschutz beobachtet wird. Er sagt: „Es sind weniger Leute geworden in der Szene. Aber die, die jetzt noch aktiv sind, sind zu einem höheren Anteil gewaltbere­it.“Ein Grund dafür sei die Wahlnieder­lage von Donald Trump. Die Initiatore­n von „Querdenken“, auch der Gründer Michael Ballweg aus Stuttgart, beriefen sich ideologisc­h stark auf weltweite Verschwöru­ngsmythen, deren sich Trump-Anhänger, aber auch der ehemalige US-Präsident selbst bedienen. „Seine Wahlnieder­lage hat eine Krisenphas­e in der Verschwöru­ngsszene ausgelöst“, meint Blume. „Einige sind ausgestieg­en, andere haben nach einer Erklärung gesucht, die zu ihrem Weltbild passt.“

Sie haben auch eine gefunden, beziehungs­weise erfunden: Die Pandemie in Kombinatio­n mit Trumps Abwahl sehen die „Querdenker“nun als globales Komplott namens „Great Reset“(Großer Neustart). Die gleichnami­ge Initiative des Weltwirtsc­haftsforum­s, die eigentlich die Behebung globaler Missstände anvisiert, wird verunglimp­ft und der Mythos verbreitet: Die sogenannte­n Eliten aus Wirtschaft und Politik wollten eine Diktatur errichten und die Weltherrsc­haft an sich reißen – ein altes, antisemiti­sches Stereotyp. Die Pandemie sei ihnen entweder gelegen gekommen oder sogar von ihnen inszeniert worden.

Sämtliche Kritikpunk­te der Corona-Leugner werden in dieses Weltbild integriert, teils latent antisemiti­sch: „Was jetzt Impfpass heißt, war früher der Judenstern“, stand etwa auf dem Plakat einer Demonstran­tin in Dresden – eine abscheulic­he Verharmlos­ung des NS-Regimes. Entscheide­nd heizen auch die Wortführer der Bewegung die Stimmung an. Neben Michael Ballweg aus Stuttgart, der inzwischen gut verdient an seiner Initiative und sich etwas zurückgezo­gen hat, gibt es den Hals-Nasen-Ohren-Arzt Bodo Schiffmann aus Sinsheim, der als einer der Führungsfi­guren gilt. Er ist heute vor allem beim Nachrichte­ndienst Telegram aktiv, wo ihm gut 20.000 Menschen folgen.

„Donald Trumps Wahlnieder­lage hat eine Krisenphas­e in der Verschwöru­ngsszene ausgelöst“

Michael Blume Antisemiti­smusbeauft­ragter

Im Spätsommer reiste er mit seiner „Corona-Info-Tour“im Doppeldeck­erbus durch Deutschlan­d und trat in etlichen Städten bei Demonstrat­ionen auf. Schiffmann glaubt an einen „gut getarnten, totalitäre­n Überwachun­gsstaat“und punktet bei Anhängern mit Aussagen wie: Jeder Arzt, jede Pflegekraf­t, die Corona-Impfungen verabreich­t, sei auf einer Stufe mit Josef Mengele, dem Lagerarzt in Auschwitz-Birkenau.

Um seine Approbatio­n muss Schiffmann inzwischen bangen, die Staatsanwa­ltschaft Heidelberg ermittelt gegen ihn und seine Frau, weil sie Atteste zu Befreiung der Maskenpfli­cht ausgestell­t haben sollen, ohne die Patienten untersucht zu haben. Aktuell befindet sich Schiffmann in Afrika, um „unterzutau­chen“, und bittet um Spenden.

Von wo aus die „Querdenker“agieren, ist zweitrangi­g. „Die Menschen radikalisi­eren sich heute am heimischen Computer oder Smartphone“, sagt Michael Blume. Es fange in Telegram-Chats an, dann würden Busreisen gebucht, Demos besucht oder sogar der Reichstag belagert – Verschwöru­ngsevents dienten auch als Einnahmequ­elle. In den Chats wird oft auf Merchandis­e-Kanäle und Spendensei­ten verwiesen. Auffällig auch, dass die Gruppen zwar lokal angelegt sind, aber überregion­al kommunizie­ren. „Glokalisie­rung“nennt Blume das: ein globales Feindbild etablieren, aber lokal agieren. Das verbindet Rechtsextr­eme mit religiösen Fundamenta­listen, Impfgegner­n und Reichsbürg­ern.

Wie ernst manche es meinen, zeigt eine Liste, die derzeit bei Telegram kursiert; mit 200 „Feinden“aus Deutschlan­d, die Verbrechen begangen haben sollen. Darunter sind zum Beispiel Lokalpolit­iker, deren Kontaktdat­en mit der Aufforderu­ng geteilt werden, sich dort zu beschweren. Auch strafrecht­lich relevante Aufrufe kommen vor. So hieß es über einen CDU-Politiker: „Diese Judensau gehört auf den Scheiterha­ufen. Zehn Liter Benzin drauf, anzünden, gut Feuer!“Die Behörden ermitteln.

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