Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
NRW rückt von harter Corona-Notbremse ab
Die neue Schutzverordnung ermöglicht es Kreisen und Städten, trotz Inzidenzen über 100 auf scharfe Maßnahmen zu verzichten.
DÜSSELDORF Die Landesregierung hat am Freitag die neue Corona-Schutzverordnung veröffentlicht. Darin enthalten ist ein Abrücken von der Notbremse. Bund und Länder hatten sich darauf verständigt, dass Lockerungsmaßnahmen in Regionen, deren Inzidenz mindestens drei Tage lang über 100 liegt, zurückgenommen werden. Noch am Freitagmorgen hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Länder aufgefordert, die Notbremse konsequent umzusetzen.
In Nordrhein-Westfalen dürfen jedoch ab Montag Kreise und kreisfreie Städte, die „über ein ausreichendes, flächendeckendes und ortsnahes Angebot zur Vornahme kostenloser Bürgertestungen“verfügen, in Absprache mit dem Gesundheitsministerium bestimmen, dass Bürger mit einem tagesaktuellen bestätigten negativen Ergebnis eines Schnell- oder Selbsttests trotzdem Museen, Zoos oder Geschäfte aufsuchen dürfen.
In Hotspot-Kommunen, in denen es kein ausreichendes Testangebot gibt, werden dagegen die Kontakte beschränkt, der Bibliotheksbetrieb muss zurückgefahren werden, Museen, Galerien, Schlösser, Burgen, Gedenkstätten und ähnliche Einrichtungen müssen schließen. Gleiches gilt für Zoos, botanische Gärten und Landschaftsparks. Einzelhandelsgeschäfte und Reisebüros müssen schließen. Lediglich das Abholen bestellter Ware (Click and Collect) ist zulässig. Körpernahe Dienstleister müssen den Betrieb einstellen, dagegen bleiben Friseurtermine, nicht-medizinische Fußpflege und gewerbsmäßige Personenbeförderung erlaubt. Die Notbremse gelte grundsätzlich in 31 Kreisen und kreisfreien Städten, teilte die Landesregierung mit, darunter Köln, Dortmund, die Städteregion Aachen und der Kreis Siegen-Wittgenstein. Der Kreis Mettmann hat bereits erklärt, per Allgemeinverfügung von diesen Regeln abweichen zu wollen.
Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) erklärte, man wolle mit der Regelung die Akzeptanz für das Testen erhöhen. Er erklärte, auch Kommunen mit einer Inzidenz von mehr als 200 dürften bei entsprechenden Testmöglichkeiten auf die Notbremse verzichten. „Ich schätze das so ein, dass die Testzentren so übers Land verteilt sind, dass das jede Kommune machen kann.“
Die Entscheidung zog Kritik der Opposition nach sich. SPD-Fraktionschef Thomas Kutschaty sagte unserer Redaktion: „Noch am frühen Dienstagmorgen hat Ministerpräsident Laschet angekündigt, die sogenannte Notbremse ,eins zu eins‘ umzusetzen. Nur drei Tage später rudert seine Landesregierung zurück.“Auch in der Plenardebatte am Mittwoch habe Laschet kein Wort über die am Freitag vorgestellten Pläne verloren. „Was ist das Wort des Ministerpräsidenten dann eigentlich noch wert?“Die SPD-Fraktion fordere seit Monaten den Aufbau einer flächendeckenden Test-Infrastruktur. „Die Landesregierung hat hierfür wertvolle Zeit verschlafen.“Grünen-Co-Fraktionschefin Verena Schäffer nannte es „absolut unverständlich und ein fatales Signal, dass trotz stark steigender Zahlen die Regierung die Notbremse landesweit nicht ziehen wird“.
Der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds NRW, Christof Sommer, äußerte sich dagegen positiv: „Wir müssen in der Lage sein, kontrolliert zu bremsen, sobald wir von der Spur abkommen. Mit mehr Tests sollte das meines Erachtens möglich sein. Für die Umsetzung wird wichtig sein, dass ein negativer Selbsttest sicher und schnell zu überprüfen ist.“
Nach der aufreibenden Nacht der Ministerpräsidentenkonferenz trat am frühen Dienstagmorgen Armin Laschet vor die Kameras, um eine Umsetzung der Notbremse anzukündigen. „Eins zu eins“, unterstrich der nordrhein-westfälische Ministerpräsident dabei resolut. Am Freitagmorgen forderte dann Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Länder noch einmal eindringlich auf, die Notbremse konsequent umzusetzen.
Wie viel Konsequenz Laschets „Eins zu eins“-Umsetzung bedeutet, konnte man wenig später in der neuen Corona-Schutzverordnung nachlesen: Die für die Notbremse maßgebliche Inzidenz von 100 spielt in Nordrhein-Westfalen fortan allenfalls noch eine nachgelagerte Rolle. Stattdessen können Kreise und Städte mit ausreichend Testzentren all jene verschärfenden Maßnahmen aushebeln, die die Notbremse vorsieht: Schließungen von Museen, Zoos, Bibliotheken und Gedenkstätten, das Verbot von Terminshopping im Einzelhandel. Von der verschärften Notbremse, die sogar bei Werten unterhalb von 100 gegriffen hätte, sobald es zu einem exponentiellen Wachstum kommt, ist kaum etwas übrig geblieben.
Knapp zehn Prozent der NRW-Kreise und kreisfreien Städte haben eine Inzidenz von mehr als 200. Auch sie dürften bei ausreichender Testkapazität auf die Notbremsen-Regeln verzichten. Wer da noch eine Bremse auszumachen vermag, hat große Einbildungskraft. Zugleich kommt das Impfen nur schleppend voran. In der Gruppe der 70- bis 79-Jährigen hat es noch nicht einmal begonnen. Sich dabei auf Tests zu verlassen, die nach neuen Studien zwar bei Symptomen zuverlässig sind, bei asymptomatischen Verläufen aber deutlich seltener verlässliche Ergebnisse liefern, ist riskant. Noch dazu schadet Laschet sich selbst, denn Wortbruch kommt beim Wähler wohl nicht gut an. BERICHT NRW RÜCKT VON HARTER NOTBREMSE AB, TITELSEITE