Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Enrico Klöckner fehlt Trennung von Freizeit und Schule.
Sekundarschüler Enrico Klöckner fehlt die Trennung von Freizeit und Schule. Sein Tag spielt sich vorwiegend an einem Ort ab.
WERMELSKIRCHEN Normalerweise setzt sich Enrico Klöckner erst nach Schulschluss in die Ecke neben den Esstisch. Normalerweise. In diesen Tagen fährt er den PC in „seiner Ecke“, wie Klöckners Mutter sagt, schon gegen viertel vor acht hoch, setzt das Headset auf und öffnet das Lernprogramm seiner Schule. Die Chemielehrerin kommt „wie immer“ein bisschen zu spät. Enrico Klöckner wartet mit seinen Mitschülern. Er sieht sie nicht, nur die Namen werden an der Seite des Telefonie-Programms angezeigt, die Kameras bleiben meistens aus. An normalen Tagen, wenn keine Pandemie ist, fährt der Schülersprecher der Sekundarschule um sieben Uhr mit dem Bus aus Dabringhausen los, trifft seine Mitschüler vor dem Klassenzimmer. Seit Mitte vergangenen Jahres ist das aber mit wenigen Unterbrechungen nicht mehr so oft möglich.
Der Unterricht findet in den Wermelskirchener Schulen auf Distanz statt. Wegen der hohen Inzidenz bleibt das auch in nächster Zeit so. Wechselunterricht wie vor Ostern wird es nicht geben. An Schulalltag ist nach wie vor nicht zu denken.
„Die sozialen Kontakte fehlen“, sagt Enrico Klöckner, „früher konnten wir uns nach dem Unterricht treffen und direkt nach der Schule etwas unternehmen“. Heute trifft er sich auch nach Schulschluss nur noch digital. Mit Menschen aus ganz Deutschland wie er sagt. An andere Orte reist er auch nur noch virtuell. Im Französisch-Unterricht sieht man den Eiffelturm im Hintergrund seines Videofensters. In Chemie manchmal ein Labor. Vielleicht macht er bald ein Foto von seinem Platz in der Schule und fügt es im Hintergrund ein.
Heute hat er gar kein Bild, obwohl Chemie dran ist. Die Webcam bleibt aus. Gerade geht die Chemielehrerin die Namensliste durch. „Anwesend“, sagt Klöckner und schaltet sein Mikrofon dann sofort wieder ab. Die meisten Unterrichtsstunden bestünden aus einer Präsentation der Lehrkraft. „Es werden viel weniger Fragen gestellt“, sagt der 15-Jährige. Die Situation sei ungewohnt, weil die Lehrer nicht direkt vor der Klasse stehen. „Sonst lesen die Fragen ja oft einfach von den Lippen ab“, sagt der Schulsprecher. Jetzt sitzt er alleine in seinem
Gaming-Stuhl und schaut auf das Arbeitsblatt auf dem Bildschirm. 50 Elemente sollen da in in einem Kreuzworträtsel gefunden werden. Eigentlich mag Enrico Klöckner die naturwissenschaftlichen Fächer. Im Homeoffice fehlt aber zunehmend die Motivation. „Zu Hause sollte man eigentlich Freizeit haben, jetzt sitze ich hier aber den ganzen Tag“, sagt Enrico Klöckner. Das führe auch zu mehr Spannungen mit seinen Eltern. „Ist ja klar, wenn man die ganze Zeit aufeinander hock“.
Die Ecke am Ende des Wohn- und Esszimmers ist eigentlich die „Gaming Zone“. So steht es zumindest auf dem Schild über dem Schreibtisch. Eine richtige Trennung von Zocken und Lernen gibt es aber nicht mehr. Die Stifte und Hefte hat Klöckner in der Schublade neben seinen beiden Bildschirmen verstaut, holt sie nur für das Foto heraus. Braucht er aktuell nicht, er schreibt alles auf dem PC.
Was er sich wünscht macht er klar: Eine Rückkehr zum Präsenzunterricht. Tests könnten ein Weg dorthin sein, meint er. Die sind in NRW mittlerweile Pflicht. Zweimal pro Woche müssen sich Schülerinnen und Schüler selbst testen. Wer das nicht macht, kann auch nicht am Unterricht teilnehmen. In der nächsten Zeit würden an der Sekundarschule eigentlich Praktika anstehen. Die sind Pflicht. Viele Schülerinnen und Schüler haben aber noch keinen Platz gefunden, auch wegen Corona. Eine weitere Belastung für Enrico Klöckner. Der würde am liebsten etwas im medizinischen Bereich machen. Möchte später Rettungssanitär werden.
„Größere Unternehmen sind aber abgeriegelt, kleinere nehmen während Corona sowieso keine Praktikanten“, erklärt er. Zwar gibt es hier Unterstützung von Lehrerseite, „aber die können Corona ja auch nicht wegzaubern“. Mit der Schülervertretung bereitet er aktuell eine Umfrage vor. Darin will er abfragen, wie seine Mitschülerinnen und Mitschüler
sich fühlen, was sie sich wünschen würden. „Auch der Kontakt fällt ja weg, die SV-Sprechstunden montags fallen natürlich aus“, sagt der Schulsprecher.
Mit den Ergebnissen der Umfrage möchte Klöckner später auch auf die Lehrerschaft zugehen. Die Schüler bekämen zu wenig Gehör, sagt er. Jetzt geht es zumindest vorerst mit dem Distanzunterricht weiter. Die Inzidenzen steigen weiter an.
Möglich, dass Enrico Klöckner noch einige Tage oder Wochen in der Ecke neben dem Esstisch verbringen wird. Am PC, mit Headset und ohne Stifte. Er bleibt in der Gaming-Zone, die auch weiter eine Lern-Zone ist.