Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Uns geht es um Ethik, Respekt und Würde“
Jörg Becker veröffentlicht die Biografie von Alfred Rosenbach. Er ist der Rechtsprecher der 200-köpfigen Gemeinde in Remscheid
REMSCHEID Als sein Vater Friedrich Anfang 1975 in Anwesenheit von vielen hundert Trauergästen aus ganz Deutschland auf dem Waldfriedhof in Reinshagen mit großem Pomp zu Grabe getragen wurde, hieß eine Überschrift „Ein König starb“. Dessen Nachfolger hat der Solinger Professor Jörg Becker ein gerade erschienenes Buch gewidmet. Die Biografie „Ich, ein Sinto aus Remscheid“würdigt Alfred Rosenbach als den angesehenen Ältesten der 200-köpfigen Sinti-Gemeinde in dieser Stadt.
Im Untertitel heißt sie: „Aus dem Leben eines Prasapaskurom“. Der Begriff, den man vergeblich im Duden sucht und der nach einer Millionen-Frage bei Günther Jauch klingt, bedeutet in Romanes „Rechtsprecher“. Den Titel König lässt der 82-Jährige so nicht gelten, wie er Jörg Becker in zahlreichen Interviews in der Vorbereitung für seine gedruckte und reichlich bebilderte Lebensgeschichte zu Protokoll gab. „Ich bin Rechtsprecher meiner Gemeinschaft von Sinti.“Zehn seiner Art gibt es in Deutschland. Die Stellung wurde Alfred Rosenbach nicht nur als Sohn seines Vaters zuteil, sondern durch eine Wahl.
Die meisten schweren Fälle, die er in Anwesenheit von anderen Richtern zu bewerten hat, drehen sich um Sinti-Männer, die Frauen schwängern und sich danach verdrücken oder keine Alimente zahlen. „So etwas geht bei uns gar nicht“, sagt Rosenbach.
Der Rat verhängt nur eine Art von Strafe: einen zeitlich begrenzten Ausschluss aus der Familie. Minimum ein Jahr, Maximum zehn Jahre. „Uns geht es um die Einhaltung von Ethik, Respekt und Würde.“Mit Diebstahl beschäftigt sich der Prasapaskurom nicht. „Das ist eine Frage des Strafrechts, und in einem Rechtsstaat ist das Sache der Gerichte“, stellt das Oberhaupt fest.
Alfred Rosenbach, geboren im Kreis Oppeln in Schlesien, lebte nach der Flucht aus dem Osten seit den 60er-Jahren in Remscheid, zunächst in Wohnwagen auf einem großen Gelände am Blaffertsberg. Seit langem haben die hiesigen Sinti ihren Mittelpunkt rund um die Stauffenbergstraße in Vieringhausen. Sie führen ein zurückgezogenes Leben. Alfred Rosenbach, der respektierte Senior mit dem Hut und dem freundlichen Lächeln, ist zwar ein Remscheider Junge, blieb aber doch Außenseiter mit seiner Sippe.
Das Fremdeln mit der Remscheider Stadtgesellschaft hat einen Grund. Zulange wurde das Schicksal der Volksgruppe vergessen, zulange mussten sich die im 2. Weltkrieg verfolgten Sinti als nichtzugehörig fühlen. Das große Verdienst von Jörg Becker ist es, anhand von Rosenbachs Vita seltene Einblicke in die Sinti-Kultur zu bieten. Der 74-jährige Politikprofessor stieß auf Rosenbach bei den Recherchen für sein dickes Werk über den Remscheider Kommunisten Gustav Flohr („Noch ein Partisan!“). Friedhelm Rosenbach und Flohr waren befreundet gewesen. Becker suchte bei Rosenbachs Sohn nach alten gemeinsamen Fotos. Die fand er in einer Zigarrenkiste.
Nicht nur ein Bild von Flohr und Rosenbach erregte sein Interesse. „Mir war schnell klar, dass diese Familienaufnahmen nicht verloren gehen dürfen.“Deshalb bot er Alfred Rosenbach ein Buchprojekt an. Und dieser willigte stolz ein. Wie zeitaufwändig es werden würde, ahnte der Autor zunächst nicht. In mehr als 20 längeren Interviews, verteilt über zwei Jahre, trug Becker die Lebensgeschichte zusammen. „Ich bin nur der Brückenbauer gewesen, es sollte sein Text werden. Zuhören war dabei meine allerwichtigste Tugend.“
Für die 80-seitige, aufwändig illustrierte Biografie hat er die Ich-Perspektive gewählt. Jörg Becker hat sein Gegenüber als „ruhigen, ausgeglichenen, ungemein lieben und gastfreundlichen Gesprächspartner“schätzengelernt, im Umgang mit seiner großen Familie als natürliche Autorität. Das Ergebnis der Zusammenarbeit geht in seiner Bedeutung weit über Remscheid hinaus. „Ich sehe es als ein wichtiges Kapitel in der Integrationsdebatte“, meint Jörg Becker.
Anfragen zahlreicher bundesweit tätiger Medien beim Dietz Verlag belegen dies. Quellenforschung in der Sinti-Kultur basiert viel auf mündlicher Überlieferung und Fotodokumenten. Schriftlich Fixiertes aus der Sicht eines Betroffenen ist selten. Umso wertvoller ist diese niedergeschriebene Lebensgeschichte, in der es um Flucht und Vertreibung, Leiden in der Nazi-Zeit und in Konzentrationslagern, das harte Nachkriegsleben ohne offizielle Anerkennung und Papiere, eine Existenz als fahrendes Volk, das Hausieren als Landfahrer (mit dem Handel von Schrott und Teppichen), den Wert seiner Geigen, den Wechsel vom Katholizismus zur freikirchlichen Sintimission und den Umgang mit dem Begriff Zigeuner geht.
Aber auch um Kinder. „Es gibt nichts Schöneres“, erklärt Alfred Rosenbach, zehnfacher Vater, 59-facher (Ur-)Opa und seit sechs Jahren Witwer. „Kinder sind ein Geschenk Gottes. Ganz junge und ganz alte Menschen werden von uns besonders geschätzt.“