Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
,,,100.000 Kollegen Impfung anbieten"
Die Finanzchefin der Bundesagentur für Arbeit über Impfungen für Mitarbeiter und Arbeitslose, über Saisonkräfte aus Georgien und neuen Finanzbedarf.
Frau Schönefeld, der Lockdown zieht sich hin. Was macht das mit dem Arbeitsmarkt?
SCHÖNEFELD
Wir haben weiter 2,8 Millionen Menschen in Kurzarbeit, auch wenn die Zahl nicht mehr so hoch liegt wie im Frühjahr 2020. Damals waren 18 Prozent der Beschäftigten in Kurzarbeit, heute sind es noch knapp neun Prozent. Kurzarbeit trägt den Arbeitsmarkt und verhindert Arbeitslosigkeit, vor allem im Handel.
Selbstständige können Hartz IV erhalten. Wie groß ist der Andrang? Das Verfahren ist kompliziert.
SCHÖNEFELD
In den Jobcentern beziehen derzeit 77.000 Selbstständige Grundsicherung. Das Verfahren wurde vereinfacht, so spielt das Vermögen keine Rolle. Aber das Partnereinkommen wird weiterhin berücksichtigt, das überrascht viele. Grundsicherung ist erst eine Alternative zum Leben, wenn es nicht mehr anders geht.
Was bedeuten die steigenden Ausgaben für den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit?
SCHÖNEFELD
Mit 61 Milliarden Euro waren die Ausgaben der BA im vergangenen Jahr so hoch wie nie. Für dieses Jahr gehen wir derzeit von 46 Milliarden Euro aus. Für 2021 haben wir 6,0 Milliarden Euro an Kurzarbeitergeld (samt Sozialabgaben) eingeplant. Durch den langen Lockdown ist diese Summe bereits aufgebraucht. 2020 haben wir 12,6 Milliarden Euro für das Kurzarbeitergeld ausgegeben plus 9,5 Milliarden für die Übernahme der Sozialausgaben.
Woher nehmen Sie das Geld?
SCHÖNEFELD
Zunächst haben wir unsere Rücklage von 25,8 Milliarden Euro eingesetzt, die wir Anfang 2020 noch hart verteidigen mussten. Im vergangenen Jahr haben wir vom Bund 6,9 Milliarden Euro als Liquiditätshilfe erhalten. Dieses Jahr sind 3,3 Milliarden als Zuschuss eingeplant. Doch angesichts des anhaltenden Lockdowns ist schon jetzt abzusehen, dass wir damit nicht auskommen.
Das heißt, Sie benötigen 2021 zusätzliche Milliarden?
SCHÖNEFELD
Ja. Der Finanzbedarf für dieses Jahr kann um einige Milliarden Euro höher liegen. Vor allem dann, wenn der Lockdown anhält und dadurch die Ausgaben für das Kurzarbeitergeld weiter stark steigen. Wir geben seit dem Lockdown im Dezember pro Woche 500 Millionen Euro für Kurzarbeit aus. Der Bund wird diese Mehrausgaben übernehmen, sodass wir schuldenfrei ins Jahr 2022 starten können. Die BA hat schließlich nicht schlecht gewirtschaftet, sondern trägt die Folgen der Pandemie.
Ist eine Erhöhung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung denkbar?
SCHÖNEFELD
Der Beitrag liegt aktuell befristet bei 2,4 Prozent und soll nach den ursprünglichen Plänen 2023 auf 2,6 Prozent steigen. Ob es dabei bleibt, wird man sehen. Schließlich ist es politisch nicht gewollt, dass die Sozialabgabenquote über 40 Prozent steigt. Mit der Selbstverwaltung sind wir einig, dass jetzt nicht die Zeit für Beitragsdebatten ist. Steigende Beiträge würden Unternehmen nur noch mehr belasten.
Kann die BA bei sich selbst mehr sparen? Wie weit ist der Stellenabbau, den sie vor Jahren angekündigt hat?
SCHÖNEFELD
Wie geplant haben wir die Zahl der Beschäftigten von einst 120.000 auf 108.000 reduziert. Seit Herbst haben wir mehr als 4000 Kollegen eingestellt, damit wir weiterhin gut beraten können und vor allem damit das Kurzarbeitergeld weiterhin rasch fließt. Ursprünglich waren für das Kurzarbeitergeld 700 Mitarbeiter im Einsatz, derzeit sind es 8000. Die Bereitschaft unserer Mitarbeiter, umzusatteln und schnell zu helfen, ist groß.
Die BA ist ein großer Arbeitgeber. Werden Sie sich auch an der Testkampagne beteiligen?
SCHÖNEFELD
Selbstverständlich. Noch arbeiten 70 Prozent unserer Mitarbeiter im Homeoffice, aber auch wir haben Tausende Tests bestellt, damit wir in den Häusern sicher arbeiten können. Doch Tests sind nur ein Hilfsmittel. Wichtig ist für uns wie die gesamte Wirtschaft, dass die Impfkampagne vorankommt.
Und, wird die BA ihre Mitarbeiter impfen?
SCHÖNFELD
Sobald genug Impfstoff da ist, möchten auch wir unseren rund 100.000 Kollegen eine Impfung anbieten. Wir prüfen gerade, wie wir uns dafür organisieren. Wir beschäftigen rund 300 Ärzte, die sonst für die Untersuchung der Arbeitslosen da sind. Hinzu kommen die vertraglich gebundenen Betriebsärzte. Wir sind in der Fläche breit vertreten und könnten hier richtig Strecke machen. Wir streben das auch an, um schneller wieder für die persönliche Beratung unserer Kunden verfügbar zu sein. Da die Mehrzahl der Mitarbeiter unter 60 Jahre ist, fällt Astrazeneca allerdings auch für uns aus. Wir werden also einen anderen Impfstoff brauchen.
Ist es auch denkbar, dass die BA-Ärzte die Arbeitslosen impfen?
SCHÖNEFELD
Seit einem Jahr leben wir in einer Pandemie, die unser Leben stark einschränkt. Wir werden uns in solch einer Situation keiner unkonventionellen Lösung verschließen, wenn wir gebraucht werden. Wir kennen in Deutschland aber auch ein gut funktionierendes Hausarztsystem, das wäre neben Impfzentren mein Favorit.
Frühlingszeit heißt Zeit für Saisonarbeiter. 2020 gab es große Probleme. Wie sieht es jetzt aus?
SCHÖNEFELD
Üblicherweise benötigt die Landwirtschaft 70.000 Kräfte aus dem Ausland. Auch in diesem Jahr könnten wegen möglicher Reisebeschränkungen durch die Pandemie
weniger Saisonarbeiter aus Polen oder Rumänien kommen. Wir tun alles, um den landwirtschaftlichen Betrieben zu helfen.
Was können Sie tun?
SCHÖNEFELD
In diesem Frühjahr werden aus Georgien 5000 zusätzliche Saisonkräfte kommen, so haben wir es über eine Vermittlungsabsprache mit Georgien vereinbart. Das Interesse in Georgien ist hoch. Mit der Ukraine und Moldawien sind wir in ähnlichen Gesprächen. Auch hier ist das Interesse groß. Dabei geht es um Spargelstecher, Erdbeerpflücker und Saatsetzer.
Wenn die Kanzlerin Sie um Rat in der Krisenbewältigung bitten würde – was würden Sie sagen?
SCHÖNEFELD
Kein Aktionismus am Arbeitsmarkt. Wir haben alle Instrumente, die wir brauchen, um die Folgen der Pandemie abzufedern. Mehr Tempo beim Impfen. Nur das Impfen führt die Wirtschaft aus dem Lockdown. Transparente Kommunikation wie etwa in Neuseeland. Dann nimmt man die Menschen auch bei Fehlern leichter mit.
2022 endet der Vertrag von BA-Chef Detlef Scheele. Sie gelten mit Ihrer Erfahrung als Favoritin für die Nachfolge. Hätten Sie Lust?
SCHÖNFELD
Ich werde mich nächstes Jahr aus dem Berufsleben zurückziehen. Der Vertrag von Detlef Scheele läuft im Sommer 2022 aus, meiner im Herbst. Damit haben wir genug Zeit für einen reibungslosen Übergang an eine neue Führung, den ich der BA wünsche.
ANTJE HÖNING FÜHRTE DAS GESPRÄCH.