Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Sommer, Sonne, Sand und Meer
Der Strand gilt als Sehnsuchtsort – gerade in der Pandemie. Dabei ist der Urlaubstraum noch gar nicht so alt. Erst vor rund 225 Jahren entdeckten ihn die Menschen für sich.
Ebbe und Flut sind eine verlässliche Konstante in unverlässlich scheinenden Zeiten
Gar besonders wunderbar wird mir zumute, wenn ich allein in der Dämmerung am Strande wandle – hinter mir flache Dünen, vor mir das wogende, unermeßliche Meer, über mir der Himmel wie eine riesige Kristallkuppel – ich erscheine mir dann selbst sehr ameisenklein, und dennoch dehnt sich meine Seele so weltenweit.
Heinrich Heine: „Reisebilder“, 1822 bis 1828
Mit „weltenweit“umschreibt der Dichter Heinrich Heine so treffend das Gefühl, das einen am Strand überkommt: ein Gefühl von Freiheit, von Unendlichkeit, Weite und Größe des Universums. Ebbe und Flut halten den Strand stets in Bewegung, sind ein Kommen und Gehen, Begrüßung und Abschied, unterteilt in sich verändernden Zonen des Festen und des Flüssigen, eine verlässliche Konstante in unverlässlich scheinenden Zeiten. Gerade jetzt, wo das Frühjahr kommt, wächst die Sehnsucht nach Strand und Meer, nach dieser Flucht aus dem Alltag und der Zivilisation. Für viele gehört der Strandurlaub zu Ostern eigentlich genauso dazu wie bunte Eier und Schokohasen. Doch Corona machte einen Strich durch die Rechnung – mal wieder. Und so wird das Bedürfnis nach dieser Leichtigkeit des Seins immer größer und größer.
Dabei ist der Urlaub am Meer eigentlich eine „Erfindung“des 19. Jahrhunderts. Das Baden im Meer kam etwas früher auf, nämlich vor rund 225 Jahren.
Zuvor galten die Ozeane noch als wild und unheimlich, sie verschlangen
Schiffe und Matrosen, in ihrer Tiefe wohnten Seeungeheuer; sie brachten Krankheiten wie die Pest und allerlei Invasoren ans Land, sodass man sich ihnen lieber fernhielt.
Um das Jahr 1750 begannen die Menschen, an den Strand zu gehen. Im englischen Brighton entstand das erste Seebad. „Man entdeckte, dass bestimmte Krankheiten bei den Anwohnern der Küsten nicht auftraten“, sagt Matthias Pausch, Leiter des Museums Nordseeheilbad auf der Insel Norderney. So wurde das Plantschen im Meer zur medizinischen Kur. „Nicht der Spaß und die Erfrischung standen im Vordergrund, sondern der medizinische Zweck“, erklärt Pausch. „Three dips and out“(dreimal untertauchen und raus) hieß die Regel beim Baden in England. Das Salzwasser, gut für Atemwege und gegen Hautkrankheiten, wurde ebenfalls getrunken. Auch an den deutschen Küsten entstanden die Seebäder, Heiligendamm an der Ostsee war 1794 das erste, Norderney folgte 1797.
Mit Badekarren wurden die Gäste ein Stück ins Meer gefahren, dort stiegen sie eine Treppe hinab und tauchten kurz ins meist kalte Wasser ein. Die Ärzte empfahlen, dies nackt zu tun, weshalb die rote Flagge gehisst wurde, wenn Frauen unterwegs ins Meer waren. Das bekleidete Baden nahm jedoch zu, meist mit langen Hosen und einem Rock darüber. Trotzdem gab es bis ins 20. Jahrhundert hinein noch getrennte Damenund Herrenstrände. Nur auf dem Familienstrand in der Mitte durften sich die Geschlechter mischen und gemeinsam plantschen, allerdings tatsächlich nur im Familienverbund.
Die gesellschaftlichen Aspekte des Strandlebens spielten zunehmend eine Rolle. Auf Norderney wurde 1800 ein „Conservationshaus“gebaut, das erste Gebäude des Seebads; das Glücksspiel hielt Einzug, die Insel wurde zum Heiratsmarkt. „Das vergnügliche Lustbaden kam Anfang des 20. Jahrhunderts auf“, erzählt der Museumsdirektor. Die Gesellschaft wurde freizügiger, die Bademode immer kürzer. Bis zur Erfindung des Bikinis
dauerte es aber noch Jahrzehnte. Nach dem Ersten Weltkrieg brach die starre Gesellschaft endgültig auf, von „Babylon Norderney“spricht Pausch scherzhaft, der das Norderney-Museum seit 2018 leitet.
„Der Strand ist die Zivilisierung des Meeresufers durch die Badenden“, sagt der französische Schriftsteller Paul Morand. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 50er-Jahren, wurde der Strandurlaub zum Massenphänomen der westlichen Kultur. Heute finden zwei Drittel des weltweiten Tourismus an den Küstenregionen statt. Egal ob Alanya, Cala Ratjada, Mauritius oder Miami – die Strandbilder der Werbung gleichen sich oft und reproduzieren die immer gleichen Klischees vom Badeglück.
Während die Menschen ab der Romantik von Italien als Land der Kunst und Kultur träumten, zog es sie ab den 50er-Jahren an die häufig billigen Strände der Adria. Das böse Wort des „Teutonengrills“hielt Einzug. Die Schätze des italienischen Inlands wurden links liegen gelassen, wenn die Nordeuropäer im Sommer mit Sack und Pack Einzug in den Süden hielten. Andere Massenstrände wie auf Mallorca, am spanischen Festland und in der Türkei folgten, vor allem im Zuge der Globalisierung und der zunehmenden Billigflieger. Die französische Riviera, wo bereits seit 1860 auch wegen des Baus der Eisenbahnlinie Badeorte entstanden, blieb dagegen hochpreisig und mondän, bis heute eine Urlaubsregion des Jetsets und der Künstler.
1950 erfand der Belgier Gérard Blitz den Club Mediterranée. Sein erstes Feriendorf gründete er auf Mallorca mit alten Militärzelten – der Grundstein des All-Inclusive-Urlaubs war gelegt. Blitz wollte den Menschen, „den geschundenen Seelen des Zweiten Weltkriegs“, wieder Freude schenken und ihnen das Schöne im Leben zeigen. Dafür nahm er ihnen alles ab und organisierte ein Rundum-Sorglos-Paket: Transport, Unterbringung, Mahlzeiten, Kinderbetreuung, Unterhaltung, Sport. Vor Ort bezahlen konnte man nur in Form von Perlen, was auch heute noch eine Art Südsee-Zauber heraufbeschwört; eine Unschuld, die Robinson Crusoe vielleicht auf seiner Insel empfand.
Der Strand war zum Sehnsuchtsort der Moderne geworden: ein Ort des Lichts, des Glücks und der Liebe. Auch die Sexualität spielt eine Rolle, nicht erst, seitdem sich 1953 Burt Lancaster und Deborah Kerr in dem Film „Verdammt in alle Ewigkeit“überaus sinnlich in den schäumenden Wellen liebten. In Francoise Sagans berühmtem Roman „Bonjour Tristesse“von 1954 erlebt die Protagonistin nicht zufällig das erste Begehren an der französischen Riviera. Die Kombination aus Sand, Wärme und Meer scheint ein sexuelles Verlangen auszulösen – und steht angeblich bei den Franzosen an zweiter Stelle nach dem Bett als beliebtester Ort dafür. Am Strand kann
Die Kombination aus Sand, Wärme und Meer scheint ein sexuelles Verlangen auszulösen
man alles hinter sich lassen: Alltag, Sorgen, Kleidung. Kein Wunder, dass sich mit zunehmender Erreichbar- und Erschwinglichkeit die Küsten rund um die europäischen Meere zunehmend füllten. Bettenburgen wuchsen in den Himmel. Strandkörbe hielten Einzug an Nord- und Ostsee, Liegen und Schirme in engen Reihen an den Stränden des Mittelmeers. So findet eine zunehmende Entortung statt. Viele Küstenabschnitte sehen heute ähnlich aus, die Tage des Urlaubs ziehen träge dahin auf glühendem Sand, zwischen malerischen Sonnenaufund -untergängen, unterlegt mit meditativem Meeresrauschen. „Die Mehrheit der Deutschen sucht den Dreiklang Sonne, Strand und Meer. Egal, ob an der türkischen oder der portugiesischen Küste. Solange das Wetter stimmt, das Hotel gut ist und der Strand ordentlich, ist für die meisten gar nicht so entscheidend, wo der Urlaub verbracht wird“, sagt auch Freizeitforscher Ulrich Reinhardt in einem Interview.
Sich biegende Palmen, weißer Sand und türkisfarbenes Wasser – der Traum vom unberührten Paradies sieht meist anders aus. Nach Freiheit und Individualismus musste man weiter weg suchen. Und so zog eine alternative Backpackerszene ab den 80er-Jahren in neue Gefilde: Südostasien und Südamerika wurden erobert. Mit Rucksack und möglichst wenig Geld versuchten die meist jungen Leute, möglichst lange auszukommen auf dem Weg zu den letzten unberührten Paradiesen. Doch auch dort lauern Gefahren, wie Alex Garland 1996 in seinem Kultbuch „The Beach“(verfilmt mit Leonardo DiCaprio) beschreibt: Die jungen Hippies, die sich an diesem geheimen Traumstrand versammeln, erleben einen zunehmenden Albtraum, der auch viel damit zu tun hat, dass man sich selbst und den Zwängen einer Gesellschaft nicht entfliehen kann, egal wo.
2021 – Vamos a la playa? Wie entwickelt sich der Strandurlaub nach Corona? Die Sehnsucht wächst in jedem Fall. Am Strand gibt es Platz, man muss keine Maske tragen, kann die Sorgen mit dem Wind ziehen lassen und „ein wenig Normalität atmen. Das Meer hat etwas Beruhigendes, etwas Erhabenes. Es wird immer da sein, egal was gerade ist“, schwärmt Matthias Pausch vom Museum Nordseeheilbad Norderney und spricht vielen sicher aus tiefster Seele.