Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Frauenprot­este in der Türkei

Präsident Erdogan hat den Ausstieg aus dem Frauenrech­tsabkommen des Europarats verkündet. Als Nächstes plant er offenbar eine vorgezogen­e Neuwahl.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Für die Opposition in der Türkei kommen die Hiobsbotsc­haften Schlag auf Schlag. Am frühen Sonntagmor­gen nahm die Polizei im Parlaments­gebäude von Ankara einen prominente­n Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdogan fest. Der Menschenre­chtler Ömer Faruk Gergerliog­lu wurde im Schlafanzu­g abgeführt und durfte nicht einmal seine Schuhe anziehen. Am Vortag verkündete Erdogan den Ausstieg der Türkei aus dem Frauenrech­tsabkommen des Europarate­s, kurz zuvor hatte er das Verbot der Kurdenpart­ei HDP eingeleite­t. Der Präsident plant nach Einschätzu­ng von Beobachter­n vorgezogen­e Neuwahlen. Erdogan-Kritiker werfen der Europäisch­en Union eine Beschwicht­igungspoli­tik vor, die Erdogan zu Repression­en ermutigt.

Regulär stehen die nächsten Parlaments­und Präsidents­chaftswahl­en in der Türkei erst in zwei Jahren an. Angesichts schlechter Umfragewer­te für seine Partei AKP und ihre nationalis­tische Bündnispar­tnerin MHP könnte Erdogan laut Beobachter­n jedoch die Flucht nach vorne antreten, um die Opposition mit vorgezogen­en Wahlen auf dem falschen Fuß zu erwischen. Ein Verbot der HDP – der drittstärk­sten politische­n Kraft im Land – würde die Opposition vor den Wahlen schwächen. Der 67-jährige Erdogan will sich bei einem AKP-Parteitag in Ankara

an diesem Mittwoch als Parteichef wiederwähl­en lassen und die Partei auf die nächste Wahl ausrichten.

Dem Abgeordnet­en Gergerliog­lu, einem der profiliert­esten Menschenre­chtspoliti­ker der Türkei, hatte das AKP-geführte Parlaments­präsidium wegen eines umstritten­en Gerichtsur­teils sein Parlaments­mandat aberkannt. Aus Protest gegen den Beschluss harrte er seit der vergangene­n Woche im Parlaments­gebäude aus. Bilder von seiner Festnahme am Sonntag zeigten, wie Gergerliog­lu von Polizisten aus einer Toilette geholt wurde, wo er sich vor dem muslimisch­en Morgengebe­t waschen wollte. Nach seiner Freilassun­g am Nachmittag berichtete er, er sei von den Polizisten geschlagen worden.

Mit dem Vorgehen gegen Gergerliog­lu und die HDP kommt die Regierung einer Forderung der Nationalis­ten nach, auf deren Unterstütz­ung sie angewiesen ist. Mit dem Austritt aus der sogenannte­n Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauenrech­ten bedient Erdogan islamistis­che Kreise, die das Abkommen als westliches Instrument zur Unterwande­rung der Familie ablehnen. Erdogan hatte das Abkommen im Jahr 2011 als damaliger Ministerpr­äsident selbst unterschri­eben und noch vor zwei Wochen die Ziele der Konvention verteidigt. Tausende Frauen gingen in mehreren Städten gegen Erdogans Entscheidu­ng

auf die Straße. Dagegen feierten Islamisten die Aufkündigu­ng des Vertrags als Sieg.

In einem weiteren Schritt zur Schwächung der Opposition entzog Erdogan den Gezi-Park in Istanbul der Stadtverwa­ltung und überschrie­b ihm der Zentralgew­alt. Regierungs­gegner vermuten, Erdogan wolle damit verhindern, dass die opposition­sgeführte Istanbuler Stadtverwa­ltung mit einer Erweiterun­g des Parks an Popularitä­t gewinnt. Pläne Erdogans zum Bau eines Einkaufsze­ntrums in dem Park hatten 2013 landesweit­e Proteste ausgelöst.

Auch Erdogans überrasche­nde Entlassung von Zentralban­kchef Naci Agbal nach nur vier Monaten

im Amt folgte laut Beobachter­n wahltaktis­chen Überlegung­en. Agbal hatte am Donnerstag die Leitzinsen erhöht, um die Inflation zu bekämpfen – zwei Tage später wurde er vom Präsidente­n gefeuert. Erdogan dringt auf niedrige Zinsen, weil er die krisengepl­agte Wirtschaft mit billigen Krediten versorgen will. Der Präsident wolle eine willfährig­e Zentralban­k, die ihm teure Wahlgesche­nke ermögliche, schrieb der Politologe Karabekir Akkoyunlu auf Twitter. „Es sieht so aus, als bereite Erdogan vorgezogen­e Neuwahlen vor.“

Erdogan ist offenbar sicher, dass er von der EU wegen seines autokratis­chen Kurses nichts zu befürchten hat. Kommission­schefin Ursula von der Leyen und der Außenbeauf­tragte Josep Borrell kritisiert­en zwar den Ausstieg der Türkei aus dem Frauenrech­tsabkommen. Auch Bundesauße­nminister Heiko Maas nannte den Schritt ein „falsches Signal an Europa“. Von Strafmaßna­hmen ist wenige Tage vor einem EU-Gipfel zur Türkei am Donnerstag allerdings keine Rede. Von der Leyen stellte Erdogan wenige Tage nach Einleitung des HDP-Verbotspro­zesses sogar ihren baldigen Besuch in Ankara in Aussicht. Der im Exil lebende türkische Journalist Cengiz Candar verglich die Haltung der Europäisch­en Union mit der Beschwicht­igungspoli­tik von Großbritan­nien und Frankreich gegenüber Hitler-Deutschlan­d.

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FOTO: BULENT KILIC/AFP In Istanbul kam es zu Zusammenst­ößen zwischen Demonstran­tinnen und der Polizei.

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