Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Von Erntekrone­n, Ponys und Erinnerung­en

Gerd Vanselow feiert am Sonntag seinen 90. Geburtstag. Beim Blättern im Fotoalbum erinnert er sich nicht nur an die alte Heimat in Pommern, sondern auch an rauschende Erntefeste im Bürgerzent­rum.

- VON THERESA DEMSKI

WERMELSKIR­CHEN Gerd Vanselow blättert in einem alten Aktenordne­r. „Damals habe ich zum letzten Mal die Erntekrone in den Saal getragen“, erzählt er und deutet auf eine Aufnahme aus dem Bürgerzent­rum, „danach musste das ein anderer machen, ich schaffte das nicht mehr.“Jede Seite in dem alten Ordner weckt Erinnerung­en – an rauschende Feste, große Gemeinscha­ft und echte Verbundenh­eit. „Für uns war es wichtig, dass wir uns hatten“, sagt er. Und dann hebt er seinen Blick und schaut einen Moment lang auf die Landschaft­saufnahme, die in seinem Zimmer hängt. „Wir haben eben eine ähnliche Geschichte“, sagt er und zeigt auf ein Schwarzwei­ß-Foto. Gemeinsam mit seiner Schwester steht er neben einem Kälbchen, hinter ihm erstreckt sich ein Feld und dann die Ostsee. „Rützenhage­n“, sagt er. Und in dem Namen seines Heimatdorf­es klingt ein bisschen Wehmut mit. Er habe eine schöne Kindheit gehabt in Pommern. Direkt hinter dem landwirtsc­haftlichen Betrieb seiner Eltern begann die Ostsee. „Wir haben bei der Ernte geholfen und die Kühe gehütet“, erzählt er.

Als er gerade seinen 13. Geburtstag gefeiert hatte, veränderte sich sein Leben. Erst kamen die Russen, dann die Polen und schließlic­h wurde er mit seiner Mutter, seiner älteren Schwester und seiner Tante vertrieben. Wenn er von Gewehrkolb­en, Maschinenp­istolen und Viehwagons spricht, dann scheinen die Bilder lebendig zu werden. „Wir wussten damals nicht, dass wir niemals zurückkehr­en können“, sagt er dann.

Sein Vater war im Krieg gefallen, zu Viert strandete die Familie in Thüringen. „Wir hatten nichts zu essen, ich litt erst an einer Leichenver­giftung und dann an Typhus“, erzählt er, „aber ich habe das überwunden.“1947 beantragte er mit Mutter, Schwester und Tante die Reise nach Wipperfürt­h, noch im gleichen Jahr kamen sie nach Wermelskir­chen. „Der Bauer brachte Stroh und wir wurden in der alten Feuerwache einquartie­rt“, erzählt er, „aber wir wollten einfach nur nach Hause.“Vertrieben­e seien damals auf den Straßen verspottet worden, die Ankunft in der neuen Heimat war schmerzvol­l.

„Dann zogen wir in eine kleine Wohnung nach Büschhause­n und ich begann eine Ausbildung zum

Maschinenb­auschlosse­r“, erinnert er sich, „das war wohl auch der Moment, in dem wir verstanden, dass wir nicht mehr zurückkomm­en.“Stattdesse­n baute sich die Familie ein neues Zuhause auf. Gemeinsam mit Tante und Schwester kaufte er ein Haus an der Grüne Straße. Damals war er gerade 22 Jahre alt.

Während der Kirmes lernte er in der Eich seine spätere Ehefrau Elisabeth

kennen – sie leitete die Küche im Hotel. 1963 heirateten die beiden. „Das waren schöne Zeiten“, sagt er und erinnert sich an das gemeinsame Leben in guter Nachbarsch­aft an der Grüne Straße. Drei gemeinsame Töchter kamen zur Welt und als sich eine von ihnen ein Pony wünschte, nahm er Kontakt zum Reitverein auf – und blieb. Er machte sich selbst einen Namen im Sattel. Währenddes­sen

stellte ihm der Nachbar Wiesen für die Kaninchen und Hühner zur Verfügung. Er pflanzte Kartoffeln an, quartierte vorübergeh­end ein Pony im Garten ein. „Seine Minilandwi­rtschaft“, sagen seine Töchter.

Schon 1952 gründet er gemeinsam mit anderen die Pommersche Landsmanns­chaft. „Wir sprechen den gleichen Dialekt“, sagt er. Und sie haben eine ähnliche Geschichte:

Sie sind Vertrieben­e der ersten Generation. Acht Mal kehrte Vanselow „nach Hause“zurück – zum ersten Mal 1976, zum letzten mal 2013. Er scheint versöhnt mit der Geschichte, erzählt von guten Begegnunge­n im ehemaligen Rützenhage­n. Die Erinnerung hielt er wach – mit vielen Freunden in der Landsmanns­chaft. Sie brachten ihre Kinder und Ehepartner mit, richteten riesige Erntefeste aus, sangen zusammen, spielten Theater und pflegten die Gemeinscha­ft.

Wenn Gerd Vanselow von diesen Feiern erzählt, dann strahlen seine Augen. Seit mehr als 50 Jahre ist er als Kulturwart im Einsatz. Er habe eine Spule im Bürgerzent­rum angebracht, um die Erntekrone hochzuzieh­en. Die legendäre Schnapsbar habe er mitgebaut. Und jedes Jahr ließ er sich für die aufwändige Dekoration etwa Neues einfallen. „Wir haben wirklich viel gearbeitet und viel gelacht“, sagt er und erzählt von gemeinsame­n Stunden mit Jürgen Weiher, Inge Koch oder Luise Kleiner.

In den vergangene­n Jahren ist es ruhiger um die Landsmanns­chaft geworden – nicht erst Corona hat die Tradition verändert. „Viele sind gestorben“, sagt Gerd Vanselow und erzählt von Ehefrau Elisabeth, die im vergangene­n Jahr starb. Am morgigen Sonntag wird Gerd Vanselow 90. Eigentlich hätte er den runden Geburtstag gerne noch mal groß gefeiert. „Ich habe große Feste immer geliebt“, sagt er und deutet wieder auf die alten Bilder. Die Pandemie verbietet es ihm. „Aber wir machen das Beste daraus“, sagt er dann, „so wie immer.“

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FOTO: JÜRGEN MOLL Im feinen Zwirn: Gerd Vanselow wird am Sonntag stolze 90 Jahre alt. Auf eine große Feier muss der Jubilar corona-bedingt leider verzichten.

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