Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Glück und Lähmung
Igor Levit und sein „Hauskonzert“: So heißt das neue Buch, das die Erfahrungen des Pianisten vor und während der Corona-Pandemie beschreibt. Es ist das Protokoll eines musikalischen und politischen Wahrheitssuchers.
Dieser Mann spricht normalerweise nicht durch Bücher. Die Welt erlebt ihn als unermüdlich um den Globus reisenden Musiker, längst ist er ja einer der Großpianisten der Gegenwart, der zwischen New York und Wien, Berlin und Tokio die Meisterwerke der Klavierliteratur interpretiert. Geboren wurde er 1987 im russischen Gorki, seit vielen Jahren lebt er in Deutschland, ist leidensfähiger Fan des Fußballklubs Hannover 96 und äußert sich als politischer Mensch, der zu Antisemitismus und Hass im Internet klare Worte findet. Die „New York Times“schrieb über ihn: „ein Pianist des Widerstands“. Dieser Mann ist Igor Levit.
Ihm erging es im vergangenen Jahr wie allen Künstlern: Die Corona-Pandemie verhinderte auf einen Schlag jegliches Konzertieren, Levit wurde in die Klausur und die Stille gezwungen. Wer Levit kennt, der weiß, dass das für ihn eine Form der spirituellen Amputation war. Andererseits ist Levit ein Kreativitätsbolzen, ein glühender Geist, den der Hunger nicht lähmt, sondern erfinderisch macht. So entwickelte er seine mittlerweile legendären „Hauskonzerte“per Twitter, in denen er sich stets zur Abendstunde aus dem Wohnzimmer meldete, um per Livestream für die Welt Nahrung in klassischer Form aufzutischen.
Jetzt hat Levit gemeinsam mit dem Hamburger „Zeit“-Redakteur Florian Zinnecker ein faszinierendes Buch vorgelegt, welches das Seelenleben des Künstlers gleichsam nach außen stülpt und als unmissverständliche Botschaft versendet. Ein selbstgefälliger Striptease des Gemüts ist das nicht, im Gegenteil; Levit hatte sich schon gequält, als ihm das Projekt angetragen wurde. Er brauchte Bedenkzeit, dann fasste er Vertrauen. Und jetzt lesen wir es als Protokoll eines Mannes, der mehr will als nur spielen. Er sehnt sich nach einem Klima des Vertrauens und der Offenheit. Und er wünscht sich nichts mehr als eine Form öffentlicher Vernunft, die gerade in der Corona-Pandemie endlich aus den Fakten politische Handlungen ableitet. Auf Twitter meldete er sich soeben zur jüngsten ZDF-Sendung von Maybrit Illner: „Das, was jetzt geschieht, eine Art groteske Politikverschleppung, macht alles schlechter. Alles. Mehr Kranke, mehr Tote, mehr in die Pleite getriebene Selbstständige, mehr sterbende Kultur, Gastronomie, etc.“
Die Arbeit am Buch begann, als bei Levit noch alles gut oder von kleinen Unannehmlichkeiten angekränkelt war. Er hatte mehrere Konzerte gespielt, jetzt tat ihm der Arm weh. Das Übliche. Levit neigt nicht zum Jammern, er weiß ja, dass es eine Tour de force ist, an mehreren Abenden hintereinander die beiden Brahms-Konzerte und zuvor mehrere Abende mit Beethoven-Sonaten zu spielen. Zinnecker schreibt lakonisch: „Genug Repertoire für ein ganzes Jahr. Oder für drei Pianisten.“Levit kann nicht anders, er braucht diese Begegnungen mit Publikum, sie sind sein Tropf, an den er sich freiwillig gehängt hat, als er sich für die Karriere am Klavier entschied. Das Buch umspannt sozusagen zwei Räume: die Zeit vor und die Zeit während der Pandemie. Trunkenes Glück und totale Entsagung.
Wer in diesen Tagen mit Levit telefoniert, der erlebt ihn als Darbenden, dem nicht nur der Zuspruch fehlt. Zwar ist er grundsätzlich optimistisch, dass „ein offenes Leben irgendwann wiederkehren wird“. Trotzdem ist die Eigendiagnose bitter: „Ich bin langsam an dem Punkt, an dem meine Batterie leer ist. Nur Menschen könnten sie auffüllen, und die fehlen mir. Und zwar brutal.“Seine Streams aus dem Wohnzimmer seien „schön“gewesen, doch wenn er Konzerte aus leeren Konzertsälen übertrug, beschlich ihn fast körperlich der Horror vacui. Wo läge die Lösung? „Konzerte für fünf Leute“, sagt Levit, „sozusagen als Fokus aufs Analoge.“
Der Autor dieser Zeilen hat das einmal erleben dürfen: Beim ersten persönlichen Kennenlernen im April 2012, sechs Stunden vor einem Konzert bei den Musiktagen in Hitzacker, wurde Levit von einer grandiosen Form der Spendierlust überfallen. Für seinen einzigen Zuhörer im Saal spielte er die riesigen Variationen „The People United Will Never Be Defeated!“von Frederic Rzewski. Danach war der Zuhörer erschöpft vor Glück, ein Zustand, der dann auch dem Pianisten eine gewisse Wonne bereitete.
Die Arbeit am Buch war für Levit ein „Parforceritt“, auch eine „Selbstkonfrontation“. Zinnecker ist das große Kunststück gelungen, diese Offenlegung nicht als ein chronologisches Stenogramm, sondern in intelligenten Sprüngen zu erzählen. Das verschafft dem Buch eine ganz eigene Melodie, es wirkt niemals statisch als Gang durch die erlebte Zeit, sondern als offener Zugang zu einem ganz beispielhaften Künstlerleben.
Das hat nicht nur schöne Seiten. Levit hat mehr als einmal erfahren müssen, dass ihm missgünstige oder argwöhnische Menschen seine Kommentare zu allen möglichen öffentlichen Dingen als Gefallsucht für ein riesiges Publikum auslegen. Diese Kritik war teilweise zutiefst verletzend; besonders der Begriff „Opferanspruchsideologie“, den ein Münchner Musikkritiker im Zusammenhang mit dem Pianisten kreierte, der aus einer jüdischen Familie stammt, löste massive Empörung bei vielen Lesern aus.
Wann die Pandemie endet und wann Levit wieder von Saal zu Saal eilen kann, um seine Zuhörer an seinen Erkundungen der Welt zwischen Johann Sebastian Bach und der Moderne teilhaben zu lassen? Keiner weiß das, auch Igor Levit nicht. Ob es derzeit für ihn als versehrten Künstler einen idealen Komponisten gibt, etwa den einsamkeitstrunkenen Franz Schubert? „Nein, einen solchen Komponisten habe ich nicht. Mir reicht es fast schon, einen einfachen C-Dur-Dreiklang zu hören. Der macht mich glücklich.“Und was will er auflegen, wenn die Pandemie vorbei ist? „Keine Ahnung, vielleicht 100 Mal Gustav Mahlers 8. Sinfonie.“
Also typisch Igor Levit: immer das volle Programm.