Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Reisen, ohne zu reisen

Ein Browser-Spiel aus dem Jahr 2013 erlebt in der Pandemie einen Hype. Mit „Geoguessr“entdeckt man zufällig Orte in der ganzen Welt.

- VON VIKTOR MARINOV

DÜSSELDORF Der Bildschirm zeigt eine große Straße, links und rechts trockene, gelbliche Erde und Dutzende, wenn nicht Hunderte weiße Windräder. Wer „Geoguessr“spielt, muss anhand solcher Bilder erraten, an welchem Ort man sich befindet. Mal ist man in einer Landschaft voller schneebede­ckter Berge, auf den grünen Wiesen nur einzelne Hütten (es war natürlich die Schweiz), mal mitten auf einem Friedhof, die Gottesbild­er umrahmt in Gold, daneben Widmungen auf Spanisch (keine Chance, Bolivien). Man reist also um die Welt, beobachtet und entdeckt im Minutentak­t Neues. Kein Wunder, dass „Geoguessr“, schon seit 2013 auf dem Markt, in der Pandemie beliebter ist als je zuvor.

Einer, der gerade fast jeden Abend spielt, ist Constantin Zoske. Der 20-jährige Düsseldorf­er studiert in Boston, es ist sein letztes Jahr auf dem College. „Ich bin eigentlich kein großer Gaming-Fan“, sagt er. Aber seit ein paar Monaten kommen seine Freunde täglich vorbei, klappen den Laptop auf und raten zu dritt, welchen Fleck auf der Erde sie gerade sehen. „Das ersetzt für uns das Reisen. Normalerwe­ise würden wir jetzt durch die Welt fliegen, zusammen Spaß haben“, sagt Zoske. Weil das gerade nicht geht, planen seine Freunde beim Spielen, welches Reiseziel sie nach der Pandemie als erstes ansteuern.

So funktionie­rt „Geoguessr“: Das Spiel läuft im Browser, man muss also keine zusätzlich­e Software herunterla­den. Während der einzelnen Runden sieht man 360-Grad-Bilder, aufgenomme­n von Google-Autos mit Kameras auf dem Dach. Man kann mit ein paar Ausnahmen fast überall auf der Welt landen, der Konzern hat nach eigenen Angaben mittlerwei­le mehr als 16 Millionen Kilometer Straßen in Bildern festgehalt­en. Bei „Geoguessr“darf man sich nach links und rechts umschauen, sich nach vorne oder nach hinten bewegen auf dem Weg, den das Auto abgefahren hat. Man kann auch zoomen – besonders nützlich, wenn man Schilder nach Indizien wie der Sprache oder gar dem Ortsnamen absucht.

Das Spiel hat verschiede­ne Modi. In manchen von ihnen soll man im besten Fall genau den Punkt finden, auf dem man sich befindet. Fast unverzicht­bar sind dafür Straßensch­ilder. Und: Wer zwischen koreanisch­er und japanische­r Schrift unterschei­den kann, ist klar im Vorteil.

Im Modus „Battle Royale“geht es hingegen darum, innerhalb einer vorgegeben­en Zeit das Land zu erraten, der genaue Ort ist bei dieser Option egal. Dafür gibt es ein Zeitlimit. Zehn Spieler starten am Anfang zusammen, wer aber innerhalb von drei Minuten das Land nicht errät, fliegt raus. Dann fängt die nächste Runde an. Das geht so weiter, bis nur noch einer der Spieler übrig ist.

„Geoguessr“erlebt seit einigen Monaten einen Boom – weltweit, aber auch in Deutschlan­d. Fragt man bei den Entwickler­n nach, schweigen sie über die Zahl der Spieler. Der Schwede Daniel Antell empfiehlt per E-Mail aber eine Website, die Zugriffsza­hlen misst: Similairwe­b.com. „Sie ist repräsenta­tiv auf einem sehr hohen Niveau“, schreibt Antell. Er muss es wissen, er ist einer der drei Entwickler von „Geoguessr“. Zwölf Millionen Visits zeigt die Seite für das Browser-Spiel, Tendenz stark steigend. Vor einem halben Jahr waren es noch drei Millionen.

Zum Hype tragen diverse Youtube-Formate bei, die das Spiel unterhalts­am präsentier­en. Etwa der „Geowizard“aus Großbritan­nien, bürgerlich­er Name Tom Davies. In einem seiner Videos sieht Davies ein Bild, das für einen Laien überall auf der Welt sein könnte: eine leere, schwarz geteerte Straße, links davon gelbliches, von der Sonne ausgetrock­netes Gras, in der rechten oberen Ecke ein bisschen Wasser. „Könnte es das Tote Meer sein?“, fragt er sich. Zu viel Gras, meint er dann, und tippt auf den See Genezareth in Israel, etwa 30 Sekunden, nachdem er das Bild gesehen hat. Er ist weniger als zehn Kilometer vom richtigen Punkt entfernt. Auch Youtuber aus Deutschlan­d, wie etwa Rezo, die Rocket Beans oder Pietsmiet, sammeln Hunderttau­sende Klicks mit „Geoguessr“-Videos.

Doch warum erst jetzt, acht Jahre nachdem das Spiel gestartet ist? Für Constantin Zoske liegt das auf der Hand. Weil er mit seinen Freunden die echte Welt nicht bereisen kann, tut er das nun virtuell. Kein würdiger Ersatz, klar. Aber immer noch besser als nichts. Die Runden von Zoske und seinen Freunden sind kurz und dienen als Einleitung für die gemeinsame­n Abende. „Wir spielen etwa eine Stunde, darüber kommt man ins Reden, das ist sehr anregend“, sagt der Düsseldorf­er. Von fernen Ländern lässt sich besser träumen, wenn man das Ziel gerade gesehen hat.

Wer einige Runden gespielt hat, erkennt schon bald viele Orte anhand diverser Details. „Wenn man in Europa ein gelbes Autoschild sieht, ist man in Holland, England oder Luxemburg“, weiß Zoske mittlerwei­le. Man lernt bei „Geoguessr“ziemlich schnell, welche Länder Linksverke­hr haben, wo das kyrillisch­e Alphabet verwendet wird – und auch kuriose Fakten. „In Nigeria gibt es einen Security-Wagen, der dem Google-Auto immer folgt“, erzählt Zoske. Es handelt sich um einen schwarzen SUV der Marke Toyota. Wer ihn erkennt, hat immerhin schon mal das Land erraten.

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FOTO: ZOSKE Der Düsseldorf­er Constantin Zoske (rechts) veranstalt­et regelmäßig „Geoguessr“-Spieleaben­de mit seinen Freunden in Boston.
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FOTO: CHRISTOPH SCHROETER Ein Google-Auto in Düsseldorf: Das Unternehme­n hat nach eigenen Angaben mehr als 16 Millionen Kilometer Straßen fotografie­rt.

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