Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Ein Täter mit zwei Gesichtern
So düster und abgerockt war der „Tatort“aus Wien selten: sehenswert und spannend.
WIEN Manchmal braucht es nur eine Perücke, Lippenstift und das Kinderbuch „Die kleine Raupe Nimmersatt“, damit einem das Blut in den Adern gefriert: Ein Mann, der sich als Frau verkleidet hat, sitzt mit einem Kind, das nicht seines ist, in einem Bett und liest ihm eine Gute-Nacht-Geschichte vor. „Wo ist meine Mama?“, fragt der Junge. „Ich bin deine Mama“, antwortet der Mann.
Die richtige Mutter des Jungen ist ein Fall für die Wiener „Tatort“Kommissare Moritz Eisner (Harald
GKrassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser). Die Frau hat als ProstiGtuierte gearbeitet und liegt nun tot in ihrer Wohnung. Schnell wird klar, dass ihr kleiner Sohn verschwunden ist. Die Polizei entdeckt einen weiteren Fall: Wieder eine Prostituierte, wieder ein verschwundenes Kind. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
Als wäre das nicht alles schon stressig genug, leidet Fellner an Schlaflosigkeit. Stundenlang liegt sie wach, geht sogar mitten in der Nacht in Schlafanzug und Mantel in einen Club, um bei einer ihr bekannten Dealerin Schlafmittel zu kaufen. Dieser Fall setzt ihr zu, ihre Widerstandskräfte gegen das stete Leid, mit dem sie im Beruf konfrontiert ist, scheinen zu schwinden. Das Gefühl, immer einen Schritt zu spät zu kommen, lähmt sie. „Ich schlafe, wenn wir den Jungen gefunden haben.“
Der Täter – grandios gespielt von Max Mayer – sucht als Mann die Nähe zu Eisner, gibt sich als Undercover-Drogen-Ermittler aus. Zu Hause verwandelt er sich wieder in diesorgende,zugleichbedrohliche Frau. Als die Ermittler eine Prostituierte identifizieren, die einen Angriff des Mannes überlebt hat, kommen sie dem Rätsel des Motivs und dem der zwei Identitäten auf die Spur. Dabei ist die Szene, in der Bibi die Frau in einer düsteren, kleinen Wohnung befragt und das Opfer von dem Mordversuch, den Beschimpfungen sowie den schweren Verletzungen und Todesängsten erzählt, eine der stärksten in den 90 Minuten. Sie sei nur eine „wertlose Hur“, aber ihren Jungen, den könne man retten.
Der Fall ist ein Jubiläum und ein Anfang: Für Schauspieler Harald Krassnitzer ist es der 50. Einsatz als Moritz Eisner. Im Team gibt es jedoch einen Wechsel: Nach dem Abschied des Assistenten Schimpf (Thomas Stipsits) gibt Christina Scherrer als Meret Schande (was für ein Rollen-Name) ihr Debüt. Ihr erster Auftritt fällt allerdings eher klein aus, weil sowohl die Probleme der Kommissare als auch der spannende Fall so viel Raum einnehmen.
Regisseur Christopher Schier hat den Fall inszeniert, Mike Majzen das Drehbuch geschrieben. „Die Amme“ist ein sehenswerter, spannender Fall, ohne den typischen Wiener Humor, dafür mit menschlicher Tiefe, dunklen Abgründen und einem wahrlich dramatischen Ende. Bei der Inszenierung gibt es gute Ideen wie in der einen Szene, in der Bibi Felllner fast wegnickt und auch die Geräusche des Gesprächs weggedimmt werden. Der Zuschauer denkt zuerst an eine Tonstörung. Selten aber war ein Wiener „Tatort“so düster, so abgerockt und so bedrückend. Österreichs Prunk sieht anders aus.
„Tatort: Die Amme“, Das Erste, 20.15 Uhr