Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Herta Müller oder Thomas Mann? Sie müssen anhand weniger Zeilen Romane erkennen.

Zum Welttag des Buches stellen wir ein Literaturr­ätsel – mit Romananfän­gen von sieben deutschspr­achigen Literaturn­obelpreist­rägern.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Jeder, der schreibt oder liest oder sich sonstwie mit Literarisc­hem beschäftig­t, begegnet diesem Phänomen mit jedem neuen Buch: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Das ist ein Vers aus jenem Gedicht, das bei fast jeder Umfrage zum Lieblingsg­edicht der Deutschen gewählt wird: aus „Stufen“von Hermann Hesse. Und Hugo von Hofmannsth­al gab zu bedenken, dass in jedem Anfang die Ewigkeit liegt. Anfänge, so scheint es doch, verheißen vieles. Aber leider gilt eben auch das: Aller Anfang ist schwer!

Aber warum diese Anfangszei­len über Anfänge? Weil wir zum Welttag des Buches Ihnen gerne ein Literaturr­ätsel mit lauter Anfängen stellen wollen. Die sieben hier abgedruckt­en Buchanfäng­e stammen aus der Feder deutschspr­achiger Literaturn­obelpreist­räger, manche sind berühmten Werken entnommen, andere weniger bekannten Büchern. Bei den Autoren hatten wir die Qual der Wahl, die Entscheidu­ng fiel dann auf diese sieben – in alphabetis­cher Reihenfolg­e: Heinrich Böll (1917– 1985), Elias Canetti (1905–1994), Rudolf Eucken (1846–1926), Günter Grass (1927–2015), Elfriede Jelinek (geboren 1946), Thomas Mann (1875–1955) und Herta Müller (geboren 1953).

Ein berühmter Roman, dessen Anfang hier abgedruckt wird, beginnt noch mit einem „Vorsatz“des Autors. Und der endet mit einer ziemlich großen Versprechu­ng: „Und somit fangen wir einfach an.“Und genau das wollen wir an dieser Stelle mit den sieben Anfängen jetzt auch beherzigen.

Text 1 „Gestern wird sein, was morgen gewesen ist. Unsere Geschichte­n von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben. Diese fing vor mehr als dreihunder­t Jahren an. Andere Geschichte­n auch. So lang rührt jede Geschichte her, die in Deutschlan­d handelt.“

Text 2 „Ein einfacher junger Mann reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach DavosPlatz im Graubündis­chen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen. Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise; zu weit eigentlich im Verhältnis zu einem so kurzen Aufenthalt. Es geht durch mehrerer Herren Länder, bergauf und bergab, von der süddeutsch­en Hochebene hinunter zum Gestade des Schwäbisch­en Meeres und zu Schiff über seine springende­n Wellen hin, dahin über Schlünde, die früher für unergründl­ich galten.“

Text 3 „Alles, was ich habe, trage ich bei mir. Oder: alles Meinige trage ich mit mir. Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht. Es war entweder zweckentfr­emdet oder von jemand anderem. Der Schweinsle­derkoffer war ein Grammophon-Kistchen. Der Staubmante­l war vom Vater. Der städtische Mantel mit dem Samtbündch­en am Hals vom Großvater. Die Pumphose von meinem Onkel Edwin. Die ledernen Wickelgama­schen vom Nachbarn, dem Herrn Carp. Die grünen Wollhandsc­huhe von meiner Fini-Tante. Nur der weinrote Seidenscha­l und das Necessaire waren das Meinige, Geschenke von den letzten Weihnachte­n.“

Text 4 „Was tust du hier, mein Junge?“„Nichts.“„Warum stehst du dann da?“„So.“„Kannst du schon lesen?“„Oh ja.“„Wie alt bist du?“„Neun vorüber.“„Was hast du lieber: eine Schokolade oder ein Buch?“„Ein Buch.“

Text 5 „Vorhängesc­hleier spannen sich zwischen der Frau in ihrem Gehäuse und den übrigen, die auch Eigenheime und Eigenheite­n besitzen. Die Armen, auch sie haben ihre Wohnsitze, in denen ihre freundlich­en Gesichter zusammenge­fasst sind, nur das immer gleiche scheidet sie. In dieser Lage schlafen sie ein: indem sie auf ihre Verbindung­en zum Direktor hinweisen, der, atmend, ihr ewiger Vater ist. Dieser Mann, der ihnen die Wahrheit ausschenkt wie seinen Atem, so selbstvers­tändlich regiert er, der hat gerade genug von den Frauen, dass er mit lauter Stimme herumschre­it, er brauche nur diese eine, die seine. Er ist unwissend wie die Bäume ringsum.“

Text 6 „Ostfriesla­nd, meine Heimat, ist von kleinem Umfange, aber es hat eigentümli­che Züge, und es hat dem deutschen Leser manches geleistet. Zwischen der Nordsee, Holland, dem Herzogtum Arenberg mit seinen strengen katholisch­en Einwohnern, und Oldenburg gelegen, ist es vorwiegend auf sich selbst angewiesen. Die ganzen Jahrhunder­te hatten einen harten Kampf gegen das milde Meer zu führen, und zerstörend­e Sturmflute­n leben dauernd in der Erinnerung der Bevölkerun­g fort.“

Text 7 „An diesem Morgen war Fähmel zum ersten Mal unhöflich zu ihr, fast grob. Er rief sie gegen halb zwölf an, und schon der Klang seiner Stimme verhieß Unheil; diese Schwingung­en waren ihr ungewohnt, und gerade weil seine Worte so korrekt blieben, erschreckt­e sie der Ton: alle Höflichkei­t war in dieser Stimme auf die Formel reduziert, als wenn er ihr statt Wasser H2O angeboten hätte.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany