Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Im Corona-Blindflug
Der Meldeverzug bei den Daten zur Pandemie ist um die Ostertage besonders eklatant. Die Probleme der Weihnachtszeit wiederholen sich. Derweil spitzt sich die Lage auf den Intensivstationen der Kliniken zu.
Es ist paradox. Während die Zahl der Neuinfektionen über die Ostertage zurückging und die Inzidenz am Donnerstag von fast 144 Anfang April auf nunmehr 106 sinkt, schlägt der Leiter des Intensivregisters, Christian Karagiannidis, auf Twitter Alarm. „Wie hoch sollen denn die Zahlen noch steigen, bevor ihr reagieren wollt??? Wir verpassen jede Ausfahrt zur Senkung der Zahlen.“Gnadenlos rechnet der Kölner Intensivmediziner vor, dass bei anhaltenden Impfproblemen die Zahl der Corona-Patienten auf den Notfallstationen auf bis zu 8000 steigen könnte – die Betten würden dafür nicht ausreichen.
Zwar geht der Leiter des ECMO-Zentrums der Lungenklinik Köln-Merheim davon aus, dass „in Deutschland ziemlich sicher nicht die Situation eintreten wird, dass jemand nicht behandelt werden kann“, wie er dem „Spiegel“erklärte. Allerdings erwartet er, dass das Klinikpersonal das nicht mehr allzu lange aushalten würde.
Einmal mehr zeigt sich, dass die aktuellen Werte der Inzidenzen, also der wöchentlichen Fallzahlen pro 100.000 Einwohner, ein unvollständiges Bild der Lage zeigen. Gerade über die Feiertage in der Osterzeit wiederholt sich das Phänomen der Spanne von Weihnachten bis Neujahr. Genauso wie damals schränkt das Robert-Koch-Institut (RKI) auch jetzt die Aussagekraft der Daten stark ein. „Rund um die Osterfeiertage ist bei der Interpretation der Fallzahlen zu beachten, dass meist weniger Personen einen Arzt aufsuchen, dadurch werden weniger Proben genommen und weniger Laboruntersuchungen durchgeführt“, schreibt das Institut in seinem aktuellen Lagebericht.
Der Mathematiker und Covid-Modellrechner Jan Fuhrmann vom Forschungszentrum
Jülich ergänzt: „Hinzu kommen Schwierigkeiten bei der Nachverfolgung durch Gesundheitsämter, die ermittelte Kontaktpersonen möglicherweise nicht so leicht erreichen, wenn etwa nur deren berufliche Kontaktdaten bekannt sind.“Auch arbeiten die Labore nur mit reduzierter Belegschaft und leiten deshalb weniger positive Tests an die Gesundheitsämter, und die wiederum an das RKI weiter.
Auch mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie ist es immer noch nicht möglich, ein durchgängig realistisches Bild des Infektionsgeschehens zu erhalten. In den Simulationsrechnungen ist dies zum Teil berücksichtigt, wie Fuhrmann erläutert. „Wir nutzen tatsächlich auch Modelle, bei denen Testkapazitäten eine Rolle spielen. Wenn diese, etwa feiertagsbedingt, zeitweilig sinken, ergeben sich daraus automatisch geringere Fallzahlen, obwohl das im Hintergrund ablaufende Infektionsgeschehen unverändert bleibt.“Deshalb berechnen die Wissenschaftler Werte, die die tatsächliche Zahl der Ansteckungen pro Kopf und pro Tag ausgeben. Die laufen dann der gemeldeten Inzidenz wegen der Inkubationszeit und dem Meldeverzug um ein bis zwei Wochen voraus und schwanken deutlich weniger.
Diese Modelle kommen zu deutlich alarmierenderen Ergebnissen als die aktuellen RKI-Zahlen. Der Covid-19-Simulator der Universität Saarbrücken prognostiziert auf Grundlage der Werte vor der Osterpause Inzidenzen von 200 und mehr bis Mitte April. Auch die Zahl der durch Covid-19-Patienten belegten Intensivbetten dürfte bis dahin auf über 5000 ansteigen. Derzeit sind 4439 Plätze auf den Notfallstationen mit Corona-Fällen belegt.
Auch der Jülicher Forscher Fuhrmann hält solche Zahlen für wesentlich belastbarer. „Diese Daten sind deutlich weniger schwankungsanfällig und zum Erkennen
„Das Klinikpersonal wird die Situation nicht mehr lange aushalten“
Christian Karagiannidis Leiter des Intensivregisters
von Trends sehr gut geeignet.“Eine gute Währung bei Meldeverzug ist für ihn ohnehin das Intensivregister. „Hospitalisierungen und Intensivbettenbelegungen sind mindestens ebenso relevant wie die Fallzahlen an sich“, meint der Wissenschaftler des Forschungszentrums Jülich.
Noch können sich allerdings weder das RKI noch andere Forschungseinrichtungen zur Angabe von Modellzahlen durchringen. Selbst die Universität des Saarlandes hat den aktuellen Bericht ihres Covid-Simulators, der für den vergangenen Mittwoch geplant war, noch einmal aufgeschoben. Als Grund nannten die Forscher um den Pharmazie-Professor Thorsten Lehr die verzögerten Daten des RKI. Ähnlich wie bei der Nennung der Arbeitslosenzahlen möchten die staatlichen Stellen keine theoretischen Werte nennen, sondern tatsächlich beobachtbare. Bei den Arbeitslosen rechnet die Bundesagentur zwar auch die Werte ohne die typischen saisonalen Schwankungen etwa im Sommer oder Herbst, das Hauptaugenmerk legen sie aber auf die tatsächlichen Zahlen. Sie haben ein starkes Argument für sich. Denn bei einer modellhaften Veränderung der Zahlen wären der Willkür Tür und Tor geöffnet. Warum dann aber nicht beide Zahlenreihen veröffentlichen?
Dazu haben sich weder das RKI noch die Institute durchgerungen, die große Simulationsrechnungen anstellen. Für die Politik heißt das, sie befindet sich über wertvolle Tage im Blindflug. Ein notwendiger Lockdown wie jetzt kann dann nur unzureichend mit den aktuellen Zahlen zu den Neuinfektionen begründet werden. Es braucht Hilferufe wie die des Intensivmediziners Karagiannidis oder des derzeitig wichtigsten deutschen Virologen, Christian Drosten. „Das ist ein Notruf“, twittert der Chef der Virologie der Berliner Charité, der sich auf die Zahlen Karagiannidis’ bezieht. Hoffentlich handeln die Verantwortlichen auch mit weniger gesicherten Daten.