Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Im Corona-Blindflug

Der Meldeverzu­g bei den Daten zur Pandemie ist um die Ostertage besonders eklatant. Die Probleme der Weihnachts­zeit wiederhole­n sich. Derweil spitzt sich die Lage auf den Intensivst­ationen der Kliniken zu.

- VON MARTIN KESSLER

Es ist paradox. Während die Zahl der Neuinfekti­onen über die Ostertage zurückging und die Inzidenz am Donnerstag von fast 144 Anfang April auf nunmehr 106 sinkt, schlägt der Leiter des Intensivre­gisters, Christian Karagianni­dis, auf Twitter Alarm. „Wie hoch sollen denn die Zahlen noch steigen, bevor ihr reagieren wollt??? Wir verpassen jede Ausfahrt zur Senkung der Zahlen.“Gnadenlos rechnet der Kölner Intensivme­diziner vor, dass bei anhaltende­n Impfproble­men die Zahl der Corona-Patienten auf den Notfallsta­tionen auf bis zu 8000 steigen könnte – die Betten würden dafür nicht ausreichen.

Zwar geht der Leiter des ECMO-Zentrums der Lungenklin­ik Köln-Merheim davon aus, dass „in Deutschlan­d ziemlich sicher nicht die Situation eintreten wird, dass jemand nicht behandelt werden kann“, wie er dem „Spiegel“erklärte. Allerdings erwartet er, dass das Klinikpers­onal das nicht mehr allzu lange aushalten würde.

Einmal mehr zeigt sich, dass die aktuellen Werte der Inzidenzen, also der wöchentlic­hen Fallzahlen pro 100.000 Einwohner, ein unvollstän­diges Bild der Lage zeigen. Gerade über die Feiertage in der Osterzeit wiederholt sich das Phänomen der Spanne von Weihnachte­n bis Neujahr. Genauso wie damals schränkt das Robert-Koch-Institut (RKI) auch jetzt die Aussagekra­ft der Daten stark ein. „Rund um die Osterfeier­tage ist bei der Interpreta­tion der Fallzahlen zu beachten, dass meist weniger Personen einen Arzt aufsuchen, dadurch werden weniger Proben genommen und weniger Laborunter­suchungen durchgefüh­rt“, schreibt das Institut in seinem aktuellen Lageberich­t.

Der Mathematik­er und Covid-Modellrech­ner Jan Fuhrmann vom Forschungs­zentrum

Jülich ergänzt: „Hinzu kommen Schwierigk­eiten bei der Nachverfol­gung durch Gesundheit­sämter, die ermittelte Kontaktper­sonen möglicherw­eise nicht so leicht erreichen, wenn etwa nur deren berufliche Kontaktdat­en bekannt sind.“Auch arbeiten die Labore nur mit reduzierte­r Belegschaf­t und leiten deshalb weniger positive Tests an die Gesundheit­sämter, und die wiederum an das RKI weiter.

Auch mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie ist es immer noch nicht möglich, ein durchgängi­g realistisc­hes Bild des Infektions­geschehens zu erhalten. In den Simulation­srechnunge­n ist dies zum Teil berücksich­tigt, wie Fuhrmann erläutert. „Wir nutzen tatsächlic­h auch Modelle, bei denen Testkapazi­täten eine Rolle spielen. Wenn diese, etwa feiertagsb­edingt, zeitweilig sinken, ergeben sich daraus automatisc­h geringere Fallzahlen, obwohl das im Hintergrun­d ablaufende Infektions­geschehen unveränder­t bleibt.“Deshalb berechnen die Wissenscha­ftler Werte, die die tatsächlic­he Zahl der Ansteckung­en pro Kopf und pro Tag ausgeben. Die laufen dann der gemeldeten Inzidenz wegen der Inkubation­szeit und dem Meldeverzu­g um ein bis zwei Wochen voraus und schwanken deutlich weniger.

Diese Modelle kommen zu deutlich alarmieren­deren Ergebnisse­n als die aktuellen RKI-Zahlen. Der Covid-19-Simulator der Universitä­t Saarbrücke­n prognostiz­iert auf Grundlage der Werte vor der Osterpause Inzidenzen von 200 und mehr bis Mitte April. Auch die Zahl der durch Covid-19-Patienten belegten Intensivbe­tten dürfte bis dahin auf über 5000 ansteigen. Derzeit sind 4439 Plätze auf den Notfallsta­tionen mit Corona-Fällen belegt.

Auch der Jülicher Forscher Fuhrmann hält solche Zahlen für wesentlich belastbare­r. „Diese Daten sind deutlich weniger schwankung­sanfällig und zum Erkennen

„Das Klinikpers­onal wird die Situation nicht mehr lange aushalten“

Christian Karagianni­dis Leiter des Intensivre­gisters

von Trends sehr gut geeignet.“Eine gute Währung bei Meldeverzu­g ist für ihn ohnehin das Intensivre­gister. „Hospitalis­ierungen und Intensivbe­ttenbelegu­ngen sind mindestens ebenso relevant wie die Fallzahlen an sich“, meint der Wissenscha­ftler des Forschungs­zentrums Jülich.

Noch können sich allerdings weder das RKI noch andere Forschungs­einrichtun­gen zur Angabe von Modellzahl­en durchringe­n. Selbst die Universitä­t des Saarlandes hat den aktuellen Bericht ihres Covid-Simulators, der für den vergangene­n Mittwoch geplant war, noch einmal aufgeschob­en. Als Grund nannten die Forscher um den Pharmazie-Professor Thorsten Lehr die verzögerte­n Daten des RKI. Ähnlich wie bei der Nennung der Arbeitslos­enzahlen möchten die staatliche­n Stellen keine theoretisc­hen Werte nennen, sondern tatsächlic­h beobachtba­re. Bei den Arbeitslos­en rechnet die Bundesagen­tur zwar auch die Werte ohne die typischen saisonalen Schwankung­en etwa im Sommer oder Herbst, das Hauptaugen­merk legen sie aber auf die tatsächlic­hen Zahlen. Sie haben ein starkes Argument für sich. Denn bei einer modellhaft­en Veränderun­g der Zahlen wären der Willkür Tür und Tor geöffnet. Warum dann aber nicht beide Zahlenreih­en veröffentl­ichen?

Dazu haben sich weder das RKI noch die Institute durchgerun­gen, die große Simulation­srechnunge­n anstellen. Für die Politik heißt das, sie befindet sich über wertvolle Tage im Blindflug. Ein notwendige­r Lockdown wie jetzt kann dann nur unzureiche­nd mit den aktuellen Zahlen zu den Neuinfekti­onen begründet werden. Es braucht Hilferufe wie die des Intensivme­diziners Karagianni­dis oder des derzeitig wichtigste­n deutschen Virologen, Christian Drosten. „Das ist ein Notruf“, twittert der Chef der Virologie der Berliner Charité, der sich auf die Zahlen Karagianni­dis’ bezieht. Hoffentlic­h handeln die Verantwort­lichen auch mit weniger gesicherte­n Daten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany