Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Miserabel, kläglich, stümperhaf­t

- Erik Kirschbaum Der Autor berichtet aus Berlin für die „Los Angeles Times“(USA) und die „South China Morning Post“(Hongkong).

Seit mehr als 30 Jahren lebe ich Europa. Und das sehr gerne – wegen der Vielfalt, der Lebensqual­ität und der Kreativitä­t. Die Deutschen sind gut informiert, politisch interessie­rt, und ich sehe bei ihnen den ständigen Wunsch, aus den dunklen Kapiteln der Geschichte zu lernen. Aber wenn ich mir die miserable Erfolgsbil­anz Deutschlan­ds und der EU bei der Bekämpfung von Covid-19 ansehe und vor allem ihre klägliche Unfähigkei­t, die Bürger schnellstm­öglich gegen die Pandemie zu impfen, dämpft das meine Begeisteru­ng über Europa. Irgendetwa­s läuft hier schief.

In den USA sind inzwischen 125 Millionen Impfdosen gegen das Coronaviru­s verabreich­t worden, oder 38 je 100 Einwohner. In Deutschlan­d sind es bloß zehn Millionen, oder 13 je 100 Einwohner. Durchgeimp­ft werden die Amerikaner in etwa zwei Monaten sein; in Deutschlan­d dauert es noch sechs Monate. Wie viele Menschen in Deutschlan­d werden sich bis dahin aufgrund der stümperhaf­ten Politik und der kurzsichti­gen Beschaffun­gsprozesse anstecken und unnötig sterben?

Die Impfgeschi­chte illustrier­t einiges über die Schattense­iten Deutschlan­ds und der EU – zu viel Bürokratie, lähmende Dienstvors­chriften und grotesk übertriebe­ner Datenschut­z. Aber sie zeigt auch einiges über die besseren Seiten Amerikas: Führung, Forschung und die unzähligen Vorteile einer wirklich freien Marktwirts­chaft.

Ohne Frage haben die Vereinigte­n Staaten im vergangene­n Jahr viel zu viele Fehler im Kampf gegen das Coronaviru­s gemacht. Aber wir sollten alle froh sein und anerkennen, dass die sonst so verhöhnte Trump-Regierung vor einem Jahr Führungsst­ärke zeigte, indem sie zehn Milliarden Dollar für die „Operation Warp Speed“bereitstel­lte – eine öffentlich-private Partnersch­aft, um die Entwicklun­g, Herstellun­g und den Vertrieb von Covid-19-Impfstoffe­n zu beschleuni­gen.

Man stelle sich nur vor, die Welt hätte darauf warten müssen, dass Deutschlan­d oder die EU die Führung bei der Entwicklun­g eines Gegenmitte­ls übernimmt. Wahrschein­lich hätte es unter den 27 EU-Mitglieder­n endlose Debatten über die Beschaffun­g, die Haftung, den Preis und Prioritäte­nlisten gegeben. Deutsche Gründlichk­eit ist normalerwe­ise eine Tugend, aber in der Pandemie tödlich. Was bringt es, nach fünf Monaten einen besseren Preis für die Biontech/Pfizer-Impfdosen ausgehande­lt zu haben, wenn in der Zwischenze­it viele Leute krank werden oder sogar sterben? Die 101-jährige Edith Kwoizalla wurde am 26. Dezember als erster Mensch in Deutschlan­d geimpft – eine gute Nachricht, zwei Wochen nachdem es in den USA losgegange­n war. Allerdings gab es in Deutschlan­d einen Tadel vom Gesundheit­sministeri­um, weil der Arzt sie und 30 andere Bewohner und Mitarbeite­r eines Seniorenhe­ims in Sachsen-Anhalt einen Tag vor dem offiziell geplanten Start am 27. Dezember geimpft hatte. Eigentlich unfassbar.

Ist es eine Überraschu­ng, dass der in Deutschlan­d entwickelt­e Impfstoff von Biontech/Pfizer seine Wirkung bislang in dreimal so vielen amerikanis­chen Körpern entfalten konnte wie in deutschen? Die Amerikaner hatten im Juli 600 Millionen Dosen bestellt, noch bevor die Ergebnisse der klinischen Tests bekannt waren. Die EU und Deutschlan­d brauchten bis November, um ihre erste Bestellung aufzugeben, und dann für nur 300 Millionen Dosen.

Freunde in den Vereinigte­n Staaten erzählen mir, wie sie ihre Impfungen in einer Apotheke bekamen, ohne Bürokratie oder Komplikati­onen, indem sie sich in Warteliste­n für nicht verbraucht­e Dosen eintrugen. Andere berichten, wie sie ihre Spritze in Drive-in-Impfzentre­n bekamen, von denen einige rund um die Uhr geöffnet sind.

In Deutschlan­d hingegen höre ich deprimiere­nde Geschichte­n. Über unbenutzte Impfdosen, die am Ende des Tages entsorgt werden. Über Senioren, die ihre Impfungen nicht bekommen oder verpassen, weil sie sich nicht online anmelden konnten oder keine E-Mail-Adresse oder kein Smartphone haben, um den Termin zu bestätigen.

Komm schon, Europa, reiß dich zusammen!

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